Forum-Sicherheitspolitik

Normale Version: Russland & Verbündete gegen Europa & USA
Du siehst gerade eine vereinfachte Darstellung unserer Inhalte. Normale Ansicht mit richtiger Formatierung.
(03.07.2024, 16:51)lime schrieb: [ -> ]Und dann gibt es tatsächlich Leute die sind auch noch freiwillig Teil dieses "bösen bösen Westens", wie kann das nur sein Huh

Es gibt bei uns in Europa, und wohl insb. in Deutschland, eine recht große Unkenntnis über "den Westen", insb. die USA, und wie er tickt.

Man hat dann beim Lesen tatsächlich den Eindruck, im Pentagon (und natürlich der Wall Street) überlege man sich permanent, wen man denn als nächsten überfallen und wie man Europa, Japan und überhaupt allen anderen maximal schaden könne.
@KheibarShekan
Zitat:Mit der moralischen Bremse ist es da auch nur soweit her, wie die eigenen Medien und Barmittel einen tragen. Die schmutzigen Jobs vergibt man auch gern mehr oder wenigen offen an Dritte/Locals/Warlords, mal ganz abgesehen. [...]

Nehmen wir nur die letzten 100 Jahre und beschränken wir uns dabei auf WK1 + 2, Koreakrieg, Vietnamkrieg, Irak '91, Afghanistan, Irak '03 dann komme ich schon auf über 65 Mio. Tote. Inkl. systematischen Einsatzes von Massenvernichtungswaffen, Internierungslager, Völkermord, Vertreibung, Zwangsarbeit, Umsiedlung, Folter, also so ziemlich jede Form von kleineren und großen Schweinereien, die Menschen sich im Krieg so ausdenken können.
1.

Das was du hier betreibst, ist in gewisser Weise genau das, was Walter Lippmann Ende der 1940er Jahre befürchtet hatte. Seinerzeit waren die USA, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, wenig begeistert von dem Gedanken, sich weltweit engagieren zu müssen, die Kongressabgeordneten und Senatoren hatten ihre Wähler quer durch die Staaten und diese wollten die GIs nicht schon wieder rund um den Globus verteilt wissen. Als ersichtlich wurde, dass Stalin sich nicht an die Absprachen, die die Alliierten seinerzeit während des Krieges getroffen hatten, halten würde und wollte, entschied sich Truman dazu, die Strategie des containment wahrzunehmen und die USA als demokratischen Gegenpol zum totalitären Ostblock weltweit aufzubauen - man wollte nicht, wie nach dem Ersten Weltkrieg, den Krieg gewinnen, um dann bedingt durch den eigenen Isolationismus den "Frieden wieder zu verlieren".

Lippmann warnte, dass diese Politik es zwangsläufig mit sich bringen würde, dass die USA und der demokratische Westen (wobei er den Begriff des "Westens" so nicht nutzte) quasi notgedrungen sich auch mit Staaten und Regimen einlassen müssten, die den Ansprüchen der Demokratie eben nicht genügen würden und die - selbst wenn es irgendwelche Militärregime zweifelhaften Rufes wären - dann eben hofiert werden müssten, nur alleine weil sie antikommunistisch seien.

Dies wiederum, so Lippmann, würde einerseits dem Ansehen der demokratischen Staaten insgesamt schaden und andererseits den Gegnern der Demokratie ein vorgeschobenes Argument in die Hand spielen - nämlich jenes, dass die Demokratien bzw. vorrangig die USA sich genauso skrupellos verhalten würden wie eben ihre totalitären und autokratischen Gegner, womit man dass Pseudo-/Scheinargument kreieren könnte, dass es zwischen den Systemen keinerlei Unterschied (mehr) geben würde bzw. alle quasi "gleich schlecht" oder "gleich gut" (je nach Sichtweise) wären. Und dieses Argument wiederum könnten die diktatorischen Staaten nutzen, um die eigenen autokratischen Herrschaftssysteme gegen jedwede Kritik abzuschirmen (bzw. die Kritik an ihnen aus dem Westen per se als Heuchelei zu deklarieren). Dass sie selbst (also die Diktaturen) mit ihrer Politik der maßgebliche Erzeuger dieser westlichen Politik sind - die im Kern nur eine Gegenreaktion darstellt -, wird natürlich niemals eingestanden oder zugegeben, da die Eigenkritik nicht erwünscht ist.

Ergo: Der Vorwurf, wonach der Westen bzw. die USA, wenn es politisch oder strategisch opportun ist, auch anrüchige Systeme stützen würde/n, hat also einen wahren Kern - denn es gab dieses Verhalten ja auch tatsächlich und es gibt es teils auch immer noch. Der hieraus abgeleitete Versuch einer politischen und gesellschaftlichen Nivellierung allerdings, ja die generalisierende Gleichsetzung des Westens bzw. der USA und der demokratischen Länder hinsichtlich ihres Verhaltens mit den totalitären oder autokratischen Regimen sozusagen, ist aber eben genau das, was es ist: Eine beschämende Heuchelei, die nur dem zweifelhaften Versuch dient, sich selbst die Totalitarismen dieses Planeten schönzureden.

2.

Die Aneinanderreihung von irgendwelchen Kriegen, an denen westlichen Staaten beteiligt waren, um ein (Schein-)Argument zu schaffen für die Verrohung oder Skrupellosigkeit des Westens ist nicht zielführend, da jeder Konflikt unterschiedliche Ursachen und Hintergründe hat.

Bspw. frage ich mich, wieso hier der Koreakrieg von dir genannt wird? Nordkorea überfiel den Süden und die UN (der Sicherheitsrat konnte einen Beschluss fassen zur Unterstützung, da die Sowjets das Gremium schmollend - da man Westtaiwan die Aufnahme verweigert hatte - zeitweise verlassen hatten) entschieden sich zur Hilfeleistung. Ein völkerrechtlich einwandfreier Vorgang. Und man sollte vielleicht auch erwähnen, dass es die USA waren, die ihrem "Schützling" Syngman Rhee im Süden die Lieferung von US-Tanks verweigert hatten (man hatte im State Department befürchtet, dass der Süden den Norden angreifen könnte [sic!]), während Stalin und Mao den Norden mit T-34/85 belieferten und ihn zum Überfall animierten. Soll das also nun ein Bsp. für die Boshaftigkeit der USA sein? Huh

@Schwabo Elite
Zitat:Es gibt bei uns in Europa, und wohl insb. in Deutschland, eine recht große Unkenntnis über "den Westen", insb. die USA, und wie er tickt.
Wir sollten uns, gerade auch in Deutschland, bitteschön darüber einig werden, was wir denn wollen? Entweder droht der Untergang des Abendlandes und der Bedeutungsverlust des Westens - wird ja auch gerne öfters kolportiert - oder aber der Westen bzw. die USA hat mit geradezu dämonischen Kräften den ganzen Planeten im Griff und ist die finstere Krake, die die armen unterdrückten Völker herumschubst. Passt für mich schlecht zusammen.

Und gerade auch die Deutschen sollten sich darüber im Klaren werden, dass sie es sind, die jahrzehntelang von Uncle Sam profitiert haben. Die Zeit nach 1945 war und ist jene, die als die friedlichste, freiheitlich-demokratischste und wirtschaftlich erfolgreichste in der deutschen Geschichte von 1.200 Jahren (wenn wir mal bis zu Karl dem Großen zurückgehen wollen) anzusehen ist. Man hat sich zum Exportweltmeister und zu einer stabilen Demokratie gemausert - und es waren federführend die USA, die sich unter Bush Senior 1989/90 für die Wiedervereinigung einsetzten, während unsere europäischen Verbündeten Thatcher und Mitterand übrigens strikt dagegen waren - und sich an der Globalisierung nebenher noch eine goldene Nase verdient, während man es sich gemütlich unter dem Schutz der mächtigen Schwingen der US Air Force eingerichtet hatte. Aber wehe, man sah sich irgendwelcher Kritik ausgesetzt ob dieses Verhaltens, dann wurde schnell mit dem moralisierenden Finger über den Atlantik gedeutet und Ami – go home! gerufen. Angesichts dieses deutscherseits geradezu arrogant-parasitären Verhaltens - man verzeihe die derbe Wortwahl - überlege ich mir manchmal, ob ein König Donald II. im Weißen Haus wirklich so schlecht wäre...

Schneemann
Wer an den Hintergründen des Russland-Ukraine Kriegs interessiert ist, findet in der Veröffentlichung von Prof. Ulrich Blum (Universität Halle-Wittenberg) interessante Einsichten.

"Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung – eine geopolitische Analyse" (09/2023)

Link zum Download

Oben rechts auf der Seite kann das PDF runtergeladen werden.

