Beiträge: 7.410
Themen: 14
Registriert seit: Apr 2007
"Demokratische Werte und Rechte" können und dürfen mit demokratischen Mehrheiten modifiziert werden, sogar zum deutlichen Nachteil des politischen Gegners. Stichwort Wahlrechtsreform in Deutschland.
Der Umstand andere Welt- und Wertevorstellungne zu haben rechtfertigt esnicht, den demokratischen Prozess durch Inszenierung eines Volksaufstandes mit Füßen zu treten. Es ist hier nach meiner Überzeugung vor allen Dingen die Opposition, die durch ihre Totalverweigerung ihrer Verantwortung gegenüber der Demokratie und dem Land nicht gerecht wird. Legitimer Protest gegen ein Reformvorhaben der politischen Mehrheit endet dort, wo der Staat in seinen Grundfesten angegriffen, in Frage gestellt und nach Befürchtung einer wachsender Zahl an Beobachtern bewusst zu Fall gebracht werden soll.
Ein wie auch immer geartetes subjektives Bewusstsein hinsichtlich der Verschiebung irgendwelcher Grenzen ist dabei Hysterie, wenn diese nebulöse Befürchtungen nicht mit fundierten juristischen Argumenten untermauern lassen. Und diese sehe ich - jedenfalls jenseits der Problematik der einfachen Mehrheit um Gerichtsbeschlüsse zu kippen - schlicht nicht.
Die Demokratien dieser Welt haben viele Ausprägungen, die Gewichtung und das Verhältnis der verschiedenen Verfassungsorgane ist oft grundverschieden. Tatsächlich nimmt Israel heute ob der Machtfülle der Judikative tatsächlich eher eine Ausnahmeposition ein, als es nach Verabschiedung der Reform der Fall wäre.
Bei Lichte betrachtet geht es darum auch überhaupt nicht. Der Säkularen, europäischen Linken geht die Düse, weil sie mit der Reform kaum eine Möglichkeit sehen, sich gegen die regliöse, mittelöstlichen Rechten im demokratischen Prozess zu behaupten. Abgesichts der demographischen Realitäten ist dieser Ansatz aber nicht unbedingt smart.
Beiträge: 8.634
Themen: 352
Registriert seit: Jul 2003
(26.03.2023, 14:54)Nightwatch schrieb: "Demokratische Werte und Rechte" können und dürfen mit demokratischen Mehrheiten modifiziert werden, sogar zum deutlichen Nachteil des politischen Gegners.
Es war nicht meine Aussage, dass das nicht möglich sei, sondern nur, dass diese Modifikationen nicht grenzenlos sein können, selbst wenn sie mehrheitlich legitimiert wären. Das ist ein entscheidender Unterschied, und augenscheinlich geht es zumindest einen nicht unerheblichen Teil der Demonstranten genau um die Frage dieser Grenzziehungen. Dass daraus politisch kapital gezogen werden soll, in dem der eigene politische Nachteil als Demokratiefeindlichkeit dargestellt wird, ist weder neu noch ungewöhnlich, ändert aber auch an ersterem nichts. Genauso wie im übrigen die Legitimation demokratischen Protestes nicht per se beim Angriff auf den Staat selbst enden kann, weil dadurch jede undemokratische staatliche Entwicklung basierend auf Mehrheitsentscheidungen legitimiert werden würde - was schon rein logisch nicht demokratisch sein kann. Auch wenn das hier aktuell keine Rolle spielt, so lässt sich das halt nicht derart verallgemeinern.
Ich versuche nur zu erklären, worum es zumindest einem Teil der Menschen geht und warum diese derart aufgebracht sind. Auch wenn du das nicht so siehst, ändert das an deren Perspektive nichts. Wie das dann objektiv betrachtet aussieht, auch nicht.
Beiträge: 7.410
Themen: 14
Registriert seit: Apr 2007
Die Modifikationen sind insoweit grenzenlos, dass sie in einem demokratischen / verfassungsrechtlichen Rahmen durch entsprechende Mehrheiten nach Belieben vorgenommen werden können.
