Forum-Sicherheitspolitik

Normale Version: Russland vs. Ukraine
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Sonstiges: "Targeted killings" der Ukrainer in den von Moskau okkupierten Gebieten...
Zitat:Anschlag auf Separatisten-Chef: Putins Verbündeter bei Explosion in Luhansk getötet

Kiew – Michail Filiponenko, ein Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putin, wurde am Mittwoch bei einem Autobombenanschlag in der besetzten Stadt Luhansk in der Ostukraine getötet. Laut eigenen Angaben hat der ukrainische Militärgeheimdienst den Angriff auf den pro-russischen Lokalpolitiker und früheren Separatisten-Chef verübt. Das Luhansker Informationszentrum (LIC) hatte am Mittwochmorgen offiziell den Tod Filiponenkos durch einen „nicht identifizierten Sprengsatz“ unter seinem Auto bestätigt. Bereits im Oktober starb ein hoher Funktionär der Pro-Putin-Partei ebenfalls durch ein Bomben-Attentat. [...]

Dem ukrainischen Geheimdienst zufolge hatte der 48-Jährige in seiner Rolle als Chef der pro-russischen Separatisten Zivilisten und Kriegsgefangene „persönlich und brutal gefoltert“. Der Geheimdienst kündigte an, weiter gegen „Kriegsverbrecher und Kollaborateure“, die mit Russland zusammenarbeiteten, vorgehen zu wollen. Sie müssten demnach „ihre gerechte Strafe“ bekommen.
https://www.merkur.de/politik/putin-verb...63440.html

Schneemann
Offenbar wollen die Russen einen alten Prototypen eines vormaligen U2-Klons wieder reaktivieren - die in den späten 1970ern entwickelte Myasishchev M-55. Und anscheinend will man die Maschine zur Höhenaufklärung über der Ukraine einsetzen, da anderweitige Aufklärungsoptionen (anscheinend) nicht wirklich bestehen...
Zitat:Soviet-Era M-55 Spy Plane May Be Headed To Support The War In Ukraine

ussia is likely considering returning to service its Cold War-era M-55 high-altitude spy plane, to provide additional intelligence-gathering capabilities over the battlefields of Ukraine. This is the recent assessment of the U.K. Ministry of Defense, and it follows the appearance of photos showing the rarely-seen aircraft at a Russian test facility, fitted with an electronic intelligence (ELINT) payload.

In one of its regular intelligence updates, the U.K. Ministry of Defense assesses that Russia is “likely considering bringing the Soviet-era M-55 Mystic-B high-altitude reconnaissance aircraft back into service.” In fact, the M-55 never made it into operational military service with the Soviet Union or Russia, with only four examples being flown. The last of these to remain active was more recently used for civilian research of the stratosphere and the Earth’s surface, under the name Geofizika. [...]

Noteworthy is the fact that although the Myasishchev M-55 was originally developed as a high-altitude reconnaissance aircraft. First flown in September 1988, it was derived from the M-17 Mystic-A, a balloon interceptor. You can read all about that project here, suffice it to say that the aircraft appeared too late to fulfill its planned role in countering Western surveillance balloons. [...] The U.K. Ministry of Defense states that the operating ceiling of the M-55 is over 70,000 feet and that “it has been observed carrying a military reconnaissance pod, developed for employment on Russian fighter aircraft.”
https://www.thedrive.com/the-war-zone/so...in-ukraine

Allerdings frage ich mich, ob das nicht nur eine Finte ist. Wenn es gut läuft, wurden von diesem Vogel vor über 35 Jahren mal ein halbes Dutzend Exemplare gebaut. Bei dem allgegenwärtigen russischen Schlendrian kann ich mir kaum vorstellen, dass da irgendwelche Exemplare intakt noch irgendwo herumstehen - geschweige denn so einsatzbereit und gewartet sind, dass sie nun flugs auf 21.000 m Höhe aufsteigen könnten.

Weiterhin habe ich meine Zweifel, ob man mit diesem Flugzeug denn wirklich außerhalb der ukrainischen Luftabwehr operieren könnte. Alleine die ukrainischen S-300 kommen ohne Probleme auf 25 bis 30 km Abfanghöhe und selbst die älteren Buk M1 haben eine Abfanghöhe bis 25 km. D. h. das Flugzeug könnte, wenn es Höhen von um 70.000 Fuß (ca. 21.000 m) erreicht, sich nicht sicher fühlen.

Schneemann
(23.11.2023, 12:04)Schneemann schrieb: [ -> ]Weiterhin habe ich meine Zweifel, ob man mit diesem Flugzeug denn wirklich außerhalb der ukrainischen Luftabwehr operieren könnte. Alleine die ukrainischen S-300 kommen ohne Probleme auf 25 bis 30 km Abfanghöhe und selbst die älteren Buk M1 haben eine Abfanghöhe bis 25 km. D. h. das Flugzeug könnte, wenn es Höhen von um 70.000 Fuß (ca. 21.000 m) erreicht, sich nicht sicher fühlen.

Schneemann

Es wäre doch eigentlich wesentlich sinnvoller Ballons zur Überwachung einzusetzen. Diese könnten auch weit außerhalb der Reichweite der Luftabwehr operieren. Unabhängig davon würde es mich stark wundern wenn die russischen Spionagesatelliten wirklich so schlecht sein sollten, dass man im ukr. Hinterland überhaupt nichts sehen könnte.
Ich bin mir nicht mal so sicher, ob denn die russischen Satellitenkapazitäten wirklich so enorm sind. Beim Herumsuchen war ich erstaunt, was da alles anscheinend so herumschwirrt, aber wie wenig sinnbringend es im Ukraine-Kontext ist. Man hat 2021/22 drei Versuche unternommen, neue optische Aufklärer hochzuschießen, aber diese Versuche sind wohl alle fehlgeschlagen. Kurzum: Die reinen optischen Aufklärer sind stark im Hintertreffen.