Kurzfassung Die Ukraine ist reich an Rohstoffen, vor allem in der Donbas-Region. Dazu gehören Rohstoffe wie Eisenerz und Kohle, die für die erste industrielle Revolution wichtig waren. Der Reichtum umfasst aber auch Nichteisenmetalle und batteriebezogene Mineralien, insbesondere Lithium, das für die moderne und speziell eine grüne Wirtschaft von herausragender Bedeutung ist. Nach einer Einführung in die allgemeine ökonomische Entwicklung des Landes analysiert der Artikel die ukrainische Industrie-, Energie- und Ressourcenbasis, um sich dann auf die Potenziale jener Ressourcen zu konzentrieren, die im Zuge der Dekarbonisierung der westlichen Industriestaaten eine signifikante Rolle spielen werden. Der Artikel gelangt zu dem Schluss, dass Russlands Überfall auf die Ukraine auch von wirtschaftlichen Interessen geleitet war. Russland konnte bislang als Lieferant von fossilen Energieträgern Einfluss ausüben. Angesichts der potenziell großen Lithium-Vorkommen in der Ukraine scheint es sich nun Zugriff auf Stoffe verschaffen zu wollen, die für die Dekarbonisierung der westlichen Länder unverzichtbar sind.
Es sind nicht nur die Rohstoffe sondern auch die Weizenfelder etc. Russland produziert schon viele Nahrungsmittel und die Ukraine auch. Beide zusammen wäre auf dem Sektor eine Grossmacht und können damit massiven Einfluss auf andere Länder ausüben die nicht genug Nahrungsmittel produzieren. Fehlende Rohstoffe bedeuten weniger Wirtschaft aber fehlende Nahrungsmittel bedeuten Hunger.
(06.07.2024, 12:47)Schneemann schrieb: [ -> ]Ergo: Der Vorwurf, wonach der Westen bzw. die USA, wenn es politisch oder strategisch opportun ist, auch anrüchige Systeme stützen würde/n, hat also einen wahren Kern - denn es gab dieses Verhalten ja auch tatsächlich und es gibt es teils auch immer noch. Der hieraus abgeleitete Versuch einer politischen und gesellschaftlichen Nivellierung allerdings, ja die generalisierende Gleichsetzung des Westens bzw. der USA und der demokratischen Länder hinsichtlich ihres Verhaltens mit den totalitären oder autokratischen Regimen sozusagen, ist aber eben genau das, was es ist: Eine beschämende Heuchelei, die nur dem zweifelhaften Versuch dient, sich selbst die Totalitarismen dieses Planeten schönzureden.

Ne, so habe ich das ja gar nicht geschrieben. Hier wurde die Auffassung vertreten, der Westen ™ würde durch ethische moralische Grundsätze und durch eine nicht näher definierte Form der gewaltbezogenen "Degenerierung" in seiner Gewaltausübung signifikant gehemmt. Das war die These der Diskussionsteilnehmer. Dem habe ich nur ein paar Fakten entgegen gelegt, wo Gewalt durchaus sehr, sehr umfänglich (u.a. gegeneinander) und ohne größere Limits tatsächlich eingesetzt wurde. Das habe ich auch nicht als moralischen Vorwurf formuliert, sondern das ist eine faktenbasierte Feststellung, die nicht mit der eigenen Wahrnehmung seitens der Diskussionsteilnehmer in Bezug auf vermeintliche Schranken harmonisiert.

Dass man die demokratischen Fortschritte Ägyptens und Jordaniens lobt, aber die Rechte von LBGTQ in Russland anprangert, o.Ä. ist doch sonnenklar, wäre vielleicht in einem ganze anderen Kontext ein angemessener Vorwurf, aber den habe ich hier gar nicht gemacht. Daher bleiben wir doch lieber bei dem was schrieben wurde und konzentrieren uns darauf. Gleichwohl kann ich sehr gut mit Quintus Vorschlag leben, den moralischen Aspekt mal vollkommen außen vor zu lassen. Entsprechend habe ich meine Punkte auch nur fortgeführt und dargestellt wo aus meiner Sicht der sachliche Fehler liegt und da wurden von mir ganz andere Punkte, strategische Fehler Europas, angesprochen. Dass nur der Russe der Aggressor wäre ist ebenso falsch, wie nur dem Russen aggressive Aussenpolitik zuzugestehen. Also lassen wir das doch einfach mal raus.

Zitat:Die Aneinanderreihung von irgendwelchen Kriegen, an denen westlichen Staaten beteiligt waren, um ein (Schein-)Argument zu schaffen für die Verrohung oder Skrupellosigkeit des Westens ist nicht zielführend, da jeder Konflikt unterschiedliche Ursachen und Hintergründe hat.

Keine Ahnung, warum es für dich Sinn macht, meinen Aussagen aus dem Zusammenhang zu nehmen. Soll ich jetzt eine Position verteidigen, in die ich hier gar nicht eingestiegen bin? Ich bin schlicht der Auffassung, dass der Fokus auf Friedensmissionen aus einer regional sehr friedlichen und wirtschaftlich sehr dominanten Rolle heraus entstanden ist, aber der Westen ™ gemäß Faktenlage durchaus in der Lage ist Gewalt in sehr umfänglicher Form und ohne größere moralische Hemmschuhe auszuüben. Wir waren uns einig, dass dies vielleicht jeweils Momentaufnahmen sind.

Zitat:Bspw. frage ich mich, wieso hier der Koreakrieg von dir genannt wird? Nordkorea überfiel den Süden und die UN (der Sicherheitsrat konnte einen Beschluss fassen zur Unterstützung, da die Sowjets das Gremium schmollend - da man Westtaiwan die Aufnahme verweigert hatte - zeitweise verlassen hatten) entschieden sich zur Hilfeleistung. Ein völkerrechtlich einwandfreier Vorgang.

Wer wem mit welchem Argument zuerst in den Vorgarten gesch*** hat, interessierte mich in diesem Kontext relativ wenig, muss ich ehrlich zugeben. Das ist vollkommen korrekt.

Zitat:@Schwabo Elite
Wir sollten uns, gerade auch in Deutschland, bitteschön darüber einig werden, was wir denn wollen? Entweder droht der Untergang des Abendlandes und der Bedeutungsverlust des Westens - wird ja auch gerne öfters kolportiert - oder aber der Westen bzw. die USA hat mit geradezu dämonischen Kräften den ganzen Planeten im Griff und ist die finstere Krake, die die armen unterdrückten Völker herumschubst. Passt für mich schlecht zusammen.

Und gerade auch die Deutschen sollten sich darüber im Klaren werden, dass sie es sind, die jahrzehntelang von Uncle Sam profitiert haben.

Unser, Westdeutschlands, großes Glück war dass die Amerikaner moderne, wirtschaftlich effiziente Maschinen nach dem Krieg in hoher Stückzahl liefern konnten, was der Ostblock nicht konnte. Nach dem Krieg war man in Deutschland weiterhin vom Knowhow und Organisationsgeschick sehr weit. Die Engländer hatten das selbe Knowhow, aber veraltete Maschinen und so begab es sich mit dem "Wirtschaftswunder" um es ganz vereinfacht zu sagen.
Daher die Disparität. Der Amerikaner hat auch nicht uns als Menschen verteidigt, sondern seinen Markt, seine internationale Währungsdominanz und die Pflicht der Partner amerikanische Interessen zu verteidigen. Eine Unipolare Welt ist ohne Europa und relevante Teile Asiens nicht durchsetzbar. Militärisch schon nicht. Da das besser funktioniert als, was die Sowjets auf die Beine gestellt haben, haben wir lange Zeit davon profitiert. Niemand hier stellt das in Frage denke ich. Gleichwohl haben die Amerikaner im angesprochenen Billionen Gasgeschäft, von Anfang an immense diplomatische Anstrengungen unternommen gegen europäische Gasdeals mit Russland. Das ist schon seit den Gründungsjahren der BRD ein trilaterales Konfliktthema gewesen.
Tatsache ist in diesem Zusammenhang auch, dass weltweit die größten Investitionen in den Bereich Öl- und Gasförderung in den USA getätigt wurden, mit denen die USA vom Importeur zu einem der größten Exporteure für diese Produkte geworden ist. Aberwitzige Summen wurden unter Umgehung jeglicher Auflagen und Gesetze in den USA in die Erdöl und Gasförderung mit staatlich-privater Kapitalgewalt investiert. Das machen die nicht zum Spaß. Die wollen Zahlen sehen. Und der Markt dafür war von Anfang nicht China, sondern Europa.

Mit der Beendigung von Nort/South Stream ist Europa zu 100% abhängig aus den USA. War vorher nicht so.
Nochmal. Ich mache hier keine Vorwürfe. Ich sage nur, dass Europa nicht vorrangig durch vermeintlichen Gewaltmangel und ethische Schranken in der Verfolgung seiner Interessen behindert wird, sondern irgendwie gescheitert zu sein scheint, eine eigenständige Sicherheits- und Wirtschaftspolitik zu betreiben. Die eigenen Interessen sind nicht immer deckungsgleich mit den amerikanischen. In der Ukraine machen die Amerikaner diesen Aufstand nur aus energiepolitischen Gründen und man erklärt es zum europäischen Thema. Das ist ein Schachzug und Europa hat so reagiert, wie vorhergesehen. Aber Europa spielt dieses Spiel nicht. Wir sind weder Dame noch König. Das ist eine relative Schwäche Europas.

Dass wir Dankbarkeit mit den USA haben müssen, dass uns nur in die Bronzezeit aber nicht in die Steinzeit gebombt haben für unsere Verbrechen ist alles gut. Irgendein ein neuer Diskussionspunkt, aber nehmen wir mit. Bedingungslos führt dieser Weg an der Seite der USA im globalen Machtgefüge aber nicht mehr nach oben, sondern gemeinsam nach unten. Das muss dann auch in der Konsequenz bewusst sein. Die BRICS haben bereits eine größere Wirtschaftsleistung als die G7. Statt sich mit den Russen und Chinesen zu überwerfen (der China Handel ist für Deutschland derzeit existentiell und bilanziell ausgeglichen!), sollte man die Türen offen halten, um weiter bzw. wieder oben mitzuspielen. Die Rufe nach Krieg mit China und Russland und das diese unausweichlich wäre, halte ich für vollkommen fatalistisch.

