Europäische Union
(23.02.2023, 21:37)Quintus Fabius schrieb: ...

Die Kommission beklagt in Polen, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz innerhalb des politischen Systems nicht mehr gewährleistet wären, aber die Hörigkeit deutscher Staatsanwaltschaften gegenüber dem Innenministerium ist kein Problem.......

Und das obwohl die exakt gleiche EU Kommission diesen Mangel im deutschen Justizwesen schon mehrfach schriftlich kritisiert hat. Und das obwohl deutsche Staatsanwaltschaften wegen dieser EU Recht entgegen stehenden Hörigkeit nicht einmal mehr dazu befugt sind europäische Haftbefehle zu erlassen.
...
das aktuelle Urteil des EuGH zu dem Thema habe ich ja schon unter Polen gepostet (nachdem die Diskussion über Rechtsstaatlichkeit im Kontext mit der Inneren Sicherheit zu ist) - und dass das Urteil auch für Ungarns Sonderwege relevant sein könnte, steht da auch.
Tatsächlich mein ein Rechtsprofessor: Polen-Urteil ist auch Signal an Deutschland - und ich meine, nicht nur für Deutschland. Das ist ein Signal für alle, die nur Rosinen picken wollen - also EU-Zuschüsse abgreifen und sonst Brüssel weit weg sein lassen.
Entweder, man ist im Club - oder man lässt es. Aber die freiwillig eingegangene Clubmitgliedschaft hat auch Verpflichtungen inkludiert.
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Whataboutismen und Vergleiche zu Deutschland haben hier nur geringen Erkenntniswert. Weisungsabhängige Staatsanwälte—deren schwerwiegende Eingriffe in die Bürgerrechte dem Vorbehalt unabhängiger Richter unterliegen—sind für die Rechtsstaatlichkeit jedenfalls ein geringeres Problem als de facto weisungsabhängige Verfassungsrichter.

Die polnische Justizreform führte zu nichts Geringerem als einer Möglichkeit für die jeweils amtierende Regierung, Disziplinarmaßnahmen gegen Verfassungsrichter zu ergreifen, die einer abweichenden Meinung verdächtig sind. Diejenigen Verfassungsrichter, die dagegen opponierten, wurden vorzeitig entlassen.

Wenn man schon länderübergreifende Vergleiche anstellen will, dann doch bitte zur richterlichen Unabhängigkeit in Deutschland nach Art. 97 GG, die derart weit reicht, dass in diesem unserem Lande ernsthaft höchstrichterlich geklärt werden musste, ob der deutsche Richter gezwungen werden kann, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen (!).
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(Gestern, 16:37)muck schrieb: Whataboutismen und Vergleiche zu Deutschland haben hier nur geringen Erkenntniswert. Weisungsabhängige Staatsanwälte—deren schwerwiegende Eingriffe in die Bürgerrechte dem Vorbehalt unabhängiger Richter unterliegen—sind für die Rechtsstaatlichkeit jedenfalls ein geringeres Problem als de facto weisungsabhängige Verfassungsrichter. ....
@Quintus Fabius:
der Hinweis auf die Staatsanwälte war von Dir, insofern ist die Antwort Dir vorbehalten.

Mein Part auf die Sonderrolle, die das Bundesverfassungsgericht da für Deutschland anfordert, ist beispielhaft mit dem Hinweis auf das kirchliche Sonderarbeitsrecht zu begründen.
Da beanspruchen die Kirchen die Ausnahme vom europarechtlichen Diskriminierungsverbot und besondere Loyalitätspflichten für Mitarbeitende - die mit dem Status von Klerikern oder "geweihten Amtspersonen" nichts zu tun haben.
Dabei ist diese "verfassungsrechtliche Sonderrolle der Kirchen als Staat im Staat" durchaus zu hinterfragen.
Denn sowohl die verfassungsrechtliche wie auch die konkordatsrechtliche Grundlage ist sehr viel enger interpretierbar, als das Bundesverfassungsgericht es tut.
Den Kirchen steht danach nur das Recht
- zur Selbstordnung und Selbstverwaltung (nicht Selbstbestimmung) zu, also so viel wie jedem Verein auch,
- das Recht besteht nur für die eigenen Angelegenheiten (nicht für fremde Angelegenheiten wie etwa den Daten der Patienten in den kirchlichen Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern oder der nicht kirchlichen Mitarbeitenden - trotzdem beanspruchen die Kirchen hier eine eigene Regelungsbefugnis)
- nur in den Schranken der für alle geltenden Gesetze (zu denen auch das Europarecht gehört) zu, und
- die Kirchen haben, zumindest nach den Staatskirchenverträgen, nur das Recht, für ihre Mitglieder eigene Regelungen zu schaffen - nicht aber für Mitarbeitende, die der eigenen Kirche gar nicht angehören.