Die Situation in Israel spezifisch wird sicherlich dadurch verkompliziert, dass der verfassungsrechtliche Rahmen mehr als dürftig augestaltet ist. Das kann aber auch nicht als Begründung taugen, die Modifikationen pauschal als undemokratisch zu brandmarken. Zumal eben auch ein eigentlich solider verfassungsrechtlicher Rahmen breiten Spielraum zu völlig willkürlichen undwie manch Kritiker mein undemokratischen Gesetzesänderungen eröffnen kann - siehe wie schon bemüht die jüngsten Wahlrechtsänderungen in Deutschland.
Die jetzt in Israel zur Debatte stehenden Justizreformen ändern die demokratischen Spielregeln. Von mir aus schwächen sie auch 'die Demokratie' dort ingesamt, weil sie die Gewichtung der einzelnen Verfassungsorgande deutlich in Richtung der Legislative verschieben. Damit muss man nicht einverstanden sein, aber derartige Modifikationen liegen allemal in einem allgemein anerkannten demokratischen Rahmen. Wie schon gesagt, Demokratien können sehr unterschiedlich aufgebaut sein und von Washington DC bis Neu-Dehli gibt es eine Unzahl verschiedener Systeme die alle demokratisch sind. Und dazu würde auch ein Israel mit diesen Reformen zählen.
Insofern würde ich in einem Punkt klar widersprechen: Wenn der demokratische Staat in seinen Grundfesten angegriffen wird endet die Legitimation des demokratischen Protests auch dann, wenn die Demokratie durch einen legitimen legislativen Prozess geschwächt wird. Und zwar solange die demokratische Verfasstheit dabei insgesamt erhalten bleibt.
Beiträge: 14.008
Themen: 228
Registriert seit: May 2006
Wenn Israel die Schweiz wäre und von zumindest ähnlichen Nachbarn umgeben wäre wie diese, so würde ich die genannten Fakten uneingeschränkt unterschreiben und den gesamten Diskurs einfach laufen lassen. Angesichts der Lage in Nahost aber und den bekannten Feindseligkeiten gewisser Mächte und Kreise gegenüber Israel kann man sich diese Detaildiskussionen indessen nur mehr sehr bedingt leisten.
Noch kann man sie sich leisten, zweifelsohne und zum Glück, aber sollte sich die Lage weiter verschärfen, so gilt es in allererster Linie die Funktionalität des Staates und der Streitkräfte zwecks der Verteidigungsbefähigung des Landes zu erhalten - egal ob das nun zu Ungunsten der Protestierenden oder der nationalreligiösen Kräfte in der Regierung (oder von beiden Seiten) geht. Hart gesagt...
Schneemann
Beiträge: 7.410
Themen: 14
Registriert seit: Apr 2007
Die Funktionsfähigkeit des Staates kann nicht dadurch verteidigt werden, das man vor denen kapituliert die die Funktionsfähigkeit des Staates in Frage stellen oder direkt angreifen.
Das gilt erst recht für die Streitkräfte. Wenn Soldaten den Dienst verweigern weil ihnen irgendein Reformvorhaben der rechtmäßigen Regierung nicht zusagt muss durchgegriffen und Befehlsverweigerung geahndet werden. In einen demokratischen Staat dürfen die Streitkräfte nicht zum Instrument politischer Auseinandersetzung werden.
Netanyahu fires defense minister Gallant for calling to pause judicial overhaul
https://www.timesofisrael.com/netanyahu-...-overhaul/
Beiträge: 3.270
Themen: 23
Registriert seit: Sep 2017
(26.03.2023, 21:53)Nightwatch schrieb: Die Funktionsfähigkeit des Staates kann nicht dadurch verteidigt werden, das man vor denen kapituliert die die Funktionsfähigkeit des Staates in Frage stellen oder direkt angreifen.
Das gilt erst recht für die Streitkräfte. Wenn Soldaten den Dienst verweigern weil ihnen irgendein Reformvorhaben der rechtmäßigen Regierung nicht zusagt muss durchgegriffen und Befehlsverweigerung geahndet werden. In einen demokratischen Staat dürfen die Streitkräfte nicht zum Instrument politischer Auseinandersetzung werden.