Zitat:es waren federführend die USA, die sich unter Bush Senior 1989/90 für die Wiedervereinigung einsetzten, während unsere europäischen Verbündeten Thatcher und Mitterand übrigens strikt dagegen waren

Das ist mir wohl bekannt. Rein historisch gesehen sind die Franzosen unsere Feinde, Besatzer und Aggressor, also noch mehr, als wir gegen sie. Darf man das noch oder schon sagen?
Das Rezept des friedlichen Zusammenlebens, welches man sich in Europa erarbeitet hat, bestand darin, bestehende Feindschaft auf vertragliche Grundlagen zu stellen und von gemeinsamen Interessen zu profitieren. Montanunion. Das bringt es im Kern auf den Punkt. Bis zur Wiedervereinigung haben sich diese historischen Erfahrungen nicht in Vertrauen umgemünzt und es wurde im Rahmen von EU Projekten sehr viel darin investiert seitens Deutschlands und Frankreichs um auf beiden Seiten diese Vorbehalte abzubauen. Ich kann mich nur gut erinnern an Vorbehalte gegen Deutsche unter Engländern und Franzosen meiner Generation. Deutschlands defensive Rüstungspolitik war nicht zuletzt auch nach innen gerichtete Beschwichtigung an die eigenen Bündnispartner und neue Partner in Europa. Da hat man sich als Partner für Friedenssicherung, unterstützende Maßnahmen, Brunnenbohren, Polizeischulung wahrnehmen lassen wollen nichts zuletzt, lange auch vorrangig, aus einem außenpolitischen Kalkül heraus. So würden wir uns ja nicht aufstellen, wenn wir vorhaben würden das Elsass oder Siebenbürgen zurückzuerobern. In Europa gelang das Schritt für Schritt und bis zur Wiedervereinigung war des gegenseitige Restvertrauen noch beschränkt. Ganz offensichtlich. Wir sind schon lange darüber hinaus denke ich. Aber da ist Russland, bzw. ein Konflikt mit Russland, vielleicht auch sehr hilfreich, wenn Rüstung bzw. ein Umbau der Europäischen Armeen angestrebt wird hin zu Armeen für Abnutzungskriege.

Zitat: - und sich an der Globalisierung nebenher noch eine goldene Nase verdient, während man es sich gemütlich unter dem Schutz der mächtigen Schwingen der US Air Force eingerichtet hatte. Aber wehe, man sah sich irgendwelcher Kritik ausgesetzt ob dieses Verhaltens, dann wurde schnell mit dem moralisierenden Finger über den Atlantik gedeutet

Basiert die Wiederholung Deiner Dankbarkeitshymnen auf der Annahme, die USA hätten nicht von uns profitiert, sondern wir einseitig von ihnen? Wäre das so, wäre das echt nett. Da gebe ich Dir Recht.

Zitat: und Ami – go home! gerufen. Angesichts dieses deutscherseits geradezu arrogant-parasitären Verhaltens - man verzeihe die derbe Wortwahl - überlege ich mir manchmal, ob ein König Donald II. im Weißen Haus wirklich so schlecht wäre...

Dass Deutschland im amerikanischen System ein parasitäres Element darstellt oder Verhalten zeigt, halte ich für eine sehr gewagte These.

Sehr interessant finde ich, dass Du mit der notwendigen, unzureichenden Dankbarkeit gegenüber den USA ein neues Thema hier sehr umfangreich in diesen Kontext des Konflikts mit Russland einbringst. Der Punkt bereichert die Diskussion durchaus, weil ich darüber zu wenig nachgedacht habe.
@KheibarShekan
Zitat:Ne, so habe ich das ja gar nicht geschrieben. Hier wurde die Auffassung vertreten, der Westen ™ würde durch ethische moralische Grundsätze und durch eine nicht näher definierte Form der gewaltbezogenen "Degenerierung" in seiner Gewaltausübung signifikant gehemmt. Das war die These der Diskussionsteilnehmer. Dem habe ich nur ein paar Fakten entgegen gelegt, wo Gewalt durchaus sehr, sehr umfänglich (u.a. gegeneinander) und ohne größere Limits tatsächlich eingesetzt wurde.
Das stimmt schon, aber mir ging es um deine Antwort bzw. Reaktion darauf. Und diese enthielt eben auch die willkürliche Aneinanderreihung von Kriegen in der Vergangenheit, die schlecht als Gegenargument genutzt werden können, zumal die Hintergründe und Entwicklungen, die diese Kriege begleiteten, vielfach komplexer waren als dass sie einfach als Argument für eine westliche Aggression genutzt werden könnten.
Zitat:Unser, Westdeutschlands, großes Glück war dass die Amerikaner moderne, wirtschaftlich effiziente Maschinen nach dem Krieg in hoher Stückzahl liefern konnten, was der Ostblock nicht konnte. Nach dem Krieg war man in Deutschland weiterhin vom Knowhow und Organisationsgeschick sehr weit. Die Engländer hatten das selbe Knowhow, aber veraltete Maschinen und so begab es sich mit dem "Wirtschaftswunder" um es ganz vereinfacht zu sagen.
Das deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit entstand nicht deswegen, weil die USA Maschinen geliefert hätten - genau genommen sind die US-Exporte nach Europa zwischen 1946 und 1949 sogar rückläufig -, die dann das angeblich nicht vorhandene deutsche Organisationsgeschick kompensiert hätten. Tatsache ist eher, dass im zerstörten Deutschland ein Wille zum Wiederaufbau (gepaart mit entsprechendem Geschick zur Improvisation und gegenseitigen Hilfe) vorlag, den wir uns heute kaum mehr vorstellen können. (Dass dabei die NS-Zeit anfangs totgeschwiegen wurde, ist zwar auch eine Tatsache, aber die Menschen hatten schlichtweg andere Sorgen.)

Hinzu kam, dass zu Beginn bzw. in den ersten 2-3 Jahren nach 1945 sogar eine Art von Deindustrialisierung (weniger durch die USA, aber durch die anderen Alliierten) stattfand - To prevent Germany from starting another war!, wie es so schön hieß. Das Problem war allerdings, dass nach Währungsreform und auch dem Reparationsabbau, gerade in der SBZ, ein Wiederaufbau stark erschwert war, was wiederum das US-Ziel, eine Demokratisierung in Deutschland zu erreichen, gefährdete, da die Entwicklung des Landes und das Entstehen einer wirtschaftlichen Basis so verzögert wurde. Hinzu kam, dass man im State Department befürchtete, dass dieses durch die Kriegsschäden und die Reparationen enorm geschwächte Deutschland im beginnenden Kalten Krieg anfällig werden könnte für kommunistische Unterwanderungen. Aus diesem Grund wurde dann der Marschallplan initiiert, der eine Art Initialzündung für das Wirtschaftswunder wurde. Es waren also keine Maschinenlieferungen, sondern finanzielle Leistungen zum Wiederaufbau.
Zitat:Sehr interessant finde ich, dass Du mit der notwendigen, unzureichenden Dankbarkeit gegenüber den USA ein neues Thema hier sehr umfangreich in diesen Kontext des Konflikts mit Russland einbringst.
In gewisser Weise ja. Man darf nicht vergessen, dass das Ansehen der USA in Westdeutschland (und im Stillen wohl auch in der SBZ) durchaus bis in den 1960er Jahre hinein sehr, sehr hoch war. Man verstand die USA nicht nur einfach als wohlwollenden Hegemon, sondern auch als Garanten für Sicherheit, Freiheit und Demokratie.

Gekippt ist diese Haltung grob erst während des desolat verlaufenden Vietnamkrieges ab ca. 1967/68, als gerade die Linken und die protestierenden Studenten meinten, sie müssten Washington generell verteufeln, während sie umgekehrt äußert unkritisch mit Mao-Bibeln in der Hand und Ho, Ho, Ho Chi Minh!-Gegröle durch die Straßen zogen. Während ihre Kritik an politischer Verkrustung und an erstarrten Lehridealen an den Universitäten teils durchaus gerechtfertigt war (und in den USA die dort protestierenden Studenten durchaus auch echte Probleme ansprachen, etwa den gerade in den Südstaaten damals noch massiv vorherrschenden Rassismus gegenüber Schwarzen bzw. die Weigerung dort, die Bürgerrechte umzusetzen), haben sie eine große Vereinfachung betrieben und Tür und Tor geöffnet für das verallgemeinernde US-Bashing.

Und zugleich haben US-Regierungen mit ihrer teilweise brutalen und manchmal auch kurzsichtigen Politik während des Kalten Krieges, als es darum ging, jedwede sowjetische Einflussnahme abzublocken - man denke nur bspw. an den Allende-Sturz 1973 oder die Operation Condor - dieses Feindbild des skrupellosen Hegemons auch selbst mit befeuert und Steilvorlagen für die Propaganda der Feinde der freien Welt geliefert. Gleichwohl, auf diesen von linksgerichteten Kräften initiierten Zug des ungefilterten US-Bashings sprangen später, vor allem nach 1990, dann auch rechtsextreme und rechtspopulistische Kreise auf, die Washington als Bremsklotz für ihre teils totalitären (oder mittlerweile auch neoeurasischen) Hirngespinste ansahen und ansehen - eine "antiamerikanische Querfront" sozusagen. Und an diese wiederum dockt Russlands neoimperialistische Propaganda heutzutage wiederum auch recht geschickt an - womit sich der Kreis quasi schließt...

