Kultur und Wertevorstellung sind auch immer Generationenabhängig und dem Zeitgeist geschuldet. Als Beispiel mal ein Familienfoto aus den 1920er Jahren:
https://ibb.co/p3XCGWS Die Damen und Herren sind offensichtlich einer höheren Gesellschaftsschicht zuzuordnen, haben damals schon im Frankreich und Deutschland studiert. 70 Jahre später hat meine Oma Rotz und Wasser geheult, als Ayatollah Khomeini gestorben ist, hat dreimal am Tag gebetet, wenn sie zu Besuch war, trug bei Ausflügen zum Einkaufen immer ein Kopftuch, obwohl hier keine Sittenpolizei war, hat allerdings auch MAL an Pralinen genascht, wohl wissend, damit eine kleine Sünde zu begehen.
(03.10.2022, 16:16)KheibarShekan schrieb: [ -> ]Kultur und Wertevorstellung sind auch immer Generationenabhängig und dem Zeitgeist geschuldet. Als Beispiel mal ein Familienfoto aus den 1920er Jahren: https://ibb.co/p3XCGWS Die Damen und Herren sind offensichtlich einer höheren Gesellschaftsschicht zuzuordnen, haben damals schon im Frankreich und Deutschland studiert. 70 Jahre später hat meine Oma Rotz und Wasser geheult, als Ayatollah Khomeini gestorben ist, hat dreimal am Tag gebetet, wenn sie zu Besuch war, trug bei Ausflügen zum Einkaufen immer ein Kopftuch, obwohl hier keine Sittenpolizei war, hat allerdings auch MAL an Pralinen genascht, wohl wissend, damit eine kleine Sünde zu begehen.
Ich glaube nicht dass diese Familie für die Mehrheit im Iran auch damals repräsentativ war. Das war wohl eher den reicheren Vierteln in den größeren Städten vorbehalten. Aktuell glaube ich durchaus dass es eine große Minderheit gibt, die Gegner des Kopftuchzwanges im Iran sind. Aber sehr groß ist das Zeitfenster nicht mehr um dort einschneidende Änderungen durchzusetzen. Die Geburtenrate im Iran insgesamt sehr niedrig und in heimlich westlich orientierten Kreisen und/oder Akademikerkreisen dort weit unter 1 Kind pro Frau. In wenigen Jahrzehnten werden dort also die fundamental ausgerichteten Kreise eine satte Bevölkerungsmehrheit hinter sich haben.
(08.10.2022, 17:11)lime schrieb: [ -> ]Ich glaube nicht dass diese Familie für die Mehrheit im Iran auch damals repräsentativ war. Das war wohl eher den reicheren Vierteln in den größeren Städten vorbehalten. Aktuell glaube ich durchaus dass es eine große Minderheit gibt, die Gegner des Kopftuchzwanges im Iran sind. Aber sehr groß ist das Zeitfenster nicht mehr um dort einschneidende Änderungen durchzusetzen. Die Geburtenrate im Iran insgesamt sehr niedrig und in heimlich westlich orientierten Kreisen und/oder Akademikerkreisen dort weit unter 1 Kind pro Frau. In wenigen Jahrzehnten werden dort also die fundamental ausgerichteten Kreise eine satte Bevölkerungsmehrheit hinter sich haben.
Wir wissen es nicht. Fakt ist dass vernünftige Umfragen im Iran kaum zu bekommen sind und dass die Wahlergebnisse schon lange nicht mehr die Ansichten der meisten Iraner reflektieren. Ich denke allerdings nicht dass das Kopftuchgebot nur von einer Minderheit der Menschen abgelehnt wird, dafür sind die Proteste dann doch zu anhaltend. Und auch die weniger westlich eingestellten Kreise im Iran haben wenige Kinder mittlerweile - es ist halt einfach zu teuer wenn man einen gewissen Lebensstandard halten will. Etwa 76% der Iraner leben mittlerweile in Städten, etwa 4 Millionen Iraner besuchen zurzeit eine höhere Bildungseinrichtung, etwa 30% aller Iraner zwischen 18-30 haben eine Universität besucht. Es wird also mittlerweile in fast jeder Familie jemanden geben der einen Uniabschluss hat, von da her gibt es keine so strenge Trennung zwischen Land und Stadt nicht mehr wie vor 50 Jahren.
Die fundamentalen Kreise halten sich wegen eines repressiven Staatsapparates und rekrutieren sich aus der bisherigen Elite und einigen weniger gut gestellten Gruppen. Ich glaube kaum dass die Hälfte der Iraner zu der Regierung steht.