Netanyahu fires defense minister Gallant for calling to pause judicial overhaul
https://www.timesofisrael.com/netanyahu-...-overhaul/
Ich sehe es auch so dass sich die Regierung noch im demokratischen Rahmen bewegt. Da sehe ich das Wirken des Obersten Gerichtes wesentlich kritischer. Allerdings muss man bedenken dass das Militär in Israel einen außerordentlich gewichtigen Stand hat. Im Vergleich zu allen anderen westlichen Staaten dürfte das israelische Militär indirekt das höchste politische Gewicht haben. Nun gibt es in Israel die Wehrpflicht und man könnte meinen dass dadurch in etwa die ganze Gesellschaft in den Streitkräften abgebildet ist. Allerdings leisten im Regelfall Ultraorthodoxe, Muslime, Christen sowie Anhänger anderer religiöser Gruppen keinen Wehrdienst. Insofern werden somit mehr oder weniger gewichtige Gesellschaftsgruppen nicht im Militär abgebildet. Auch ist (für mich) unklar welche Ausrichtung im Generalstab vorherrschend ist. Würde sich dieser nun gegen die Regierung wenden halte ich es durchaus für möglich dass die Regierung das politisch nicht überleben wird. Möglicherweise sogar im Verbund mit anderen Sicherheitskräften.
Beiträge: 7.410
Themen: 14
Registriert seit: Apr 2007
lime schrieb:Auch ist (für mich) unklar welche Ausrichtung im Generalstab vorherrschend ist. Das höherrangige Offizierskorps bildet sich in deutlicher Mehrheit aus aschkenasische Juden und steht deutlich links der Mitte was auch die politischen Karrieren so ziemlich aller Ex-Generäle belegen. In der Luftwaffe ist das querschnittlich so (wohl hauptsächlich aufgrund des höheren Bildungsgrades), während die Kampftruppen und insbesondere die Infanterie dem deutlich rechten Spektrum zuneigen.
Zitat: Würde sich dieser nun gegen die Regierung wenden halte ich es durchaus für möglich dass die Regierung das politisch nicht überleben wird. Möglicherweise sogar im Verbund mit anderen Sicherheitskräften.
Das Sicherheitsestablishment im weiteren Sinne, in den Diensten ist die politische Ausrichtung noch deutlicher. Durchaus möglich, ja. Insofern war die Entlassung Gallants auch ein Fehler.
Beiträge: 14.008
Themen: 228
Registriert seit: May 2006
@Nightwatch
Zitat:Die Funktionsfähigkeit des Staates kann nicht dadurch verteidigt werden, das man vor denen kapituliert die die Funktionsfähigkeit des Staates in Frage stellen oder direkt angreifen.
Das gilt erst recht für die Streitkräfte. Wenn Soldaten den Dienst verweigern weil ihnen irgendein Reformvorhaben der rechtmäßigen Regierung nicht zusagt muss durchgegriffen und Befehlsverweigerung geahndet werden. In einen demokratischen Staat dürfen die Streitkräfte nicht zum Instrument politischer Auseinandersetzung werden.
Ja, sicherlich. Das mag meinerseits auch ein etwas überzeichnetes Beispiel gewesen sein. Gleichwohl aber sehe ich immer noch gewisse Risiken, was die Stabilität des Staates betrifft.
Und zugleich stellt sich die Frage, ob man nicht den Anfängen zu wehren hätte? Dieses jetzige Machtspiel im Regierungs- und Justizapparat - das teils aus persönlichen Nickeligkeiten heraus entstand - bewegt sich, bei aller kolportierter Legitimation, entlang eines schmalen und sehr gefährlichen Grates. Noch kann es abgefedert werden, aber wenn sich die Kräfte noch ein klein wenig mehr verschieben, kann das ganze System abkippen in die Richtung eines Zerfalles oder eines prototheokratischen Systems. Beides ist wenig erstrebenswert. Und sollte dieser Punkt erreicht werden, dann bleibt die Frage offen, ob die derzeitigen, z. T. praktizierten Befehlsverweigerungen (die derzeit noch korrekterweise als illegitim anzusehen sind) nicht ausufern in eine allgemeine Revolte des Militärs? Und Netanjahu hat die verdammte Verpflichtung, als Regierungschef kein Öl ins Feuer zu gießen, sondern den Staat zusammenzuhalten und jegliche Entwicklung, die in diese Richtung des inneren Zerfalles gehen könnte, zu unterbinden. Tut er dies nicht, wird er scheitern, und mit ihm im schlimmsten Fall das Land...