Aktuelles:
Zitat:Chinesische Soldaten landen in Belarus

Der belarussische Präsident Lukaschenko steht beim russischen Angriff auf die Ukraine eng an der Seite des russischen Staatschefs Wladimir Putin. Auch die Beziehungen zu China werden seitdem enger. Chinesische Soldaten treffen für eine Übung in Minsk ein.

Chinesische Soldaten sind in Belarus eingetroffen - angeblich zu einer gemeinsamen Anti-Terror-Übung, wie das Verteidigungsministerium in Minsk unter anderem auf der Plattform X mitteilt. Das Manöver werde vom 8. bis 19. Juli abgehalten. "Das gemeinsame Training hilft, Erfahrungen auszutauschen, die Zusammenarbeit zwischen belarussischen und chinesischen Einheiten zu verbessern und das Fundament für eine weitere Entwicklung der belarussisch-chinesischen Beziehungen auf dem Feld gemeinsamer Truppenausbildung zu legen."
https://www.n-tv.de/politik/Chinesische-...68698.html

Schneemann
lime:

Ich formuliere das folgende mal primär aus US Amerikanischer Sicht:

Zitat:Die Strategie ....... ergibt sich eher aus der Hoffnung heraus, da der Westen in Sachen Rußland keinen anderen Weg beschreiten konnte bzw. auch wollte,

Das hat weniger mit Hoffnung zu tun, als damit, dass man von einer ganz bestimmten Grundannahme ausgeht: nämlich 1. dass sich Russland nicht dem Westen unterordnen / anschließen wird, sondern eine eigene Machtpolitik fährt und zwar in jedem Fall. 2. Dass diese eigenständige Machtpolitik in jedem Fall dazu führt, dass Russland sich China anschließt, oder im günstigsten Fall den Konflikt mit China für eigene Agression nutzt. 3. Dass dies nicht änderbar ist.

Von dieser Grundannahme ausgehend - und wenn man davon ausgeht, dass der Konflikt mit China das wesentliche ist, bedeutet ein starkes, nicht gebundenes Russland "im Rücken" des Westens immer ein immenses Problem, völlig unabhängig davon ob es der Juniorpartner der Chinesen ist, deren Rohstofflieferant oder ob es von China unabhängig agiert. Gleichgültig wie man es dreht und wendet, stellt Russland in einem Konflikt mit China ein erhebliches Problem dar.

Also muss Russland so massiv wie möglich geschwächt werden, militärisch abgenutzt werden und im Idealfall auf Jahrzehnte hinaus gebunden werden. Und noch darüber hinaus bindet man durch die Entflechtung der Europäer, insbesondere dieser Bundesrepublik mit der RF wieder mehr an die USA und bringt sie auf Linie und stärkt den US Einfluss in Europa, wirtschaftlich, politisch und militärisch. So verhindert man, dass die EU ein wirtschaftlicher und politischer Konkurrent wird.

Zitat:Durch diese meines Erachtens Kurzsichtigkeit hat man Rußland nun sehr langfristig an China als Rohstofflieferant/Juniorpartner gebunden.

Das wäre nur dann eine vermeidbare Fehlentwicklung gewesen, wenn es unter anderen Umständen anders gekommen wäre. Die Grundannahme ist aber gerade eben, dass dies so oder so stattgefunden hätte. In diesem Kontext könnte man darauf verweisen, dass die Russen schon vor dem Krieg anfingen Pipelines Richtung China zu bauen usw usf. Schlussendlich ist das Problem, dass Russland in jedem Fall ein Konkurrent war und ist, und damit in jedem Fall China zuarbeitet, ob direkt oder indirekt.

Jeder Konflikt mit China führt dazu, dass man sich voll und ganz auf diesen konzentrieren muss und weil die Russen sich bewusst gegen den Westen entschieden haben, führt dies automatisch zu einem erheblichen Problem, wenn man mit China gebunden ist. Also muss man Russland als Problem reduzieren, und exakt das geschieht gerade eben.

Ein Russland als Rohstofflieferant und Juniorpartner der Chinesen ist viel weniger problematisch als ein eng mit Europa verflochtenes Russland welches eigenständig Aggressionen ausübt, während man selbst mit China gebunden ist. Wäre Russland nicht dermaßen geschwächt worden, würde es im Fall eines Konfliktes mit China trotzdem seine Rohstoffe nach China liefern und würde dann aber noch darüber hinaus eine erhebliche Bedrohung "im Rücken" darstellen.

Zitat:In Wahrheit hat man so nur China den Rücken freigehalten

Nein, exakt das Gegenteil ist der Fall. Die Russen werden jeden Konflikt mit China für weitere eigene Agression nutzen. Und keineswegs hätte sich die RF im Fall eines Konfliktes des Westens TM mit China auf die Seite des Westens gestellt. Die Chinesen hätten also so oder so den Rücken frei gehabt ! Das ist ja gerade eben der wesentliche Punkt.

Russland wäre so oder ein Feind des Westens TM. Das ist kein Produkt westlicher Agression gegen Russland, sondern resultiert schlicht und einfach daraus, dass das russische Imperium eine eigene Macht- und Expansionspolitik verfolgt und dies schon kohärent seit vielen Jahren. Die Russen wollen aufgrund ihres Selbstverständnisses eine eigene Macht sein welche andere Völker und Staaten kontrolliert, und weil dies so ist (Fakt), resultiert daraus zwingend ein Konflikt mit dem Westen und stellt Russland damit ein Problem im Rücken des Westens dar und nicht im Rücken der Chinesen.

Da China und die RF im globalen Kontext also so oder so beide gegen den Westen agieren und wirken, schwächt eine möglichst weitgehende Schwächung Russlands diesen Russisch-Chinesischen Block. Würde man hingegen Russland einfach machen lassen, würde dies zugleich China stärken. Schlussendlich ist dies alles also eine Variante des Getrennt Schlagens. Statt beide zugleich gegen sich zu haben, schlägt man sie also getrennt.

Das heißt nicht, dass China und Russland tatsächlich Verbündete sind, dass sind sie selbst jetzt nicht. Sondern dass sie beide zeitgleich gegen uns agieren, und damit wenn sie dies zeitgleich tun, ein Problem darstellen. Und dass man sie daher wie einen Block behandeln muss, selbst wenn sie kein solcher sind. Je mehr man Russland schwächt, desto mehr schwächt man damit zugleich die chinesische Machtpolitik, auch wenn dies kontraintuitiv erscheint. Denn damit nimmt man den Chinesen ein Mittel aus der Hand, welches sie sonst gegen uns einsetzen werden.

Russland arbeitet gewollt oder nicht-gewollt also in jedem Fall China zu. Daraus resultierend ist Russland ein Feind und muss daher so weitgehend wie möglich geschwächt werden.

Zitat:Wie man so China in der chinesischen Einflußsphäre effektiv stellen will ist mir ein Rätsel.

Wie schon früher geht es hier vor allem um indirekte Kriegsführung, indirekte Strategien, indirekte Einflussnahme.

Du hast zwei Nachbarn. Beide stellen ein Problem dar. Der eine ist sehr viel stärker, der andere schwächer. Allein schon die Gefahr, die reine Möglichkeit dass sich beide zusammen tun gebietet es, als erstes den schwächeren auszuschalten wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.
KheibarShekan:

Zitat:Hier wurde die Auffassung vertreten, der Westen ™ würde durch ethische moralische Grundsätze und durch eine nicht näher definierte Form der gewaltbezogenen "Degenerierung" in seiner Gewaltausübung signifikant gehemmt. Das war die These der Diskussionsteilnehmer. Dem habe ich nur ein paar Fakten entgegen gelegt, wo Gewalt durchaus sehr, sehr umfänglich (u.a. gegeneinander) und ohne größere Limits tatsächlich eingesetzt wurde. Das habe ich auch nicht als moralischen Vorwurf formuliert, sondern das ist eine faktenbasierte Feststellung, die nicht mit der eigenen Wahrnehmung seitens der Diskussionsteilnehmer in Bezug auf vermeintliche Schranken harmonisiert.

Ich hab dich da durchaus verstanden.

Und dem halte ich die These entgegen, dass die von dir angeführten Konflikte ungeeignet sind um deine These zu belegen, weil sie über eine zu große Zeitspanne gehen und die "Degenerierung" ein Produkt der letzten 30 Jahre ist, also ein relativ neues Phänomen. Es nützt daher rein gar nichts für die Frage ob diese Degenierung in der Kriegsfähigkeit tatsächlich existiert oder nicht, den 2WK, den Koreakrieg usw anzuführen, da es ja die Aussage der Diskussionsteilnehmer welche diese These vertreten ist, dass damals diese Degenierung noch nicht vorhanden war. Sondern dass sie erst heute ein Problem darstellt.

Wie schon geschrieben: mit den Armeen des Koreakrieges wie auch des Vietnamkrieges hätte man in Afghanistan beispielsweise gesiegt.