Dazu ein Beitrag (wenn auch populärwissenschaftlicher Natur), von März d. J.:
Zitat:Why Russian Space Satellites Are Failing in the Ukraine War

MAR 29, 2023

During the Cold War, Russia became the first nation to launch a satellite, and then a human being, into outer space. With more than 160 Russian satellites in orbit today, every Ukrainian city, tank, and howitzer should be exposed to the unrelenting gaze of orbital cameras. [...]

But that’s not happening on the battlefield. [...] Russia is only getting meager rewards from its huge investment in military spacecraft, according to a Western expert. [...] Pavel Luzin, a senior fellow at the Jamestown Foundation, wrote in a recent article for Riddle. In addition, “existing Russian satellites provide seriously inferior quality of imagery vis-à-vis American and European commercial satellites.” [...]

The problem isn’t a lack of orbital hardware. Russia has more than 160 satellites in orbit, of which more than 100 are military systems, according to Luzin. These include 25 GLONASS GPS satellites, 47 communications satellites, seven Liana oceanic electronic reconnaissance satellites, two Persona optical reconnaissance satellites, as well as assorted missile detection, topographic mapping, and experimental spacecraft.

What Russia does lack is the right mix of satellites, as well as the ground systems and procedures to receive and disseminate data to those who need it. For example, the Liana spacecraft are designed to track ships. But Russia has always been a land rather than a naval power, and being able to track U.S. aircraft carriers in the Pacific doesn’t help win a ground war in Ukraine. [...]

“The Kremlin decided to start with the satellite navigation system GLONASS and communication satellites that rely on Western space electronic components,” Luzin said. “The reconnaissance satellites were the much harder task for the Russian space industry, and it turned to this task just in the early 2010s.”

But the imposition of Western sanctions after the 2014 annexation of Crimea hampered investment in reconnaissance systems. The result is that Russia has just two optical intelligence (photographic) satellites in orbit now. Two new Resurs satellites have been delayed until at least 2024, while three Russian commercial satellites—which could be used for military imagery—may no longer be functional. [...] “I don’t think Russia is capable of developing its military space capabilities now,” Luzin said.
https://www.popularmechanics.com/militar...n-ukraine/

Sollten diese Einschätzungen zutreffen, so wären die Optionen tatsächlich mager und es wäre nicht verwunderlich, wenn man uralte Höhenaufklärer aus Sowjetzeiten versucht zu reaktivieren.

Schneemann
(25.11.2023, 18:39)Schneemann schrieb: [ -> ]Ich bin mir nicht mal so sicher, ob denn die russischen Satellitenkapazitäten wirklich so enorm sind. Beim Herumsuchen war ich erstaunt, was da alles anscheinend so herumschwirrt, aber wie wenig sinnbringend es im Ukraine-Kontext ist. Man hat 2021/22 drei Versuche unternommen, neue optische Aufklärer hochzuschießen, aber diese Versuche sind wohl alle fehlgeschlagen. Kurzum: Die reinen optischen Aufklärer sind stark im Hintertreffen.

Schneemann

Dann war die Sowjetindustrie im optischen Bereich wohl sehr stark von Carl Zeiss in der DDR abhängig gewesen? Ich war eigentlich bisher der Überzeugung dass die Sowjets gerade in diesem Bereich mit dem Westen mithalten konnten. Kann natürlich auch sein dass nach 89 viel eingestampft wurde.
Die russische Aufklärung ist insgesamt gesehen meiner Meinung nach recht gut. Das reicht von den Satelliten über Drohnen bis hin zu Spähtrupps welche durchaus auch hinter ukrainischen Linien operieren. Gerade eben deshalb sind die Russen in der Lage, jedweden Versuch der Ukrainer Truppen zu konzentrieren und in einem Bereitstellungsraum zusammen zu bringen meist zu identifizieren und diesen dann schon mit weitreichendem Feuer im Bereitstellungsraum einzudecken. Entsprechend müssen die Ukrainer ihre Streitkräfte sogar relativ weit hinter einer möglichen Ablauflinie bereits erheblich dislozieren. Diese Dislozierung aber und die logistischen Probleme welche die Ukrainer haben, insbesondere in Bezug auf schwere mechanisierte Verbände in der Offensive - zuzüglich der Minenproblematik (zu wenig Minenräumgerät, zu wenig Ausbildung in Bezug auf Minen) führen dazu, dass die Ukrainer nicht durchstoßen, obwohl die russische Front sehr dünn besetzt ist und die rusisschen Streitkräfte überdehnt sind.

Truppen - Präsenz vor Ort - wie Bewegung - werden weitgehend durch Feuer ersetzt. Entsprechend erstarrt der Krieg. Das gleiche gilt umgekehrt für die Russen, welche vor grundsätzlich ähnlichen Problemen stehen, wobei bei ihnen mehr Logistik- und Führungsprobleme überwiegen. Dieser Komplex wird nur dann aufgebrochen werden können, wenn es einer der beiden Seiten gelingt 1. Die Aufklärung der Gegenseite so weitgehend auszuschalten, dass die Dominanz des Feuers über die Bewegung ausreichend gemindert werden kann und 2. man die Logistik in den Griff kriegt die für einen substanziellen Durchbruch über eine ausreichend weite Strecke notwendig wäre. Denn schwere mechanisierte Verbände, insbesondere westliche Kampfpanzer kommen ansonsten nicht weit genug.

In diesem Kontext sollte man betonen, dass die Ukrainer viel stärker als die Russen auf Drohnen und die Aufklärungsergebnisse ihrer lieben Partner (USA) angewiesen sind als umgekehrt die Rusesn, deren Aufklärung meiner Wahrnehmung nach ganzheitlicher ist und aus einer Hand.