Aktuelles dazu - möglicherweise nimmt Netanjahu die Reformvorhaben zurück:
Zitat:Generalstreik in Israel angekündigt – Netanjahu plant Rede an Nation
Die Debatte um die Justizreform in Israel spitzt sich zu: Die Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf, in der Regierungskoalition ist ein Streit entbrannt. Eine ursprünglich für 9 Uhr angesetzte Ansprache von Ministerpräsident Netanjahu wurde verschoben. [...]
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will sich Medienberichten zufolge am Montag zur umstrittenen Justizreform äußern. Es wird erwartet, dass Netanjahu einen Stopp der umstrittenen Pläne seiner rechts-religiösen Regierung ankündigen könnte. Die genaue Uhrzeit war zunächst jedoch unklar. Die nach Medienberichten ursprünglich für 09.00 Uhr (MESZ) geplante Ansprache verzögerte sich am Vormittag. Hintergrund soll ein Streit innerhalb der Koalition sein. Demnach kündigten mehrere Minister an, zurücktreten zu wollen, sollte Netanjahu ein Stopp der Reform ankündigen. [...]
Bereits in der Nacht hatte sich Netanjahu mit mehreren Minister seiner Koalition beraten. Zuvor waren Zehntausende Menschen in Israel auf die Straßen geströmt, um gegen die von Netanjahu angeordnete Entlassung von Verteidigungsminister Joav Galant zu protestieren. Galant hatte zuvor die umstrittenen Pläne öffentlich kritisiert und die Regierung zum Dialog mit ihren Kritikern aufgerufen. [...]
Der Dachverband der Gewerkschaften in Israel rief zudem am Montag vor dem Hintergrund der massiven Proteste gegen die umstrittene Justizreform zu einem Generalstreik auf. Betroffen ist auch der internationale Flughafen Ben-Gurion bei Tel Aviv.
„Ich habe den sofortigen Startstopp am Flughafen angeordnet“, sagte der Leiter der Arbeitergewerkschaft am Flughafen Ben Gurion, Pinchas Idan. Es wird erwartet, das Zehntausende von den Flugänderungen betroffen sind. Der Dachverband namens Histadrut rief zu dem „historischen“ Arbeitsstreik auf, um „den Wahnsinn“ der umstrittenen Justizreform der Regierung zu stoppen. Der Streik werde beginnen, sollte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu keinen Stopp der Reformpläne ankündigen.
https://www.welt.de/politik/ausland/arti...Stopp.html
Schneemann
Beiträge: 7.410
Themen: 14
Registriert seit: Apr 2007
Schneemann schrieb:Und zugleich stellt sich die Frage, ob man nicht den Anfängen zu wehren hätte?
Das wäre auf jeden Fall ein legitimes Unterfangen. Nur: Wie hätte das auszusehen? Ich meine sicherlich nicht so wie das, was dort aktuell dort stattfindet. Das hat mit Opposition gegenüber einem demokratischen Prozess nichts mehr zu tun sondern sondern ist die Tyrannerei des Mobs.
Aufgestachelt übrigens mit reichlich finanziellen Mittel und organisatorischen Support aus den üblichen globalistischen Kreisen.
Da geht es nicht um irgendwelche Detailfragen im Reformprozess dem man sich als Opposition eh von Anfang an verweigert hat, sondern mittlerweile sehr offen darum, eine nicht genehme Regierung zu erpressen, indem man dem Land möglichst maximalen Schaden zufügt.
Dem kann man nachgeben, aber der Illusion damit noch irgendetwas zusammenzuhalten sollte man sich nicht hingeben, wenn man die Verantwortung für dieses Fiasko allein dem Regierungschef zuschieben möchte.
Nicht von irgendwelchen neuen Gesetzen die jederzeit wieder kassiert werden können und auch noch längst nicht am Obersten Gericht vorbeigekommen sind geht hier die große Gefahr aus, sondern von denen, die bereit sind den Staat gegen die Wand zu fahren weil ihnen ein Gesetzesvorschlag oder der Regierungschef nicht passt.