Die Proteste jetzt nehmen zwar vielleicht das (Kopftuchzwang) als Initialzündung, aber das erklärt in keinster Weise das Geschehen. Es geht meiner Einschätzung nach auch nicht um eine grundsätzliche Ablehnung der Sittenpolizei, des Kopftuch etc durch eine Mehrheit, sondern was zu wenig Beachtung findet ist, dass es im Iran erneut eine erhebliche systemische Korruption und Ungerechtigkeit und auch Ungleichverteilung gibt. Die Pasdaran haben sich überall in der Wirtschaft ausgebreitet, und fundamentalistische Gruppierungen bereichern sich am Staat und betreiben damit eine Bigotterie und Heuchelei. Es ist dieses Pharisäertum, die mangelnde Zukunftsperspektive und der Frust über den Staat im allgemeinen der sich da mit Bahn bricht.
Der Kopftuchzwang ist dabei nur ein Symbol für ein wesentlich größeres Faktorenbündel welches dahinter unter der Oberfläche grummelt. So zumindest meine Interpretation des Geschehens.
(08.10.2022, 19:50)I_Need_A_Medic schrieb: [ -> ]Und auch die weniger westlich eingestellten Kreise im Iran haben wenige Kinder mittlerweile - es ist halt einfach zu teuer wenn man einen gewissen Lebensstandard halten will. Etwa 76% der Iraner leben mittlerweile in Städten, etwa 4 Millionen Iraner besuchen zurzeit eine höhere Bildungseinrichtung, etwa 30% aller Iraner zwischen 18-30 haben eine Universität besucht. Es wird also mittlerweile in fast jeder Familie jemanden geben der einen Uniabschluss hat, von da her gibt es keine so strenge Trennung zwischen Land und Stadt nicht mehr wie vor 50 Jahren.
Auf dem Land liegt die Geburtenrate aber bei ca, 4 Kindern und in den Städten nur bei rund 1. Und auch da gibt es noch große Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtvierteln. Und die Landbevölkerung ist immer noch sehr konservativ. Da kann sich jeder ausrechnen in welche Richtung sich das bewegt wenn die nächste Generation erwachsen ist. 30% Studenten bedeutet nicht automatisch dass diese alle liberal sind. Auch an den iranischen Universitäten gibt es starke konservative Strömungen.
(08.10.2022, 21:22)lime schrieb: [ -> ]Auf dem Land liegt die Geburtenrate aber bei ca, 4 Kindern und in den Städten nur bei rund 1. Und auch da gibt es noch große Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtvierteln. Und die Landbevölkerung ist immer noch sehr konservativ. Da kann sich jeder ausrechnen in welche Richtung sich das bewegt wenn die nächste Generation erwachsen ist. 30% Studenten bedeutet nicht automatisch dass diese alle liberal sind. Auch an den iranischen Universitäten gibt es starke konservative Strömungen.
Das ist so nicht korrekt. Zumindest die Landbevölkerung hat keine 4 Kinder mehr; ich hab leider nur bis 2000 gefunden, damals sind die Geburtenraten schon bei 2 bzw. 3 gewesen. Ich denke nicht dass es sich auf dem Land erholt hat.
Was die Studenten betrifft, natürlich gibt es auch da sehr konservative Kreise. Aber die heutigen Protestler kommen ja nicht alle gebürtig aus dem Reformer Milieu.
(09.10.2022, 00:06)I_Need_A_Medic schrieb: [ -> ]Das ist so nicht korrekt. Zumindest die Landbevölkerung hat keine 4 Kinder mehr; ich hab leider nur bis 2000 gefunden, damals sind die Geburtenraten schon bei 2 bzw. 3 gewesen. Ich denke nicht dass es sich auf dem Land erholt hat.
Was die Studenten betrifft, natürlich gibt es auch da sehr konservative Kreise. Aber die heutigen Protestler kommen ja nicht alle gebürtig aus dem Reformer Milieu.
Seit ca. 10 Jahren gibt es einen Umschwung in der iranischen Bevölkerungspolitik. Man will wieder mehr Geburten und vor allem auf dem Land sind die Geburtenzahlen wieder stark gestiegen. Auch weil man so wesentlich leichter an staatliche Kredite usw. kommt. In den Städten hat der Politikwandel nicht gefruchtet und die Geburtenrate ist dort sogar weiter gesunken.
Witzig zu lesen, was alles hinein interpretiert wird, um das Weltbild gerade zu rücken.

KheibarShekan:
Wie würdest du die folgende Aussage von mir zum Iran bewerten:
Zitat:was zu wenig Beachtung findet ist, dass es im Iran erneut eine erhebliche systemische Korruption und Ungerechtigkeit und auch Ungleichverteilung gibt. Die Pasdaran haben sich überall in der Wirtschaft ausgebreitet, und fundamentalistische Gruppierungen bereichern sich am Staat
Habe es ausgeführt. Dann kam es leider zu einem Fehler beim Absenden der Antwort und jetzt habe ich keinen Bock mehr

Führt sowieso zu nichts.