Zitat:Ich bin schlicht der Auffassung, dass der Fokus auf Friedensmissionen aus einer regional sehr friedlichen und wirtschaftlich sehr dominanten Rolle heraus entstanden ist, aber der Westen ™ gemäß Faktenlage durchaus in der Lage ist Gewalt in sehr umfänglicher Form und ohne größere moralische Hemmschuhe auszuüben.

Das erstgenannte sehe ich ebenso: die Ritualisierung der Kriegsführung wie ich das nenne ist ein Resultat einer langen und wirtschaftlich sehr erfolgreichen Friedenszeit, in welcher der Westen TM dermaßen überlegen war, dass man sich diese ritualisierte Kriegsführung leisten konnte. Daher die aktuellen Blumenkriege des Westens.

ABER:

In dieser Zeit haben sich aber darüber hinaus auch die westlichen Gesellschaften immens verändert ! Vor allem auch Sozialkulturell ! Das sind heute ganz andere Menschen, mit einer ganz anderen Sozialkultur. Stichwort LGBTQIAwasauchimmer: noch bis 1994 war Homosexualität in der Bundesrepublik Deutschland eine Straftat und stand im Strafgesetzbuch, war Vergewaltigung in der Ehe noch bis 1997 keine Straftat usw. usw.

Die Veränderungen der letzten 30 Jahre sind immens und werden meiner Meinung nach heillos unterschätzt !

Dazu kommen Internet, soziale Netzwerke, Smartphones usw, deren Auswirkungen auf die Sozialkultur im Westen TM unfassbar gigantisch groß sind und die massivste Veränderungen in den Bevölkerungen hierzulande bewirkt haben.

Wenn du die Gesellschaften hier und heute ansiehst, und mit denen von vor 30 Jahren vergleichst, dann sind das meiner Wahrnehmung Welten ! (und ich bin alt genug und kenne daher die frühere Welt)

Deshalb ist es meine These, dass zumindest die Westeuropäischen Gesellschaften und insbesondere die in dieser Bundesrepublik eben nicht mehr in der Lage sind Gewalt in sehr umfänglicher Form anzuwenden. Und dass selbst die USA dazu zunehmend nicht mehr in der Lage sind.

Zitat:Ich sage nur, dass Europa nicht vorrangig durch vermeintlichen Gewaltmangel und ethische Schranken in der Verfolgung seiner Interessen behindert wird, sondern irgendwie gescheitert zu sein scheint, eine eigenständige Sicherheits- und Wirtschaftspolitik zu betreiben.

Beides gehört meinem Verständnis nach aber elementar zusammen. Gewaltmangel und ethische Schranken sind gerade eben der Grund für das Scheitern einer eigenständigen Sicherheits- und Wirtschaftspolitik. Es ist also gerade eben die Kriegsunfähigkeit, welche diese Fehlentwicklung maßgeblich mit verursacht hat.

Denn jede Politik ist meiner Ansicht nach nichts anderes als die Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln.

Zitat:Die Rufe nach Krieg mit China und Russland und das diese unausweichlich wäre, halte ich für vollkommen fatalistisch.

Ich neige natürlich zu Fatalismus, aber meiner Meinung nach sind Scheitern, Versagen, Unfähigkeit, und insbesondere bloße Selbstläufer die wesentlichsten Faktoren und Elemente in diesem Kontext. Menschen an sich sind dermaßen unfähig, und die wenigen Fähigen nicht in der Lage das fortwährende Scheitern auch nur ausreichend abzuschwächen, so dass daraus und den allgemeinen Friktionen negative Entwicklungen immer wahrscheinlicher sind als positive. Deshalb ist der Konflikt unvermeidbar, solange eine Seite sich der anderen nicht unterordnet.

Und schlussendlich ist dies ja hier auch deine Schlußfolgerung, wenn auch aus anderer Warte: man solle sich also China unterordnen, den BRICS die größere Macht zubilligen usw. Solange aber Mächte sich eben nicht unterordnen, sondern versuchen selbst ihre Macht auszuweiten (was sie auch müssen, weil sie sonst erhebliche Nachteile davon haben), ist der Konflikt nicht vermeidbar.

Beispielsweise ist man nur deshalb mit Russland im Konflikt, weil sie Russland nicht dem Westen unterordnen will, sondern ein eigenes Imperium betreiben will. Die Lösung kann aber nun nicht sein, dass sich Europa den anderen unterordnet, mit der Begründung, die Unterordnung unter die USA wären zukünftig gesehen mehr ein Problem als eine Lösung !

Ich stimme dir da sogar zu, dass die Unterordnung unter die USA ein primäres Problem darstellt. Aber dessen ungeachtet macht es auch keinen Sinn sich der Gegenseite anzuschließen.

Das wichtigste aber ist, dass solange es konkurrierende Mächte gibt, der Krieg unvermeidbar ist. Und Fakt ist, dass es konkurrierende Großmächte gibt, und die extrem große Dynamik, Überkomplexität und die Unfähigkeit des Menschen solche hochdynamischen und überkomplexen Systeme überhaupt ausreichend zu steuern den Krieg unvermeidbar macht.

Weil wir aber in den letzten 30 Jahren sozialkulturell, gesellschaftlich und von den Menschen her die Kriegsfähigkeit in Europa zu weitgehend eingebüßt haben, sind wir für diese unvermeidbaren Kriege schlecht aufgestellt !
(07.07.2024, 10:31)Quintus Fabius schrieb: [ -> ]Und dem halte ich die These entgegen, dass die von dir angeführten Konflikte ungeeignet sind um deine These zu belegen, weil sie über eine zu große Zeitspanne gehen und die "Degenerierung" ein Produkt der letzten 30 Jahre ist, also ein relativ neues Phänomen. Es nützt daher rein gar nichts für die Frage ob diese Degenierung in der Kriegsfähigkeit tatsächlich existiert oder nicht, den 2WK, den Koreakrieg usw anzuführen, da es ja die Aussage der Diskussionsteilnehmer welche diese These vertreten ist, dass damals diese Degenierung noch nicht vorhanden war. Sondern dass sie erst heute ein Problem darstellt.

Wie schon geschrieben: mit den Armeen des Koreakrieges wie auch des Vietnamkrieges hätte man in Afghanistan beispielsweise gesiegt.

Ich kann Dir da schon folgen. Der mangelnde Todesmut Einzelner wird heute aber auch ein viel größeres Stück weit durch Technik kompensiert, was die Waffenwirkung und auch die Mittel der Informationsgewinnung natürlich nicht grundsätzlich eingeschränkt hat. Aber was das Leben im Kriegszustand angeht, über einen längeren Zeitraum unter Entbehrungen zu leben und zu funktionieren, da hat sich in den hiesigen Gesellschaften in der Zwischenzeit viel geändert. Soldaten sind heute anspruchsvoller als früher. Das war aber witzigerweise auch schon Napoleons Problem.
In einem Kriegszustand zu leben ist für die meisten Zivilisten in Westeuropa heute schwer vorstellbar. Unsere Probleme sind Klopapier, Sonnenblumkernöl. Corona war ja schon ein Drama. Da hat sich einiges geändert. Das ist absolut richtig. Wohlstand und danach streben wir. Sollen wir ja auch. Schließlich leben wir im demokratischen Kapitalismus.

Zitat:Das erstgenannte sehe ich ebenso: die Ritualisierung der Kriegsführung wie ich das nenne ist ein Resultat einer langen und wirtschaftlich sehr erfolgreichen Friedenszeit, in welcher der Westen TM dermaßen überlegen war, dass man sich diese ritualisierte Kriegsführung leisten konnte. Daher die aktuellen Blumenkriege des Westens.

Ich lese den Begriff "ritualisierte Kriegsführung" häufiger und habe bis heute nicht verstanden, was Du genau darunter verstehst. Organisierte Gewalt findet meistens in ritualisiertem Rahmen statt. Kriminelle Gruppen, Polizei, Streitkräfte, ..alle pflegen und bedienen ihre eigenen Riten. Darüber definiert sich letztendlich, wer dazugehört und wer nicht.

Zitat:Wenn du die Gesellschaften hier und heute ansiehst, und mit denen von vor 30 Jahren vergleichst, dann sind das meiner Wahrnehmung Welten ! (und ich bin alt genug und kenne daher die frühere Welt)

Man wäre vor 40 Jahren sicherlich folgsamer und weniger ich-bezogen gewesen im Konfliktfall. Da waren allerdings auch noch andere Feindmuster in die Köpfe programmiert, die den V-Fall bedeutetet hätten. Nur darum ging es von der Nachkriegszeit bis in die 90er. Und bis zum Zerfall Jugoslawiens durfte und wollte Deutschland im Ausland sowieso nicht militärisch mitspielen. Deutsche Panzer im Ausland. Huiii.
Insofern braucht man da auch nichts nachweinen, was sowieso nicht hätte stattfinden können.

Zitat:Deshalb ist es meine These, dass zumindest die Westeuropäischen Gesellschaften und insbesondere die in dieser Bundesrepublik eben nicht mehr in der Lage sind Gewalt in sehr umfänglicher Form anzuwenden. Und dass selbst die USA dazu zunehmend nicht mehr in der Lage sind.

Doch. Anwenden schon. Wenn man den Prozess des Tötens/Zerstörens hinreichend abstrahiert und gamifiziert, also nur im Home-Office auf den Knopf drücken muss, damit eine Brandbombe auf einem Marktplatz explodiert, dann machen da schon genug mit. 1) Rechtliche Absicherung 2) Was gibts für den Job? 3) Überstunden? 4) Bonus? 5) Urlaubstage? Mehr Fragen musst du nicht klären.