Und wieso das auch noch für gewerbliche Betriebe in kirchlichen Eigentum gelten soll, kann mir niemand erklären. Wenn Prinz x aus Saudi-Arabien die Aktienmehrheit der Deutschen Bank oder von Rheinmetall kauft, kann er dort auch nicht die Scharia oder ein eigenes Datenschutzrecht einführen. Aber für die Kirchen ist das - mit Rückendeckung des Bundesverfassungsgerichtes - scheinbar alles möglich.

ein anderes Thema:
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@Kongo Erich

Deine Darstellung ist verengend, teils sachlich falsch, und ich sehe nicht, woran Deine Kritik anknüpfen könnte, um die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit hier in ein ähnliches Licht wie die polnische zu stellen. Insbesondere können sich die Kirchen nicht nur auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 II WRV berufen.

Zunächst: "Diskriminierung" im Sinne deutschen Verfassungs- und des Europarechts ist nicht jedwede Ungleichbehandlung, sondern nur die unzulässige Ungleichbehandlung aufgrund unsachlicher Kriterien. Eine Ungleichbehandlung kann prinzipiell durchaus gerechtfertigt sein.

Verfassungs- und arbeitsgerichtlich wurden dem kirchlichen "Sonderarbeitsrecht" durchaus Grenzen gesetzt, indem der kirchliche Anspruch auf religiöse Konformität auf einen Kernbereich zurückgedrängt wurde.

Dieser Kernbereich wird aber auch dann bestehen bleiben, wenn der Gesetzgeber die Bezüge zur Weimarer Reichsverfassung kappen sollte. Denn auch die organisierten Glaubensgemeinschaften genießen den Schutz aus Art. 4 I GG—woraus sich auch eine Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung ergeben kann.

Glaubensfreiheit bedeutet, sich frei von staatlicher Einflussnahme einen Glauben zu bilden und zu erhalten. Bekenntnisfreiheit umfasst das Recht, den Glauben zu offenbaren (oder zu verheimlichen), sowie die Freiheit, eigenes Verhalten an den verbindlichen Geboten seines Glaubens auszurichten.

Der Staat hat keine Handhabe, Glaubenssätze zu werten oder zu definieren, und kann es nicht grundsätzlich hindern, wenn sich die Kirchen darauf berufen, dass es gegen ihre Glaubenssätze verstoßen würde, bestimmte Personen zu beschäftigen. Er kann nur den Nachweis verlangen, dass und warum ein bestimmtes Verhalten schützenswert sein soll, und nur im Falle eines Konflikts mit den Grundrechten Dritter moderierend eingreifen—wobei es zur Abwägung kommen wird und muss, in welchem Grade die Grundrechte beider Seiten jeweils berührt werden.

Darum konnte er den Kirchen verbieten, von jeglichen Angestellten religiöse Konformität zu verlangen, musste ihnen aber zugestehen, sie jedenfalls von solchen Angestellten verlangen zu dürfen, die durch ihre Arbeit kirchliche Werte besonders verkörpern oder die Außenwirkung der Kirche schützen sollen.

Und dieses Recht erstreckt sich durchaus nicht nur auf die Kirchen! Beispielsweise kann auch der Trägerverein einer Moschee es ablehnen, als hauptamtlichen Geschäftsführer einen Nicht-Muslim, Atheisten oder "Sünder" einzustellen. (Bei einem Hausmeister sähe es anders aus.)

Woraus leitest Du ab, dass sich die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit mit dieser Rechtsprechung gegen europäisches Recht stellt?
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