In diesem Kontext ist folgende Nachricht (die zu etlichen Meldungen der letzten Monate passt) durchaus ein wachsendes Problem:

https://www.economist.com/europe/2023/11...fare-count

Zitat:Russia is starting to make its superiority in electronic warfare count

There may not be much the West either can or will do to help Ukraine

Most of the attention to what Ukraine needs in its protracted struggle to free its territory from the invading Russian forces has focused on hardware: tanks, fighter jets, missiles, air-defence batteries, artillery and vast quantities of munitions. But a less discussed weakness lies in electronic warfare (EW); something that Ukraine’s Western supporters have so far shown little interest in tackling.

Russia, says Seth Jones of the Centre for Strategic and International Studies, a think-tank in Washington, has for many years placed a “huge focus” on using its military-industrial complex to produce and develop an impressive range of EW capabilities to counter NATO’s highly networked systems. But Ukraine, according to its commander-in-chief, General Valery Zaluzhny, found itself at the beginning of the war with mainly Soviet-era EW systems. Initially the discrepancy had only limited impact, but as relatively static lines of contact have emerged Russia has been able to position its formidable EW assets where they can have the greatest effect.

Ähnliche Meldungen habe ich hier seit Spätsommer schon mehrfach vernetzt - und im üblichen russischen Tempo - ultralangsam - aber sicher kommen die Russen hier immer mehr voran. Wenn es ihnen dadurch immer weitgehender gelingen sollte die bisherige Überlegenheit der Ukrainer bei den Drohnen zu beenden, könnte dies mit der Zeit für die Ukraine kritisch werden.

Wie in vielen anderen Bereichen auch hat man Russland in Bezug auf seine EloKa vor Kriegsbeginn drastisch überschätzt - ich selbst war ja auch jemand der hier Russland immense Kapaziäten und Fähigkeiten nachgesagt hat - jetzt aber wie in vielen anderen Bereichen auch unterschätzt man Russland hier drastisch. Ganz allgemein hat sich eine gewisse Überheblichkeit gegenüber den Russen eingeschlichen, die ich fatal finde. Nicht weil Russland für uns noch eine große Bedrohung wäre - dafür hat es seine Streitkräfte zu sehr abgenutzt - aber weil es für die Ukraine eine wachsende Bedrohung darstellt.

Ein russischer Sieg (im Sinne des Scheiterns der strategischen Zielsetzung der Ukraine) hätte weltweit signifikante Fernwirkungen, die noch kaum zu kalkulieren sind. Statt aber diese Gefahr - den indirekten Schaden welchen Russland hier dem Westen zufügen kann - zu erkennen, wird man in Bezug auf die Ukraine immer gleichgültiger und schludriger (Stichwort nichtgelieferte Artilleriegranaten welche man fest zugesagt hat usw usw).

Viele westliche Soldaten, insbesondere auch Bundeswehroffiziere glauben fest daran, dass die Ukraine mit einer besseren Führung mehr erreichen könnte. Und dass sie in der Lage wären hier wesentlich mehr zu erreichen und dass die Ukraine entsprechend dies auch könnte wenn sie entsprechende militärische Führer hätte. Es ist exakt diese Hybris westlicher Militärs welche der Ukraine strategisch das Genick bricht.

Irgendwelche Offiziere welche vor allem bei IKM Einsätzen und Computersimulationen sowie bei westlichen Stabsausbildungen in der Theorie das Kriegsführen gelernt haben glauben allen Ernstes, sie könnten in der Praxis den Krieg in der Ukraine besser meistern und dass die Ukrainer und natürlich insbesondere die Russen einfach nur unfähig seien und die Probleme daraus resultieren. Dies verkennt die Realität des Krieges, in welcher sich aufgrund von immensen Verlusten und Überlastung immer breitflächig Unfähigkeit durchsetzt. Dies wäre auch bei uns so. Das Niveau ist bei einem ernsthaften großen Krieg immer gering und sinkt dann stark ab und es kann nicht hoch gehalten werden. Derjenige aber welcher unter diesen Umständen - mit diesem niedrigen / fallenden Niveau besser zurecht kommt und besser speziell darauf hin ausgerichtet und ausgelegt ist, wird in einem ernsthaften Krieg der länger dauert erhebliche Vorteile dadurch erlangen. Und dass sind hier die Russen.

Diese problematische Haltung das alles dort in der Ukraine ja auch so schlecht und vom Können her so niedrig sei hat man ja auch hier im Forum schon öfter gehört, Stichwort: Not gegen Elend. Zweifelsohne hat man den Feind vorher deutlich überschätzt, aber jetzt unterschätzt man ihn gleichermaßen und schlimmer noch, versteht nicht wie die Umstände in jedem ernsthaften längeren Krieg zwangsweise sind und sein müssen.

Die Bundeswehr würde in der Ukraine sang- und klanglos untergehen. Aber natürlich, wir haben ja die USA die unbegrenzt und nach belieben und vor allem für immer unsere militärische Unfähigkeit und Schwäche grenzenlos kompensieren werden. In jedem Fall und unter jeden Umständen. Und abgesehen davon sind die Russen ja völlig unfähig und wir ach so großartig (in der Theorie). In der Praxis aber wird dies meiner Einschätzung nach dann deutlich anders aussehen.
Zitat:Truppen - Präsenz vor Ort - wie Bewegung - werden weitgehend durch Feuer ersetzt. Entsprechend erstarrt der Krieg.
Den Eindruck habe ich auch. Zumal die Philosophien in der Ausbildung voneinander abweichen bzw. nicht an die Geschehnisse vor Ort angepasst sind. Die Ukrainer haben quasi zwei Hauptstandbeine: Einmal die Artillerie und einmal die Infanterie. Schweres Gerät gibt es zwar, aber nicht so ausreichend, als dass man damit eine westliche Doktrin umsetzen könnte.

Beim Herumsuchen findet man öfters Hinweise, wonach Ukrainer, die in westlichen Ländern ausgebildet werden, erstaunt sind, dass in den westlichen Stäben und auch in den Schulungsabläufen erst einmal Feuerkraft, Luftwaffe, Artillerie und Panzer im Vordergrund stehen - die Infanterie hat meistens aber nur eine untergeordnete oder nachrangige Bedeutung. Dabei ist sie - neben der Artillerie - eines der Standbeine der Ukrainer (eben, weil sie sonst nicht viele Optionen haben). Unter den ukrainischen Soldaten macht sich nicht selten der Eindruck breit, man werde auf eine "falsche Art von Krieg" vorbereitet.