Mit der Maschinenkanone auf eine Gruppe Flüchtender draufzuhalten, eine Siedlung systematisch zu räumen, stunden- oder tagelang in irgendeinem kalten, nassen Drecksloch kauern, brennende Körper, Verletzte, Leichengestank, ..das ist ein anderer Job. Dafür brauchst Du heute Spezialisten und früher konnte das jeder. Das stimmt.

Zitat:Gewaltmangel und ethische Schranken sind gerade eben der Grund für das Scheitern einer eigenständigen Sicherheits- und Wirtschaftspolitik. Es ist also gerade eben die Kriegsunfähigkeit, welche diese Fehlentwicklung maßgeblich mit verursacht hat. Denn jede Politik ist meiner Ansicht nach nichts anderes als die Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln.

Dem Gedankengang kann ich wiederum nicht ganz folgen. Kannst Du mal ein Beispiel bringen? Ich kann mir gerade schwer vorstellen, in welchem Szenario die EU oder auch konkret Deutschland durch größere Gewaltanwendung und weniger ethische Schranken die zentralen Fehlentwicklungen der Wirtschaftspolitik und Sicherheitspolitik hätte verhindern können und zu welchem Preis.

Zitat:Und schlussendlich ist dies ja hier auch deine Schlußfolgerung, wenn auch aus anderer Warte: man solle sich also China unterordnen, den BRICS die größere Macht zubilligen usw. Solange aber Mächte sich eben nicht unterordnen, sondern versuchen selbst ihre Macht auszuweiten (was sie auch müssen, weil sie sonst erhebliche Nachteile davon haben), ist der Konflikt nicht vermeidbar.

Keine Nation sollte sich einer anderen Nation unterordnen. Ich sagte man sollte alle Türen offen halten.
Das Deutsch-Chinesische Handelsvolumen beträgt über 200Mrd. und damit quasi genauso hoch wie das Handelsvolumen mit den USA. 2018 lag das Handelsvolumen mit Russland noch bei über 60 Mrd. Und weil die Russen und Chinesen sich nicht den USA unterordnen, hacken wir uns ein Bein und eine Hand ab. Aus meiner Sicht macht das den Fehler nur komplett.
(06.07.2024, 12:47)Schneemann schrieb: [ -> ]Aber wehe, man sah sich irgendwelcher Kritik ausgesetzt ob dieses Verhaltens, dann wurde schnell mit dem moralisierenden Finger über den Atlantik gedeutet und Ami – go home! gerufen. Angesichts dieses deutscherseits geradezu arrogant-parasitären Verhaltens - man verzeihe die derbe Wortwahl - ...

Die Wortwahl beschreibt die Realität durchaus zutreffend.

Die zentrale Frage ist, weshalb die USA so viel Kriege führten.

Das zentrale Motiv - durchaus nachvollziehbar - ist meist, die Beseitigung von Liberalismus zu verhindern.

Und zwar konkret von Wirtschaftsliberalismus.

Wenn also Piraten im Mittelmeer den freien Seehandel behindern, schicken die USA, wie in den Barbareskenkrieg geschehen, ein Flottengeschwader um die Bedrohung zu beseitigen.

Und manchmal schiessen die USA dabei völlig über`s Ziel hinaus, wie bspw. in Chile oder Grenada.

Vietnam ist sicher ein Sonderfall, weil die USA nicht erkannten, dass das ein kolonialer Befreiungskrieg war, der die Märkte nicht bedrohte. Ähnlich zuvor in Kuba.

Der einzige Krieg, der nahezu sinnfrei war, war der Irakkrieg.
Was hat es den gebracht die Bundeswehr weltweit einzusetzen ? Das Ansehen Deutschlands hat es auf jeden Fall mehr geschadet als genutzt . Schon weil die Einsätze völkerrechtlich stellenweise überhaupt nicht zu rechtfertigen waren. Die usa macht auch kein Geheimnis daraus das es ihr einzig um eigene Interessen geht , das ist seit Jahrzehnten bekannt , nicht erst seit Trump . Diese anbiedern an die USA ist einfach jämmerlich und lächerlich. Ein einiges und starkes Europa ist auch nicht im Interesse der usa . Genauso waren den usa die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen europäischen Ländern und Russland ein Dorn im Auge. Besonders natürlich die zwischen Deutschland und Russland . Daher sollte man sich endlich im Klaren werden was man mit der Eu jetzt schaffen will. Strebt man wirklich ein einiges Europa an wäre die NATO obsolet . Man könnte sich wirklich den eigenen interessensphären zuwenden.


Zitat: Mit der Maschinenkanone auf eine Gruppe Flüchtender draufzuhalten, eine Siedlung systematisch zu räumen, stunden- oder tagelang in irgendeinem kalten, nassen Drecksloch kauern, brennende Körper, Verletzte, Leichengestank, ..das ist ein anderer Job. Dafür brauchst Du heute Spezialisten und früher konnte das jeder. Das stimmt.
Dafür brauch ich nicht mehr als einen Befehl der rechtlich standhält und vermittelbar ist . Und solange dieser keine Kriegsverbrechen beinhaltet wird der auch ausgeführt.
Die Bundeswehr hat mehrere Jahre die Höhen 431 und 432 gehalten , das waren nicht mehr wie stellungssystem von Hand gegraben wo man seinen Platz mit Mäusen und Ratten geteilt hat , Sommer wie Winter.
Oder wie sperren und Demos im Kosovo aufgelöst wurden , da hat meist ein Gurt aus mg über Köpfe gereicht und Problem war entfernt. Natürlich hat man da auch mal jemand getroffen . Ansonsten fällt mir auf die Schnelle kein Grund ein wo ich in unserer interessensphäre eine Siedlung räumen müsste oder mit der Mk hinter flüchtenden herschiessen muss. Völkerrecht bleibt trotzdem bindend und natürlich eine Verhältnismäßigkeit
(10.07.2024, 13:21)alphall31 schrieb: [ -> ]Strebt man wirklich ein einiges Europa an wäre die NATO obsolet
Diesen Schluss würde ich so nicht ziehen. Selbst wenn die EU es schaffen würde, eigene militärische Stärke auf einem mit den USA vergleichbaren Niveau aufzubauen, so würde die NATO dennoch nicht ihre Existenzberechtigung verlieren. Es würde sich nur das Binnenverhältnis verändern und der Führungsanspruch der Amerikaner innerhalb der Organisation wäre infrage gestellt. Die Tatsache, dass man auch ohne die Amerikaner agieren könnte, spricht ja nicht dagegen, sich trotzdem abzustimmen, zusammen zu üben, gemeinsame Standards zu verwenden, gemeinsame Einrichtungen zu betreiben und insbesondere auch eine defensive Beistandsverpflichtung aufrecht zu erhalten, was die Abschreckungswirkung enorm erhöht.
KheibarShekan:

Zitat:Ich lese den Begriff "ritualisierte Kriegsführung" häufiger und habe bis heute nicht verstanden, was Du genau darunter verstehst. Organisierte Gewalt findet meistens in ritualisiertem Rahmen statt. Kriminelle Gruppen, Polizei, Streitkräfte, ..alle pflegen und bedienen ihre eigenen Riten.

Ich teile Kriege nach der Art ihrer Regulierung wie folgt:

Unregulierte Kriege (Totale Kriege) - Regulierte Kriege (es gelten einige Regeln, aber diese haben jeweils einen bestimmten Sinn / Nutzen / Zweck und die Kriege sind nicht überreguliert) - Ritualisierte Kriege (der Krieg wird mit einem Übermaß an Regeln geführt, weit über das hinaus was sinnvoll ist).

Ritualisierte Kriegsführung bedeutet also, sich ohne Notwendigkeit und ohne Nutzen selbst durch Regeln so einzuschränken, dass dies signifikante Nachteile nach sich zieht. Man nimmt also aus was für Gründen auch immer (meist sind es rein ideelle Gründe) erhebliche militärische Nachteile für sich in Kauf, nur um die teilweise völlig sinnlosen, wirkungslosen oder komplet aus dem Kontext gerissenen Regeln einzuhalten und dies selbst dann, wenn dies die Niederlage bedeutet.

Jeder Krieg hat aber nun in sich selbst die Tendenz sich zur völligen Regellosigkeit hin zu entwickeln. Dies geschieht dadurch, dass das Nicht-Beachten von Regeln und das Überspringen von Eskalationsstufen immer einen militärischen Vorteil generieren. Warum also gibt es dann überhaupt Regeln ?

Weil auch diese in vielen Fällen einen Vorteil generieren. Man befolgt deshalb auch im Krieg Regeln, weil diese vorteilhaft sind und im Gesamtkontext kann dadurch der Vorteil der Eskalation etwaig sogar kompensiert werden. Man hat hier also zwei entgegen gesetzt wirkende Kräfte: den Vorteil der Regellosigkeit und den Vorteil durch das Einhalten der Regeln und beide wirken gegeneinander - entgegen gesetzt.

Ritualisierte Kriegsführung bedeutet nun, Regeln unter allem Umständen einzuhalten, egal ob dies Vorteile bringt oder nicht, gleichgültig ob diese Regeln Sinn machen oder nicht, und gleichgültig ob man dadurch verliert oder nicht.