Nichts was wir hier schreiben führt überhaupt zu irgend was. Das ist meiner Ansicht nach einfach alles nur eitle Höhenflucht, und im günstigsten Fall eine Ersatzbetätigung für ernsthaftere Probleme die man lösen könnte, weil alle Probleme nur noch entweder ohne Mühe oder gar nicht mehr lösbar sind.
Mal ein OT:
Zitat:Nichts was wir hier schreiben führt überhaupt zu irgend was. Das ist meiner Ansicht nach einfach alles nur eitle Höhenflucht...
Diese Begeisterungsstürme.

Das ist nun eine etwas sehr negative Auslegung deinerseits. Ich denke, wir lernen alle auch teils dazu und erweitern unseren Horizont, weil der Austausch dazu führt, dass jeder auch neue Erkenntnisse gewinnen kann. D. h. nun nicht, dass man allem zustimmt, mit Sicherheit nicht, aber manchmal liest man Informationen, die man selbst vllt. so nicht im Blick hatte. Und somit kann der Austausch auch zu etwas führen, nämlich dazu, dass man eigene Positionen ggf. erweitert oder überdenkt, was dann wiederum helfen kann, Dinge besser zu verstehen.
Schneemann
Zitat:Iran begins collaborating with Russian firms to swap, barter oil products
October 10, 2022 - 14:58
“We have started working with some Russian companies for exporting, bartering, and swapping oil products from the Caspian Sea region,” Oji said.
According to the minister, Iran has the capacity to export, barter, and swap 10 million tons of such products with Russia.
“Both Iran and Russia have very good capacities in the fields of oil, gas, and petrochemicals; Fortunately, during this period, we have signed deals worth nearly four billion dollars for developing fields and [deals worth] 40 billion dollars for the construction of gas export lines and LNG units,” he added.
https://www.tehrantimes.com/news/477451/...wap-barter
Über Swapping-Mechanismen kann Russland quasi am Persischen Golf Öl und Gas exportieren, ohne dass dafür großartig Pipelines gebaut werden müssen. Allerdings reichen die iranischen Kapazitäten zur Umwandlung in LNG und Export-Terminals nicht aus. Hier will Russland nun massiv investieren.
Darüber hinaus sind dieser Tage weitere 3,1 Mio Barrel Öl und Kondensat nach Venezuela verschifft worden. Diese werden den schweren Öl-Sorten in Venezuela beigemischt und in den zwischenzeitlich wieder in Betrieb genommenen Raffinerien in Venezuela zu Treibstoff verarbeitet und/oder von dort nach China weiterexportiert. Im Tausch liefert Venezuela schweres Öl, Kerosin und vergibt Agrarfläche zur Lebensmittelproduktion für den iranischen Bedarf. So wurden wohl inzwischen schon 24Mio. Barrel in die eine sowie 21 Mio Barrel in die andere Richtung geswapped. Iran und Venezuela sitzen gemeinsam auf über 40%(!) der nachgewiesenen Ölvorkommen der OPEC Staaten. Der bilaterale Handel sowie der Export nach China läuft weitestgehend Dollar-frei.
(09.10.2022, 09:24)lime schrieb: [ -> ]Seit ca. 10 Jahren gibt es einen Umschwung in der iranischen Bevölkerungspolitik. Man will wieder mehr Geburten und vor allem auf dem Land sind die Geburtenzahlen wieder stark gestiegen. Auch weil man so wesentlich leichter an staatliche Kredite usw. kommt. In den Städten hat der Politikwandel nicht gefruchtet und die Geburtenrate ist dort sogar weiter gesunken.
Dass die Iranische Regierung das will ist mir sehr wohl bewusst. Ich habe aber auch die Ergebnisse gesehen, abgesehen von einer Erholung 2016 ist die Gesamtzahl wieder deutlich gefallen. 2016 waren es 1,584,000 Kinder, 2021 waren es dann nur noch 1,204,000 Kinder, also knapp 380,000 weniger.
Wenn man sich jetzt die Bevölkerungspyramide anschaut sieht man dass der 80er Babyboom jetzt in den Mitt-Dreißigern ist. Wenn jetzt die Geburten nicht kommen werden die schwachen 90er Jahrgänge in 5 Jahren wahrscheinlich die Millionengrenze unterschreiten.
Kannst du vielleicht eine Quelle dazu angeben?
Noch mal spezielle zum Fall Jina Amini: Zweifelsohne ist sie durch Polizeigewalt gestorben. Schläge gegen den Kopf sind einfach immer gefährlich. Solche Fälle gibt es in jedem Land der Welt, auch in Deutschland. Oder noch krassere Fälle bei denen dann in dieser Bundesrepublik in einer Zelle gefesselte lebendig verbrennen.