D. h. en détail ist die Ausbildung im Westen gut und sicher auch gewünscht, aber im großen Rahmen hilft es den Ukrainern nicht allzu viel, weil die Parameter dann wieder anders gesetzt sind. Sie werden also auf die "Materialschlacht" mit überlegener Feuerkraft, Surveillance, Luftwaffe und Panzern vorbereitet als wie wenn es gelten würde, sowjetische Stoßarmeen im Fulda Gap abzuriegeln. (Dass man im Westen derzeit - von den USA einmal abgesehen - auch nicht gerade im Material schwimmt, lasse ich mal unerwähnt.) Dem Umstand jedoch, dass aber die Russen beileibe keine funktionierenden Stoßarmeen mehr haben - zum Glück - und die Ukrainer dann daheim einen endlos wirkenden, verlustreichen, infanterielastigen und psychisch wie physisch erschöpfenden Graben-, Minen- und Artilleriekrieg um irgendwelche viertklassigen Dörfer führen müssen, wird wenig Aufmerksamkeit gezollt. (In gewisser Weise musste ich beinahe an die Armee Südvietnams denken, die von den Amerikanern ausgestattet und ausgebildet wurde, um eine auf Feuerkraft ausgerichtete Materialschlacht zu führen, die dann aber an der Guerillataktik des Vietcong in den Wäldern Südostasiens scheiterte.)
Zitat:Dieser Komplex wird nur dann aufgebrochen werden können, wenn es einer der beiden Seiten gelingt 1. Die Aufklärung der Gegenseite so weitgehend auszuschalten, dass die Dominanz des Feuers über die Bewegung ausreichend gemindert werden kann und 2. man die Logistik in den Griff kriegt die für einen substanziellen Durchbruch über eine ausreichend weite Strecke notwendig wäre. Denn schwere mechanisierte Verbände, insbesondere westliche Kampfpanzer kommen ansonsten nicht weit genug.
Dem ersten Punkt stimme ich zu, den zweiten Punkt sehe ich aber als nicht ganz zutreffend an. Die Linien in der Ukraine sind im Grunde alles, was die Front zusammenhält. D. h. im Hinterland ist nicht mehr allzu viel zu finden, gerade auch bei den Russen nicht. Nun ist das Problem, dass diese "Linien" in der Ukraine teils sehr tief gestaffelt sind - v. a. die Minenfelder -, man kann hier von bis zu 20 oder 30 km ausgehen. Und hier fahren sich die Tanks eben fest, zumal dann noch Artillerie und Drohnen einwirken werden.

Würden diese Linien aber durchbrochen werden, dann stünde einer ausgreifenden Operation mit Panzern nichts mehr im Weg. Ergo: Es ist nicht mal übermäßig viel Logistik vonnöten, um es einem Panzer zu ermöglichen, hier dann vorzustoßen. Hat man die Linien erst einmal aufgebrochen, könnten die Tanks ohne größere Probleme nochmals 100 bis 150 km (im Gelände) vorrücken, auf den Straßen noch deutlich weiter. Und das würde völlig ausreichen, um über den freien Acker (den Schlamm mal außen vor gelassen) bis z. B. Mariupol durchzustoßen.
Zitat:Ganz allgemein hat sich eine gewisse Überheblichkeit gegenüber den Russen eingeschlichen, die ich fatal finde. Nicht weil Russland für uns noch eine große Bedrohung wäre - dafür hat es seine Streitkräfte zu sehr abgenutzt - aber weil es für die Ukraine eine wachsende Bedrohung darstellt.
Es ist der Wandel in der Wahrnehmung. Zunächst waren es die Russen, die "böse überrascht" wurden, als ihr "Blitzkrieg" 2022 vor Kiew zerbröselte. Als dann die Ukrainer sogar eine recht beachtenswerte Gegenoffensive im Herbst 2022 ablieferten, dachten alle, dass die Russen weitgehend erledigt seien. Und in den westlichen Regierungen überwog dann wieder eine gewisse merkantile Hoffnung - fast nach dem Motto: Die Ukrainer schaffen das schon, da brauchen wir nicht mehr viel investieren.

Aber dann knirschte es doch, und die Ukrainer baten um westliche MBTs. Nach einigem Theater wurden die dann auch geliefert, aber eher in homöopathischer Dosis, so viele wie man eben zwischen Berlin und Washington für notwendig erachtete, damit die Ukrainer irgendwie sich durchwühlen können. Aber derweilen hatten sich die Russen halbwegs gefangen und vor allem bis über die Ohren eingegraben. Und verteidigen konnte sich der russische Soldat immer schon gut, selbst wenn es nebenher eine Aufführung einer Wagner-Oper gibt. Und die Ukrainer blieben wieder stecken - dieses Mal zur "bösen Überraschung" im Westen.

Das Problem, welches jetzt besteht, ist, dass man quasi ein Patt hat und sich zwei angeschlagene Boxer belauern.

1. Der eine hat ein riesiges Land mit einer korrupten Kamarilla hinter sich und pumpt Menschen und Geld in diesen Krieg, wie noch nie zuvor. Sicher, viel Geld verschwindet in dunklen Kanälen, die Verluste sind immens, es gärt in den Randprovinzen, man macht sich abhängig vom Ausland und die Bevölkerung sieht sich immer mehr Repressalien ausgesetzt - aber die herrschende Clique begreift den Krieg als etwas existenzielles, als eine existenzielle Bedrohung für sie selbst sozusagen (nicht für Russland selbst übrigens, auch wenn die Herrschenden das propagandistisch verbrämt behaupten, um sich selbst aus der Schusslinie zu halten), und richtet ihn entsprechend aus. Der Boxer kämpft also einen existenziellen Kampf bzw. seine Herrscher tun dies.