Ein Musterbeispiel für ritualisierte Kriegsführung wäre daher der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan oder in Mali. Ein Beispiel für eine Regulierte Kriegsführung hingegen der aktuelle Krieg Israels in Gaza. Der reine totale Krieg war in der Kriegsgeschichte sehr selten, da Regeln doch immer noch Vorteile bringen welche die Entwicklung des Krieges dahin so weit bremsen, dass dieser Zustand in der verfügbaren Zeitspanne nicht eintritt, aber um ein heutiges Beispiel aufzugreifen könnte man die Kampfweise der Hamas in Gaza, oder die des IS als totale, regelllose Kriegsführung klassifizieren.

Und nun ist es meine These, dass der Westen TM - und darunter zuvorderst die westeuropäischen Länder und bedingt auch die USA zu weitgehend ritualisierte Kriegsführung betreiben, primär weil ihre Gesellschaft immer weitergehender Kriegsunfähig sind. Dies wird noch teilweise durch andere Faktoren kompensiert, welche aber erst recht den Blick darauf verstellen, wie kriegsunfähig wir sozialkulturell geworden sind:

Zitat:Der mangelnde Todesmut Einzelner wird heute aber auch ein viel größeres Stück weit durch Technik kompensiert

Zweifelsohne, sonst wäre die Lage ja noch viel dramatischer. Wir haben es hier also mit teilweise vollkommen gegenläufigen Entwicklungen zu tun: das Töten wird durch die Technik so stark abstrahiert und der natürlichen menschlichen Tötungshemmung entzogen, dass es immens viel leichter wird, auf der anderen Seite aber werden nicht nur die westlichen TM Gesellschaften aus sozialkulturelllen Gründen immer kriegsunfähiger - die gleiche Technik bewirkt darüber hinaus auch eine immer negativere Beeinflussung dieser Unwilligen durch die Informationskriegsführung welche heute in einem Ausmaß möglich ist, dass es früher ja ebenfalls nicht gab. Man kann daher heute sehr leicht große Mengen an Menschen so manipulieren, dass dies für die Kriegsführung problematisch ist, und dies selbst im Land des Feindes.

Darüber hinaus führt diese Entwöhnung vom direkten unmittelbaren Erleben des Tötens, Vernichtens und Zerstörens dazu, dass man gerade eben dadurch die Entwicklung zu immer mehr Kriegsunfähigkeit noch weiter beschleunigt, weil die Menschen gerade eben durch diese Abstraktion dann immer stärker negativ darauf reagieren.

Noch zu dem Punkt Todesmut: wie du es selbst ja dann später indirekt anreißt, ist für die Kriegsfähigkeit nicht Todesmut relevant, sondern der Wille zu Töten, also der Wille organisierte Gewalt gegen andere anzuwenden. Es geht ja nicht darum sich selbst zu opfern, sondern die anderen zu töten, zu verstümmeln, zu verletzen, ihren Willen zu brechen. Das ist der Kern des ganzen, die Beeinflussung des Willens des Gegners durch die Anwendung von militärischer Gewalt. Todesmut ist hier nur indirekt von Nutzen, weil er es ermöglicht diese Gewaltanwendung auch unter für einen selbst widrigen Umständen fortzuführen.

Zitat:Doch. Anwenden schon. Wenn man den Prozess des Tötens/Zerstörens hinreichend abstrahiert und gamifiziert, also nur im Home-Office auf den Knopf drücken muss, damit eine Brandbombe auf einem Marktplatz explodiert, dann machen da schon genug mit. 1) Rechtliche Absicherung 2) Was gibts für den Job? 3) Überstunden? 4) Bonus? 5) Urlaubstage? Mehr Fragen musst du nicht klären.

Eine Minderheit ja, was die Frage der direkt ausführenden angeht und beschränkt auf diese rein technische Kriegsführung - und diese Minderheit wäre darüber hinaus durch die Technik inzwischen auch in der Lage eine ausreichende Quantität zu generieren, aber die Kriegsfähigkeit von Staaten ist ein Gesamtkomplex, bei welchem die direkt unmittelbar ausführenden nur ein Faktor von vielen in einem ganzen Faktorenbündel sind.

Es nützt ja rein gar nichts, dass ein Bundeswehrscharfschütze in Afghanistan absolut willig und bereit wäre Taliban zu erschießen und jeden Verdächtigen der ein Taliban sein könnte, wenn die Armee insgesamt wie auch die Gesellschaft dies nicht zulassen und im Fall das es doch geschieht die Unterstützung einstellen. Es nützt ja rein gar nichts, wenn Drohnenpiloten irgendwo abstrahiert Bomben abwerfen, wenn die Armee insgesamt wie auch die Gesellschaft nicht kriegsfähig sind. Man darf diese Frage meiner Meinung nach daher nicht auf den Einzelaspekt beschränkt betrachten. Man muss sie stattdessen ganzheitlich betrachten.

Zitat:Mit der Maschinenkanone auf eine Gruppe Flüchtender draufzuhalten, eine Siedlung systematisch zu räumen, stunden- oder tagelang in irgendeinem kalten, nassen Drecksloch kauern, brennende Körper, Verletzte, Leichengestank, ..das ist ein anderer Job. Dafür brauchst Du heute Spezialisten und früher konnte das jeder.

Nicht unbedingt jeder, sonst hätte es ja keine Krieger als Stand gegeben, keine Söldnerheere, keine Ritter, Samurai, Mamelucken, Yenicerie usw usf. Das ganze ist aber nur ein Aspekt. Meiner Ansicht nach beschränkst du die Fragestellung hier zu sehr auf die Ausführenden selbst.

Aber um mal kurz bei diesen zu bleiben: es ist Fakt, dass die Zahl derjenigen welche sich an Kämpfen direkt beteiligen, also der kämpfende Anteil der Bevölkerung, im Laufe der Zeit immer kleine wurde. Nie waren so wenige Kämpfer wie heute, war die Zahl der "Krieger" so gering. Das deckt sich nun mit deiner Grundaussage, ist aber vor allem anderen auch ein Resultat der Technik. Und inzwischen sind wir an einem Punkt wo die Technik die Quantität bereit stellen kann. Jedoch: wie schon oben beschrieben ist dies nur ein Aspekt. Nur ein Teil des ganzen.

Wenn die Armee insgesamt eine solche Kriegsführung wie du sie beschreibst zutiefst ablehnt, verweigert, versucht sie sich mit ritualisierter Kriegsführung vom Leibe zu halten, und die Gesellschaft ebenso, dann fehlt die Gewaltbereitschaft insgesamt so weitgehend, dass es irrelevant ist, wieviele überhaupt noch dazu fähig wären. Entsprechende Spezialisten gäb es auch heute noch, selbst in der Bundeswehr, die durchaus solche Taten begehen könnten. Sie können es aber praktisch real nicht, sie dürfen es nicht, und diese Taten werden systematisch verhindert. Deshalb führt selbst das Vorhandensein solcher Spezialisten nicht zu Kriegsfähigkeit, weil diese insgesamt nicht besteht.

Zitat:Dem Gedankengang kann ich wiederum nicht ganz folgen. Kannst Du mal ein Beispiel bringen? Ich kann mir gerade schwer vorstellen, in welchem Szenario die EU oder auch konkret Deutschland durch größere Gewaltanwendung und weniger ethische Schranken die zentralen Fehlentwicklungen der Wirtschaftspolitik und Sicherheitspolitik hätte verhindern können und zu welchem Preis.

Natürlich kann man nicht alle Fehlentwicklungen der Wirtschaft durch militärische Stärke kompensieren, da diese Fehlentwicklungen ja vor allem auch im Inneren stattfinden (hier könnte man aber durchaus über die Frage der Deindustrialisierung und wie wesentlich eigentlich die Rüstungsindustrie sein könnte sprechen), und sich militärische Gewalt nach außen richtet, aber gerne will ich dir die Koppelung mit Beispielen erläutern: nehmen wir die Houthis - diese stellen ein Problem für die Schifffahrt im Roten Meer dar. Wäre der Westen TM zu größerer Gewaltanwendung befähigt, könnte man dieses Problem lösen. Oder nehmen wir die rasant wachsende Piraterie. Oder die um sich greifende Vertreibung der Europäer aus Afrika, mit dem entsprechenden Verlust an Einfluss, Zugriff auf Rohstoffe dort, Kontrolle von Märkten usw. Oder nehmen wir die Kontrolle von Nordafrika sowie der Sahelzone im besonderen in Bezug auf Migration, Flüchtlingsbewegungen, Drogenschmuggel. Oder die Unfähigkeit gegen die OK und mexikanische Kartelle in Europa vorzugehen während sich diese ausbreiten.

Ein perfektes Beispiel wäre für mich der Einsatz in Mali - welcher durchaus ein Erfolg hätte sein können, aber stattdessen sind unsere Probleme in diesem Kontext heute größer als je zuvor. Also bringe ich dir mal Mali als Beispiel, und allgemein den Einsatz europäischer Truppen in der Sahelzone in den letzten Jahren. Das ist ein perfektes Musterbeispiel dafür, wie die Kriegsunfähigkeit der Westeuropäer hier fatale Folgen für Europa generiert hat. Die Fernwirkungen dieses Versagens sind den meisten hierzulande noch nicht mal ansatzweise klar.

Zitat:Keine Nation sollte sich einer anderen Nation unterordnen.