Der wesentliche Unterschied hier ist also nicht der Tod der jungen Frau durch Polizeigewalt, sondern dass dies eine Initialzündung für die aktuellen Proteste war. Also ein ganz kleiner Tropfen der ein ohnehin längst durch viele andere Faktoren und Umstände übervoll gefülltes Fass zum Überlaufen brachte.
Der Iran hat etliche innere Probleme, teilweise selbst verschuldet, teilweise auch weil er vom Ausland, insbesondere vom Westen seit so langer Zeit angegangen und stranguliert wird.
Meiner Meinung nach ist die wirklich wesentliche Frage im Iran aktuell die soziale Frage. Die Ablehnung der Schurigelei durch die Sittenpolizei ist nur ein Symbol für wesentlich problematischere Entwicklungen, die allgemein zu einer Staatsablehnung führen. Die soziale und wirtschaftliche Situation eines Gros der Bevölkerung hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Die Mittelschicht schrumpft, es gibt zu wenig soziale Mobilität aus der Unterschicht nach oben. DAS sind meiner Überzeugung nach in Wahrheit die wesentlichen Triebfedern der aktuellen Proteste.
Weder die behauptete Einflussnahme aus "dem Ausland" noch die Kopftuchdebatte sind meiner Meinung nach in Wahrheit demgegenüber tatsächlich ausschlaggebend. Das sind nur vorgeschobene Dinge.
Was aktuell meiner Meinung nach auch zu wenig Beachtung findet ist, dass es ja schon 2017 große Proteste gab, und ebenso Anfang 2018 und Ende 2019, die allesamt ebenfalls ganz genau so wie die Proteste jetzt niedergeschlagen wurden. Ironischerweise war bisher meiner Einschätzung nach der einzige iranische Politiker der zumindest versucht hat die soziale Frage anzugehen Ahmadinedschad, der im Westen ja besonders kritisch gesehen wurde.
Dazu kommt dann noch die Korruption und dass sich die iranischen Eliten an den Staatseinnahmen berreichern. Die Einkommensungleichheit und wie diese systemisch entsteht führen zu einem immer größerren Frust in der Bevölkerung. Die Währung wurde stark abgewertet, die Inflation ist immens. Dann noch die Zusatzbelastungen durch die Pandemie die den Iran hart getroffen haben und schließlich zuletzt, aber keineswegs als letztes die US Sanktionen, welche den Iran wirtschaftlich immens schädigen.
Aber selbst wenn diese sich mal vorübergehend nicht negativ ausgewirkt haben, noch bei jeder noch so kleinen und vorübergehenden Erholung profitierten nur die iranischen Eliten, während der Gros der Menschen weiter verarmte. Diese Menschen haben zunehmend nichts mehr zu verlieren. Entsprechend wird es im Iran selbst wenn die aktuellen Proteste komplett scheitern auch in naher Zukunft wieder zu massiven Protesten kommen, immer mehr und immer heftiger, solange die soziale Frage nicht angegangen wird.
Würde die iranische Regierung diese Problematik ernsthaft angehen, würde die Bevölkerung meiner Einschätzung nach auch die religiös begründete Beschneidung ihrer Freiheiten wie den Kopftuchzwang ohne Probleme hinnehmen. So aber fährt die iranische Regierung bzw. die Eliten dort das ganze Land meiner Meinung nach gegen die Wand.
Wer übrigens die aktuell gemeldeten Zahlen an Toten für ach so fürchterlich erklärt: bei den Protesten 2017 auf 2018 sind im Iran deutlich mehr Menschen ums Leben gekommen, und niemanden im Westen hat es gestört. Dessen ungeachtet ist der Umgang der iranischen Regierung mit diesen Protesten einfach nur inkompetent, aber damit meine ich nicht die Gewaltanwendung, sondern dass man immer noch nicht die eigentliche Kernfrage angeht, nämlich die soziale Frage.
Hier wird die Schuld für eigenes Versagen äußerst bequem immer nur auf die Sanktionen und den Westen abgeschoben. Aber selbst mit diesen Sanktionen und allen Hindernissen die der Iran da hat, hätten die wechselnden Regierungen sehr viel mehr für die Bevölkerung tun können. Sie verwenden das Ausland also nur als Ausrede, um ihre eigenen Pfründe und ihre Korruption damit zu verbergen. Solange sich das nicht substanziell ändert, wird die Islamische Republik meiner Meinung nach auf Dauer scheitern. Was auch für den Westen keineswegs gut ist, eine gepflegte vernünftige und rationale Feindschaft die man mit einem stabilen Iran führen könnte, wäre sehr viel nutzbringender.