2. Der andere Boxer hängt vom Wohlwollen seiner Unterstützer ab, da er alleine das riesige Hinterland und die Ressourcen des Gegners nicht militärisch kompensieren kann. Er kämpft tatsächlich einen existenziellen Kampf, im wahrsten Sinne des Wortes - und noch mehr und ehrlicher als sein Gegner, da er gar keine andere Wahl hat, wenn er nicht wirklich untergehen will. Aber er hat das enorme Problem, dass er diesen Kampf nicht alleine führen kann, da er die Hilfe seiner Unterstützer benötigt. Und seine Unterstützer wiederum, das ist nun das tragische Element in dieser Geschichte, sehen den Krieg nicht als eine existenzielle Bedrohung an, sondern als einen Spesenaufwand. Bei den Unterstützern nimmt man folglich den Kampf des kleineren Boxers als ein mittlerweile zähes, irgendwie notwendiges, aber doch lästiges Thema wahr. Und man hat bei den Unterstützern mittlerweile andere Themen, die im Vordergrund stehen: Bockige Isolationisten (die an den kleineren Boxer nicht mehr richtig glauben wollen), Boxkämpfe im Nahen Osten, Migranten und "unerklärliche" 60-Mrd.-Haushaltslöcher...

Fazit: Der Gesamtausblick für die Ukraine ist also derzeit eher trübe. Das aktuelle Regime in Moskau mit dem alten Rom zu vergleichen hinkt sicherlich und wird den "alten Römern" auch nicht gerecht (auch wenn sich Moskau gerne mal als 3. Rom bezeichnete und manche russischen Nationalisten dies heute noch tun), und genauso wenig kann man die Ukrainer mit den Karthagern vergleichen. Aber den zweiten punischen Krieg verloren die Karthager bekanntlich, obwohl Hannibal zeitweise vor Rom stand. Und diese Niederlage geschah auch deswegen, weil Rom den Krieg als existenziell ansah und mit aller Kraft und allen Ressourcen und auch unter fürchterlichen Verlusten bestritt, während man in Karthago die Unterstützung Hannibals aus innenpolitischen und merkantil-fiskalischen Gründen auf Sparflamme hielt (Er gewinnt ja sowieso!) und den ganzen Konflikt nur als nervigen Mehrkostenaufwand ansah.

Die Folgen waren für Karthago nicht schmeichelhaft.

Schneemann
Schneemann:

Zitat:Die Linien in der Ukraine sind im Grunde alles, was die Front zusammenhält. D. h. im Hinterland ist nicht mehr allzu viel zu finden, gerade auch bei den Russen nicht. Nun ist das Problem, dass diese "Linien" in der Ukraine teils sehr tief gestaffelt sind - v. a. die Minenfelder -, man kann hier von bis zu 20 oder 30 km ausgehen. Und hier fahren sich die Tanks eben fest, zumal dann noch Artillerie und Drohnen einwirken werden.

Ein Problem dass sich aus der immensen Tiefe der Linien ergibt ist, dass diese bei einem Durchbruch nicht so einfach von der Seite her aufgerollte werden können wie man das gemeinhin annimmt. Dazu kommt noch, dass die Russen auch Minen hinter sich verlegen (oder diese hinter sie verlegt werden). Dazu kommt noch, dass auch eine Operation hinter der Linie entlang aufgrund der immensen Länge der Front und der zu geringen Anzahl von Truppen im Verhältnis dazu keine so hohe Reichweite hat und erneut das Problem der mangelnden Reichweite schwerer mechanisierter Verbände aufgrund logistischer Probleme auftritt. Diese sind ja nicht per se Reichweitenbegrenzt, sondern sie sind es konkret dort weil beide Seiten die dafür notwendige Logistik eben nicht stellen können.

Man unterschätzt einfach, was für einen immensen Aufwand ein schwerer mechanisierter Verband erzeugt und wieviel er logistisch benötigt wenn er eine Operation in die Tiefe durchführen will. Heutige schwere Einheiten sind nicht mehr die leichten Panzer des 2WK, und der Kriegsraum ist nicht Frankeich.

Natürlich ist im Hinterland dann praktisch gesehen fast gar nichts mehr, wobei man dazu anmerken sollte, dass die Russen inzwischen viele Mobik Regimenter in der Ukraine ausbilden und diese Einheiten während ihrer Ausbildungszeit praktisch gesehen auch als Reserven vorgehalten werden. Und man komme mir hier jetzt nicht mit mangelndem Kampfwert dieser Einheiten, da sie von der Befähigung genau so schlecht sind wie die Fronteinheiten - schlussendlich ist die russische Armee darauf spezialisiert mit schlechten / schlecht ausgebildeten Soldaten zu kämpfen - das ist in Wahrheit eine ihrer primären Stärken und fast alles wird darauf ausgerichtet, von der Konzeption der Waffen bis hin zu einfachen Infanterietaktiken.

Beide Seiten - insbesondere aber die Ukrainer - können für schwere mechanisierte Verbände nicht die Logistik liefern, die diese über eine Operation in die Tiefe benötigen, nun kann man argumentieren, dass ein solcher Verband natürlich auch einfach aus seinem Rucksack heraus eine gewisse Strecke vorstoßen könnte:

Zitat:Würden diese Linien aber durchbrochen werden, dann stünde einer ausgreifenden Operation mit Panzern nichts mehr im Weg. Ergo: Es ist nicht mal übermäßig viel Logistik vonnöten, um es einem Panzer zu ermöglichen, hier dann vorzustoßen. Hat man die Linien erst einmal aufgebrochen, könnten die Tanks ohne größere Probleme nochmals 100 bis 150 km (im Gelände) vorrücken, auf den Straßen noch deutlich weiter. Und das würde völlig ausreichen um über den freien Acker (den Schlamm mal außen vor gelassen) bis Mariupol durchzustoßen.