Beiträge: 7.410
Themen: 14
Registriert seit: Apr 2007
Und hier noch ein längerer und ganz guter Twitter-Thread zu den Hintergründen der Jusitzreform und den Entwicklungen im Land:
https://twitter.com/AviWoolf/status/1640308321327407104
Beiträge: 14.008
Themen: 228
Registriert seit: May 2006
@Nightwatch
Zitat:"Demokratische Werte und Rechte" können und dürfen mit demokratischen Mehrheiten modifiziert werden, sogar zum deutlichen Nachteil des politischen Gegners. [...]
Das hat mit Opposition gegenüber einem demokratischen Prozess nichts mehr zu tun sondern sondern ist die Tyrannerei des Mobs.
Die Frage, die sich hierbei stellt, ist die, ob das aus beiden Blickwinkeln gilt? Aktuell regiert Netanjahu mit seinem Rechtsblock bzw. mit den Ultrareligiösen zusammen. Und ja, sie hätten eine Mehrheit, auch eine demokratisch legitimierte. Allerdings habe ich etwas Schwierigkeiten damit, wenn man die Protestierenden etwas generalisierend unter Verdacht stellt, sie seien nur ein rasender Mob. Den gibt es auch, zweifelsfrei, aber wenn man sich Videos zu den Protesten anschaut, so sehe ich meistens hier keinen tobenden Mob, sondern Menschen aus allen Schichten, von alten Menschen bis zu jungen Familien, die ihre Besorgnis zum Ausdruck bringen, dass das Land in eine Art intolerante Halbtheokratie abkippen könnte.
Und wenn die aktuellen Meldungen stimmen, so könnte es sein, dass - wenn jetzt Wahlen wären - die aktuelle Regierung keine Mehrheit mehr hätte ( https://www.haaretz.com/israel-news/2023...67bf8d0000). Zwar sind jetzt keine Wahlen (noch nicht, mal abwarten, ob nicht bald eine Regierungskrise ansteht), aber die oben angeschnittene Frage wäre: Könnte ein Rechtsblock es auch umgekehrt verkraften, wenn es einen demokratisch legitimierten Versuch gibt, die Reformen wieder zu kippen? Rein theoretisch: Was, wenn Netanjahu seine Reform durchbringt, aber bei der nächsten Wahl ein Mitte-Links-Bündnis an die Regierung kommt, das die Reform dann demokratisch legitimiert wieder rückgängig macht? Würden die Rechten dann die Beine stillhalten und den demokratischen Prozess akzeptieren?
Und ich habe die Vermutung, dass die rechten Kräfte dann noch viel heftiger zum tobenden Mob werden würden, als die jetzigen Demonstranten. Denn ohne, dass es eine solche Konstellation gibt, und obwohl sie quasi noch an der Regierung sind, machen die Rechten schon jetzt ebenso mobil...
Zitat:Israel protests: Journalists, Arab taxi driver attacked by right-wingers
Journalists and politicians condemned the violence at the protest in Jerusalem on Monday. [...] Journalists from KAN and Channel 13, as well as an Arab taxi driver and anti-reform protesters, were assaulted by far-right protesters after a demonstration in support of the judicial reform in Jerusalem on Monday evening. [...] Additionally, during the protest on Monday, teenagers at the demonstration also threatened to "tear apart" a Jerusalem Post journalist who was taking footage of the protest.
https://www.jpost.com/breaking-news/article-735659
Diese Attacken auf Journalisten erinnern auch beinahe an die hiesigen Rechtsausleger. Kurzum: Ich habe meine Zweifel, ob die Akzeptanz demokratischer Mehrheitsfindungen von beiden Seiten verstanden wird.
Schneemann
Beiträge: 7.410
Themen: 14
Registriert seit: Apr 2007
Zitat: Allerdings habe ich etwas Schwierigkeiten damit, wenn man die Protestierenden etwas generalisierend unter Verdacht stellt, sie seien nur ein rasender Mob. Den gibt es auch, zweifelsfrei, aber wenn man sich Videos zu den Protesten anschaut, so sehe ich meistens hier keinen tobenden Mob, sondern Menschen aus allen Schichten, von alten Menschen bis zu jungen Familien, die ihre Besorgnis zum Ausdruck bringen, dass das Land in eine Art intolerante Halbtheokratie abkippen könnte.