Exakt das sehen die Russen und Chinesen aber vollständig anders (und die USA natürlich ganz genau so und viele andere ebenso). Es wäre natürlich sehr gut, wenn jede Nation diese Haltung teilen würde, aber die praktische Realität ist das komplette Gegenteil. Überall versuchen Nationen andere unter sich zu zwingen, in ihrem Sinne zu beeinflussen, sie zu lenken, auszubeuten, usw usf. Und gerade eben weil dem so ist, gerade eben deshalb ist die Kriegs- und Gewaltfähigkeit so wesentlich. Solange es solches Dominanzverhalten gibt, und gerade Russland und China zeigen ein solches Dominanzverhalten stärker als andere Nationen, wird eine entsprechende Befähigung zumindest zum regulierten Krieg notwendig sein und ist ritualisierte Kriegsführung ein Problem.

Und komm mir jetzt bitte nicht mit einem Whataboutism über die USA. Natürlich machen die exakt das gleiche und zeigen ebenso ein Dominanzverhalten, gar keine Frage. Aber darum geht es ja gar nicht, sondern um die Frage der Kriegsfähigkeit. Wenn verschiedene Nationen und Bündnisse versuchen andere zu unterwerfen, unterzuordnen, zu dominieren, dann entsteht daraus ein fortwährendener Konflikt und wenn nun eine Seite in diesem Dauerkonflikt kriegsunfähiger ist als die andere Seite, so ist das für sie von Nachteil. Wenn wir ritualisierte Kriegsführung betreiben, und die anderen sind schon auf dem Weg in die unregulierte Kriegsführung, ist dies frei von jeder Moral und Ethik einfach nur rein praktisch ein derart massiver Nachteil, dass dies langfristig gesehen in die Niederlage führt.

Zitat:Und weil die Russen und Chinesen sich nicht den USA unterordnen, hacken wir uns ein Bein und eine Hand ab. Aus meiner Sicht macht das den Fehler nur komplett.

Sollen wir uns stattdessen den Russen und Chinesen unterordnen?! Und zu eigener Macht sind wir ja gerade eben nicht fähig.
Die Bw war in Mali allerdings weder an einem Krieg noch an einem bewaffneten Konflikt beteiligt . Der Kampf gegen irreguläre Kräfte ist grundsätzlich von einem Krieg zu unterscheiden da diese nicht von staatlichen Institutionen geleitet werden und daher unabhängig von der Staatsmacht agieren.
Gehen diese haben Streitkräfte grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten vorzugehen.
Eine Möglichkeit ist mit voller Härte gegen diese Bedrohung vorzugehen und auch die Zivilbevölkerung nicht zu schonen. Eine andere Möglichkeit, den die britische Armee in Nordirland vorexerzierte, ist im Rahmen des Völkerrechtes zu bleiben und auf eine Politik der Repressalien zu verzichten.
Mit einem Krieg gegen eine andere Armee hat das allerdings wenig zu tun und man kann daher auch nicht herleiten wie kriegstüchtig jemand ist .
Schwabo Elite:

Zitat:Die zentrale Frage ist, weshalb die USA so viel Kriege führten.

Das zentrale Motiv - durchaus nachvollziehbar - ist meist, die Beseitigung von Liberalismus zu verhindern.

Und zwar konkret von Wirtschaftsliberalismus.

Deine These kann ich nicht vollumfänglich teilen. Die USA haben auch schon aus allerlei anderen Gründen Krieg geführt, als Musterbeispiel sei hier der Krieg gegen Afghanistan nach 9/11 genannt. Ich kann dir zustimmen, dass das von dir genannte Motiv bei den USA häufiger vorkommt als bei anderen Nationen, dessen ungeachtet ist es als monokausale Erklärung heillos unzureichend und führten die USA zuhauf Kriege aus ganz anderen Gründen.


alphall31:

Zitat:Die Bw war in Mali allerdings weder an einem Krieg noch an einem bewaffneten Konflikt beteiligt

Die Frage der legalistischen Definition ist völlig irrelevant. Es zählt nur was real praktisch ist. Sich in einem Krieg dem Krieg zu verweigern, in einem bewaffneten Konflikt nicht kämpfen zu wollen, ist im weiteren eines der wesentlichsten Merkmale ritualisierter Kriegsführung. Gerade eben deshalb nannte ich dieses Beispiel.

Zitat:Der Kampf gegen irreguläre Kräfte ist grundsätzlich von einem Krieg zu unterscheiden da diese nicht von staatlichen Institutionen geleitet werden und daher unabhängig von der Staatsmacht agieren.

Das kann man keineswegs so scharf trennen. Irreguläre Kräfte können durchaus auch von einer Staatsmacht gelenkt werden und in Wahrheit gibt es im eigentlichen Kern jedweden Krieges überhaupt keinen Unterschied: man wendet organisierte Gewalt an um den Willen des Gegners in seinem Sinne zu beeinflussen. Auf dieser Ebene ist jeder Krieg exakt gleich. Und uns fehlt die Gewaltfähigkeit um den Willen des Gegners ausreichend zu beeinflussen, exakt dass bedingt unsere Kriegsunfähigkeit.

Welche Form der jeweilige Krieg hat, was für Gegner man hat, wie die Umstände sind, ist dafür völlig irrelevant. Ein Krieg ist ein Krieg ist ein Krieg. Völlig gleich ob man das nun humanitäre Friedensintervention nennt oder sich dem einfach nach Vogel Strauß Manier verweigern will.

Zitat:Gehen diese haben Streitkräfte grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten vorzugehen.
Eine Möglichkeit ist mit voller Härte gegen diese Bedrohung vorzugehen und auch die Zivilbevölkerung nicht zu schonen. Eine andere Möglichkeit, den die britische Armee in Nordirland vorexerzierte, ist im Rahmen des Völkerrechtes zu bleiben und auf eine Politik der Repressalien zu verzichten.

Das können wir gerne im Strang über COIN detaillierter diskutieren, denn dass ist schon wesentlich komplexer als diese von dir hier behauptete Dualität.

https://www.forum-sicherheitspolitik.org...light=COIN

Zitat:Mit einem Krieg gegen eine andere Armee hat das allerdings wenig zu tun und man kann daher auch nicht herleiten wie kriegstüchtig jemand ist .

Meine These ist, dass man dies doch kann, weil der grundlegende Mechanismus dahinter der exakt gleiche ist. Wir sind im kleinen Krieg ja nicht deshalb gescheitert, weil wir uns an das Völkerrecht gehalten haben, oder weil wir uns nicht an das Völkerrecht gehalten haben (das übrigens immens viel mehr ermöglicht als der Westen es in seiner ritualisierten Kriegsführung tun will), sondern wir sind aus unserer Kriegsunfähigkeit gescheitert, an der Unfähigkeit die notwendige organisierte Gewalt richtig anzuwenden. Entsprechend kann man daraus sehr wohl ableiten, dass eine Armee die so agiert wie dies die Bundeswehr in Mali getan hat auch in jedem konventionellen Krieg zwischen Staaten vollständig scheitern wird und scheitern muss, weil ihr jedwede psychisch-sozialkulturelle Grundlage dafür fehlt richtig Krieg zu führen.

Und nein, dass heißt nicht sinnlos und regellos Gewalt nach Belieben anzuwenden, sondern die richtige Gewalt gezielt einzusetzen.


Allgemein:

Schlussendlich gibt es zwei theoretische Zustände des Krieges, auf welche hier alphall in seinem Dualismus hinweist: zum einen den vollständig regellosen Krieg - zum anderen einen Krieg in welchem die Regeln in einer optimalen Weise angewendet werden, also exakt nicht zu viel und nicht zu wenig. Sondern es gibt Regeln, aber diese verhindern in keinster Weise den Sieg. Beide Zustände werden praktisch im realen Krieg nicht erreicht. Man könnte mein Modell von drei Arten des Krieges daher nochmal vereinfacht darstellen, auf zwei Zustände beschränkt:

Vom Zustand der idealen Reguliertheit aus gibt es damit schlussendlich Unterregulierte Kriege (zwischen idealer Reguliertheit und totalem Krieg) und Überregulierte Kriege (zwischen idaler Reguliertheit und dem Nicht-Krieg). Der praktisch real erreichbare Zustand den man benötigt um wirklich Kriegsfähig zu sein ist eine gewisse Unterregulierung. Man muss also bewusst einen unterregulierten Krieg führen, jedoch immer mit der Zielsetzung die Spirale in Richtung des totalen Krieges einzubremsen.

Stattdessen führt der Westen inzwischen nur noch überregulierte Kriege und bremst die Spirale in Richtung der totalen Kriegsunfähigkeit nicht einmal mehr ein. Und exakt deshalb verlieren wir im Krieg. Und werden auch jeden weiteren ernsthaften zukünftigen Krieg verlieren.

Man müsste also sowohl die Kultur als auch die Gesellschaft wie auch das Militär selbst zu einer gewissen Unterregulierten Kriegsführung befähigen, damit wir mit den anderen Mächten auf Dauer mithalten können. Ansonsten wird unser aktuell noch rein durch die Technik gegebener militärischer Vorsprung alsbald schon nicht mehr ausreichen und wir werden schlicht und einfach auf Dauer alles verlieren. Ich halte dies aber in Westeuropa für praktisch nicht mehr möglich, zu einer solchen Art der Kriegsführung zurück zu finden.