Natürlich, aber was dann?! Irgendwie haben viele eine fast schon magische Vorstellung, dass ein Vorstoß zu einem Ziel dann irgendwie dazu führt, dass der Feind in sich zusammen bricht. Dann stehen die Panzer also die Mariupol und haben dann dort keinen Sprit mehr, es kommen keine Ersatzteile mehr durch und die 130 km lange Linie nach Mariupol kann weder von Infanteristen besetzt noch gehalten werden.

Gerade beispielsweise in Bezug auf den 2WK wird im Kontext der deutschen Panzeroperationen nicht verstanden, dass den Panzern erhebliche Mengen an Infanterie folgten und die von den Panzern geschaffenen Wege besetzten und ausweiteten. Dies wäre in der Ukraine so nicht möglich. Und in Bezug auf die Infanterie auch wegen des Primats des Feuers über die Bewegung und weil Bewegung mit Feuer austauschbar / ersetzbar ist.

Natürlich muss der edle Panzergeist die Flankenfurcht überwinden, aber in der Ukraine ist die Flankenfurcht durchaus berechtigt. Und es fehlt hier an dem was früher für den Erfolg schwerer mechanisierter Verbände notwendig war. Und damit kann man die logistische Versorgung dieser Verbände nicht sicher stellen, weil diese dann sehr schnell im Hinterland des Feindes kampfunfähig werden würden.

Darüber hinaus wäre es auch leicht machbar, einen solchne Durchbruch hinter den Panzern wieder abzuriegeln und genau solche Problemstellungen haben die Ukrainer dann ja auch tatsächlich dieses Jahr praktisch gesehen in der russischen Verteidigungslinie gefangen gehalten.

Meiner Ansicht nach sind deshalb die logistischen Probleme einer mechanisierten Offensive über größere Distanzen - und 100 km bis 150 km ist eine größere Distanz für einen solchen Verband - wesentlicher als die Frage der Führung. Und auch diese ist vor allem relevant in Bezug auf die Frage der Koordination von Nachschub und vordringendem mechanisierten Verband, wirkt also hier mehr indirekt.

Die Ukrainer haben schlicht und einfach die logistischen Fähigkeiten für einen ernsthaften mechanisierten Durchbruch nicht, oder kriegen diese nicht zusammen auch wenn sie theoretisch verfügbar wären. Dies ist wesentlicher als die Minenfelder und wesentlicher als die Frage der Führung in Bezug auf taktische und operative Fragen.

Aber auch bei letztgenanntem ist der westliche Einfluss keineswegs nur positiv. Westliche Offiziere haben Ukrainern allerlei Vorstellungen in den Kopf gesetzt, die auf dem realen Schlachtfeld nicht praktisch umsetzbar sind. Ein Resultat der Theorielastigkeit westlicher Militärs und ihrer zu starken Abhängigkeit vom ständigen Vorliegen bestimmter Umstände und Aktiva - und dass ist nicht nur die übermächtige Luftwaffe ohne welche westliche Streitkräfte erhebliche Probleme hätten, dass ist vor allem anderen unsere logistische Überlegenheit.
(23.11.2023, 12:04)Schneemann schrieb: [ -> ]eines vormaligen U2-Klons

Nanana, damit wirst du dem Flugzeug aber nicht gerecht, weder im positiven noch im negativen. Wink

Zitat:Weiterhin habe ich meine Zweifel, ob man mit diesem Flugzeug denn wirklich außerhalb der ukrainischen Luftabwehr operieren könnte. Alleine die ukrainischen S-300 kommen ohne Probleme auf 25 bis 30 km Abfanghöhe und selbst die älteren Buk M1 haben eine Abfanghöhe bis 25 km. D. h. das Flugzeug könnte, wenn es Höhen von um 70.000 Fuß (ca. 21.000 m) erreicht, sich nicht sicher fühlen.

Wenn die Flugabwehrstellungen bekannt sind und deren Netz nicht engmaschig genug ist, um den Bereich in diesen Höhen in der Fläche abzudecken, dann kann das durchaus funktionieren. Der effektive Wirkbereich der Flugabwehr besitzt ja logischerweise die Form einer Glocke, und ausgelegt auf die üblichen Höhen der Kampfflugzeuge und Lenkflugkörper können sich durchaus ausnutzbare Lücken ergeben. Von der ist das in der Theorie keine schlechte Idee. Das Problem wird aber, wie so häufig, die praktische Umsetzung sein. Insofern wäre ich rein aus diesen Gründen heraus skeptisch und zurückhaltend.

(25.11.2023, 18:39)Schneemann schrieb: [ -> ]Dazu ein Beitrag (wenn auch populärwissenschaftlicher Natur), von März d. J

Mit Verlaub, ein in vielerlei Hinsicht schlechter Beitrag. Das Liana-System wurde nicht zur Aufklärung von Flugzeugträgern oder allgemein Marineeinheiten entwickelt, sondern es soll in der Nachfolge der früher für diesen Zweck eingesetzten Satelliten auch diese Aufgabe übernehmen. Und diese Aufgabe wurde noch nicht einmal priorisiert, weswegen die aktive Komponente beispielsweise noch immer nicht fertig entwickelt ist. Die passive Komponente sind hingegen ELINT-Satelliten, die See und Land aufklären können und deshalb für die russische Aufklärung eine enorm wichtige Rolle spielen. Was im Artikel als sinnfreie Entwicklung beschrieben wird, könnte tatsächlich eine der wichtigsten Komponenten darstellen.
Umgekehrt wird das Thema der "optischen Aufklärung", dort ja anscheinend rein photographisch gemeint, was schon falsch ist, überbewertet. Dies und das Zusammenwerfen von militärisch genutzten Satelliten mündet in der falschen Schlussfolgerung, dass eigentlich nicht die Gesamtzahl das Problem sei, sondern die Zusammensetzung. Völliger Quatsch, die Navigations- und Kommunikationssysteme (in der von Russland betriebenen Form) brauchen für die notwendige ständige Abdeckung eine hohe Zahl an Satelliten und sollten deshalb aus der Rechnung entfernt werden. Macht man das, dann wirkt die Zusammensetzung weit weniger einseitig, und bewertet man die Systeme richtig, fallen auch keine sinnfreien Prioritäten auf. Es ist und bleibt ganz einfach so, dass tatsächlich die Quantität das Problem darstellt. Nicht nur oder speziell bei der Photoaufklärung, sondern insgesamt was die Aufklärungssatelliten angeht.