Ich schrieb auch nichts von ‚rasend‘ oder ‚tobend‘.  Aber die Vokabel war schon bewusst gewählt. Es geht nicht darum, den Protestierenden anzudichten das die da irgendwie größer gewalttätig unterwegs wären, vielmehr werfe ich ihnen vor, die Spielregeln der Demokratie zu brechen, wenn sich die Straße über die Volksvertretung erhebt.
Alle Macht geht vom Volke aus – ja. Aber wie schon in unserem Grundgesetz festgehalten ist und für alle republikanisch verfassten Demokratien gilt – ausgeübt wird sie unmittelbar in Wahlen und Abstimmungen und mittelbar durch die dazu repräsentativ ermächtigten Verfassungsorgane. Es ist mit der mittelbaren Demokratie nicht vereinbar, dass das Volk die Staatsgewalt an sich reißt und direkt ausüben will. Das ist keine Demokratie, das ist dann Anarchie und Revolution.
Sprich, Protestierende, die versuchen den Regierenden ihren Willen durch ausufernde Protestaktionen mit möglichst maximalem Schaden aufzuzwingen verlassen den Boden der Demokratie. In meinen Augen waren daher etwa die Aufrufe zum Politischen Generalstreik wie es sie Sonntag Nacht gegeben ein klarer Bruch mit den demokratischen Spielregeln und zumindest nach deutschem Verständnis auch klar rechtswidrig. Protestierende dürfen ihren Unmut kundtun, auch lautstark und mit Vehemenz. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber wenn der Protest die Funktionsfähigkeit des Staates als solches oder seiner legitimen Repräsentanten angreift, verliert er seine Demokratische Legitimation und wird zum Mob.
In Israel hat die Straße die Legislative gezwungen eine Gesetzesreform abzubrechen – nicht, weil die fraglichen Politiker mit politischem Argument oder sei es auch nur aus Angst vor dem Verlust des eigenen Mandats überzeugt wurden, sondern weil der Mob sich anschickte die Wirtschaft lahmzulegen und den Sicherheitsinstitutionen durch kollektive Befehlsverweigerung schweren Schaden zuzufügen. Das geht nicht.
Oder wie es Macron die Tage im Bezug auf die Proteste in Frankreich völlig korrekt formuliert hat:
„La foule n'a pas de légitimité face au peuple qui s'exprime à travers ses élus.”
„Die Masse hat keine Legitimität gegenüber dem Volk, das sich durch seine gewählten Vertreter ausdrückt.“
Zitat: Und wenn die aktuellen Meldungen stimmen, so könnte es sein, dass - wenn jetzt Wahlen wären - die aktuelle Regierung keine Mehrheit mehr hätte.
Ein im politischen Diskurs mäßig interessantes Factoid aber ohne Relevanz. Es gehört zum Wesen einer repräsentativen Demokratie, dass Wahlen Macht auf Zeit verleihen und sich die Regierenden nicht mit jeder Maßnahme der Rückendeckung des Wahlvolkes versichern müssen.
Genausowenig ändert der Verdacht, dass es die andere Seite des politischen Spektrums nicht besser machen würde, wenn die Rollen vertauscht wären nichts an der nötigen Kritik an den jetzt stattfindenden Protesten.
Beiträge: 3.270
Themen: 23
Registriert seit: Sep 2017
(28.03.2023, 16:45)Nightwatch schrieb: In Israel hat die Straße die Legislative gezwungen eine Gesetzesreform abzubrechen – nicht, weil die fraglichen Politiker mit politischem Argument oder sei es auch nur aus Angst vor dem Verlust des eigenen Mandats überzeugt wurden, sondern weil der Mob sich anschickte die Wirtschaft lahmzulegen und den Sicherheitsinstitutionen durch kollektive Befehlsverweigerung schweren Schaden zuzufügen. Das geht nicht.