(25.11.2023, 18:45)lime schrieb: [ -> ]Dann war die Sowjetindustrie im optischen Bereich wohl sehr stark von Carl Zeiss in der DDR abhängig gewesen? Ich war eigentlich bisher der Überzeugung dass die Sowjets gerade in diesem Bereich mit dem Westen mithalten konnten. Kann natürlich auch sein dass nach 89 viel eingestampft wurde.

Wenn man sich die Weltraumprogramme genauer anschaut, und die technischen Aufklärungsmöglichkeiten, dann konnte die Sowjetunion spätestens seit den siebziger Jahren nicht mehr mithalten, und zeigte auch davor schon relevante Defizite, die häufig kaschiert oder durch Alternativen ausgeglichen wurden. Die Erfolge im Space Race mögen darüber hinweg getäuscht haben, inzwischen sind die Hintergründe aber weitgehend bekannt. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat man in Russland über gut zwanzig Jahre freigegebenes Wissen aus dem Westen importiert, und konnte so abermals den Eindruck erwecken, dass hier eine kontinuierliche technologische Entwicklung vorlag. Die aktuelle Satellitengeneration basiert soweit bekannt im Kern immer noch auf Systemen der goldenen sowjetischen Jahre. Entsprechend groß ist die Leistungslücke.
@Helios
Zitat:Nanana, damit wirst du dem Flugzeug aber nicht gerecht, weder im positiven noch im negativen.
Warten wir mal ab, ob denn der Vogel sich überhaupt "blicken" lässt. Ich habe da meine Zweifel. (Auf wenn hinterfragt werden muss, ob denn jenseits von der tatsächlichen Einsatzbereitschaft die eigentlichen Befähigungen noch hinreichend abgreifbar sind.)
Zitat:Wenn die Flugabwehrstellungen bekannt sind und deren Netz nicht engmaschig genug ist, um den Bereich in diesen Höhen in der Fläche abzudecken, dann kann das durchaus funktionieren. Der effektive Wirkbereich der Flugabwehr besitzt ja logischerweise die Form einer Glocke, und ausgelegt auf die üblichen Höhen der Kampfflugzeuge und Lenkflugkörper können sich durchaus ausnutzbare Lücken ergeben. Von der ist das in der Theorie keine schlechte Idee. Das Problem wird aber, wie so häufig, die praktische Umsetzung sein. Insofern wäre ich rein aus diesen Gründen heraus skeptisch und zurückhaltend.
Die Glocken- oder Kuppelstruktur des Luftabwehrkomplexes leuchtet durchaus ein, aber dabei frage ich mich, ob dieser in einem doch recht "kleinräumigen" Feld, wie es die Ukraine darstellt, nennenswert ins Gewicht fällt oder eingeplant werden kann? Und da sind die Aussichten eher mau. Die Umschiffungsmöglichkeiten dieses Vogels dürften zudem begrenzt sein auf vergleichsweise engem Raum, vermutlich wären es eher langräumige Durchflüge, und dass man hierbei eine "Kuppel" versehentlich streift ist ziemlich wahrscheinlich. Hinzu kommt, dass die Flughöhe von 70.000 Fuß das Maximum ist, was dieses Flugzeug ableisten kann - und das wiederum ist nicht so viel (und weniger als bei der U2). Rein theoretisch müsste man also eine sehr, sehr genau berechnete Bahn einplanen, um wirklich den SAMs auszuweichen - was dann wiederum die Frage aufwirft, inwieweit solche Flüge überhaupt nennenswert wichtiges Material sammeln könnten, wenn sie derart "vorsichtig" geplant werden müssen?

Ich bin da also sehr skeptisch. Und wie gesagt: Das betrifft den Idealfall - d. h. alle Systeme sind voll einsatzbereit, technisch up to date und die Crews sind erfahren und kennen die Lage etc. Und da habe ich nach 35 bis 40 Jahren und bei einem halben Dutzend gebauten Exemplaren und beim allgegenwärtigen russischen Schlendrian und bei der massiven Korruption und bei der Aufklärung der Gegenseite...und...und...

...gewisse Zweifel.

Schneemann
(28.11.2023, 20:55)Schneemann schrieb: [ -> ]Warten wir mal ab, ob denn der Vogel sich überhaupt "blicken" lässt.

Der Vogel hat sich doch schon blicken lassen, die einzig bekannte flugfähige M-55 hat bereits Testflüge mit einem entsprechenden ELINT/SIGINT-Behälter geflogen. Nur deswegen sind die Gerüchte überhaupt aufgekommen. Von daher kann ich deine Aussage gerade nicht nachvollziehen. Davon abgesehen hat das ja auch nichts damit zu tun, dass die M-55 kein Klon der U-2 ist - weder im Schlechten, noch im Guten.

Und was den Rest deiner Ausführungen angeht, so kompliziert ist die Angelegenheit gar nicht. Mit einer modernen ISTAR-Ausstattung lassen sich hinreichend genaue Zielkoordinaten auch aus größerer Entfernung gewinnen. Je nachdem auf welche Ziele eine solche Maschine angesetzt wird, könnte sie auch aus dem eigenen, geschützten Luftraum heraus agieren. Da wo sie es nicht kann, braucht sie natürlich genaue Positionsdaten, die sie mit der richtigen Ausrüstung aber auch selbst ermitteln kann. Der Rest ist dann nurmehr eine gute Planung.

Natürlich muss man bei sowas immer skeptisch sein, gerade wenn es um von Russland verbreitete Informationen geht, gerade wenn es um russische Technik geht.
Sollte sich das ausweiten könnte es für die Ukraine zum Problem werden.

Zitat:Bei Minusgraden und Schneefall demonstrieren sie auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. "Die Zeit der anderen ist gekommen" oder "Mein Mann ist kein Gefangener" steht auf ihren Plakaten. Es sind vor allem Ehefrauen ukrainischer Soldaten, die jetzt für die sogenannte Demobilisierung protestieren. "Wir fordern, dass sie die Möglichkeit erhalten, die Armee zu verlassen", erklärt Hanna Bondar. Seit 21 Monaten kämpft ihr Mann an der Front. Nun ist er erschöpft.

https://www.tagesschau.de/ausland/asien/...n-164.html
Das wird für die Ukraine genauso problematisch wie für die Russen sein. Die Unterschiede sind allerdings, dass die Russen solche Meldungen kaschieren und unterdrücken können, während in der Ukraine die Presse relativ frei das aufschnappen kann. Hinzu kommt, dass die Russen eben notfalls noch irgendwelche Kasachen, Kaukasier oder Mongolen vorschicken können, was keine großen Proteste in den westlichen, "weißen" Regionen Russlands verursachen wird. Aber das Thema des "rassistischen" Krieges haben wir hier ja schon thematisiert.

Wirklich problematisch ist derzeit - für beide Seiten - allerdings zunehmend das Wetter. Die Temperaturen sind deutlich in den Keller gerutscht und eine dicke Schneedecke hat sich über das Geschehen gelegt. Angesichts der Ausstattung und dem Zustand der Verbände gehen manche Beobachter auch schon von aus, dass der zweite Ukrainewinter belastender, mit höheren Kälteausfällen verbunden und härter sein wird als der erste.

Schneemann
Das Thema der Verwundetenversorgung hatten wir hier im Strang schon einmal thematisiert, wobei sich bei mir das Gefühl eingestellt hat, dass es auf der Seite der Ukrainer etwas geordneter zugeht als bei den Russen. Im UGV-Strang hatte ich auch schon mal die Idee eines autonomen Vehikels angedacht, welches selbstständig Verwundete aus der Feuerzone holt und, nach einer medizinischen Evaluierung, entsprechend an einem Sammelpunkt abliefert.

Letzteres ist noch sehr hypothetisch, aber um beide Themen zu vermischen: Anbei ein autonomes russisches Fahrzeug, das Verwundete bergen soll. Ist natürlich noch weit von meinen Gedankenspielen weg, aber dennoch recht interessant.

Symptomatisch für das russische Improvisieren dabei ist aber auch, dass dieses Gefährt wohl "homemade" ist und es keine Serienproduktion gibt, d. h. vermutlich wurde es in irgendeiner Garagenwerkstatt von ein paar technikaffinen Reservisten zusammengeschraubt. Und wenn der Verwundete zwar rausgebracht wird, aber man danach keine oder nur eine angegammelte Erste-Hilfe-Ausstattung bei den Medics hat und es auch ansonsten überall fehlt, kompensiert das natürlich nichts und wird auch nicht unbedingt mehr Leben retten...
Zitat:Russian soldiers deploy homemade UGV for medical evacuation in Ukraine

According to Russian social media on December 3, 2023, the Russian Armed Forces utilized an unmanned ground vehicle (UGV) for the first time in a medical evacuation (medevac) mission. Video footage depicts the 87th separate rifle regiment employing a homemade ground-based unmanned platform for tactical resupply and casualty evacuation in the Avdiivka direction, an area marked by intense fighting. [...]

The Russian 87th Rifle Regiment, responsible for the deployment of this UGV, clarified that the UGV is not an industrial model but a creation manufactured from available resources. Currently, only one such platform has been assembled with the assistance of volunteers, and there is consideration for future opportunities to assemble several more.
https://www.armyrecognition.com/ukraine_...raine.html

Schneemann
Auf russischen Telegramkanälen habe ich abenteurlichste Geschichten darüber gehört, wie lange die Soldaten mit Tourniquets ohne weitere Versorgung irgendwo herum eiern auf der Suche nach Hilfe. Angeblich ist es Standard, dass man ein Tourniquet einen kompletten Tag aufwärts an hat. Ein russischer Soldat klagte, dass er zwei Tage lang damit sein Bein abgebunden hatte. Zum Glück hätten im Kameraden irgend etwas gegeben um die Schmerzen auszuhalten. Und die Teile schmerzen höllisch, teilweise mehr als die Verletzung.

Ein anderer Soldat suchte selbst nach medizinischer Hilfe mit einer Aderpresse am Oberarm weil dieser halb zerfetzt herunter hing. Er wurde dann erst mal mehrere Stunden festgesetzt mit der Begründung er habe sich ohne Befehl von seiner Einheit entfernt und sei etwaig desertiert. Während er vor Schmerzen schrie drohte man ihm deshalb die sofortige standrechtliche Erschießung an. Erst nach Rückmeldung seines Kompaniechefs durfte er dann selbst weiter laufen zu einem Versorgungspunkt der aber noch ein gutes Stück die Straße weg war.

Genau so nehmen nach glaubhaften Berichten Prügel und sonstige körperliche Strafen im Dienst an der Front rasant zu. Leichtverletzte werden einfach geschlagen damit sie weiter kämpfen und ihre Verletzungen ignorieren. Auch sonst reagiert man sehr schnell mit massiver Prügel für jedwedes tatsächliche oder vermeintliche Versagen, insbesondere für jedwede Art von Feigheit (was sich die halt dort unter Feigheit so vorstellen). Man wird also angeschossen und will sich versorgen lassen und kassiert Schläge weil man nicht mit der Verwundung weiter kämpfen will.

Der Dienst in der rusisschen Armee ist einfach unfassbar. Das hat nichts mehr mit Härte zu tun, dass ist einfach nur noch unsäglich dumm. Man verschwendet so sein Menschenmaterial in einem Ausmaß dass einfach nur militärisch dysfunktional ist.