Oder wie es Macron die Tage im Bezug auf die Proteste in Frankreich völlig korrekt formuliert hat:
„La foule n'a pas de légitimité face au peuple qui s'exprime à travers ses élus.”
„Die Masse hat keine Legitimität gegenüber dem Volk, das sich durch seine gewählten Vertreter ausdrückt.“
Ein im politischen Diskurs mäßig interessantes Factoid aber ohne Relevanz. Es gehört zum Wesen einer repräsentativen Demokratie, dass Wahlen Macht auf Zeit verleihen und sich die Regierenden nicht mit jeder Maßnahme der Rückendeckung des Wahlvolkes versichern müssen.
Genausowenig ändert der Verdacht, dass es die andere Seite des politischen Spektrums nicht besser machen würde, wenn die Rollen vertauscht wären nichts an der nötigen Kritik an den jetzt stattfindenden Protesten.
Die Frage ist aber ob Parteien ihre Wähler vielleicht über ihre Absichten getäuscht haben. Nicht umsonst ist das Demonstrationsrecht ein verbrieftes Recht in jeder ernstzunehmenden Demokratie. Auf die isr. Regierungsparteien bezogen kann ich mir da kein Urteil erlauben, aber in Frankreich ist es schon mehrfach zur Wählertäuschung durch Macron bzw. seine Partei gekommen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist er von seinen Wählern nicht wissentlich zu dieser aktuellen Rentenreform ermächtigt worden. Meines Erachtens gehört er inzwischen auch zu den Politikern die die Bodenhaftung völlig verloren haben.
Beiträge: 7.410
Themen: 14
Registriert seit: Apr 2007
(28.03.2023, 19:25)lime schrieb: Die Frage ist aber ob Parteien ihre Wähler vielleicht über ihre Absichten getäuscht haben. Die Notwendigkeit einer Justizreform wurde in Israel seit vielen Jahren diskutiert und vor diesem Versuch jetzt gab es einen breiten Konsenz bis in die Mitte hinein, dass etwas gemacht werden muss und auch wird.
Überraschend ist insofern nicht der Reformversuch der Rechtsgerichten Parteien jetzt sondern der maximale Wiederstand der Opposition. Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass wenigstens Yesh Atid und National Unity auf die Regierungsvorschläge eingehen und auf Änderungen drängen. Gideon Sa'ar, der zweite Mann bei National Unity ist eigentlich ein Likudnik, galt mal als designierter Nachfolger Netanyahus und war lange Zeit eigentlich die treibende Kraft hinter den Plänen für eine Justizreform schlechthin.
Offen gestanden erschließt sich mir nicht vollständig, wie der legislative Prozess derart eskalieren konnte, selbst wenn man animmt, dass man hier vor ganz weit Rechts Maximalpositionen durchdrücken wollte, koste es was es wolle. Man sollte eigentlich meinen, das man da wenigstens informell aufeinander zugeht bevor alles maximal hochkocht. Womöglich ist mit den fünf Wahlen seit 2019 zuviel zu Bruch gegangen, womöglich spielte das Verbot das Netanyahu sich am Prozess beteiligt eine größere Rolle, womöglich haben die legislativ unerfahrenen Partei von ganz Rechts gemeint es ginge mit der Brechstange, womöglich wurde aus dem politischen Ausland massiv auf die Opposition eingewirkt, womöglich eine Kombination aus allem... mir fehlt der Blick hinter die Kulissen für ein entgültiges Urteil.
Beiträge: 14.008
Themen: 228
Registriert seit: May 2006
@Nightwatch
Zitat:Ich schrieb auch nichts von ‚rasend‘ oder ‚tobend‘.
Stimmt, habe eben nochmals nachgeschaut. Das muss mir im Flow reingerutscht sein.
Abgesehen davon:
Netanjahu hat das ganze Vorhaben erst einmal auf Eis gelegt bzw. pausiert. Sicherlich mag er dies auch gemacht haben, da der Gegenwind erheblich war, aber - und das rechne ich ihm durchaus an - vermutlich hat er diesen Schritt auch unternommen, um es zu vermeiden, dass das Land noch weiter auseinanderfasert und um gesellschaftliche Flurschäden einzugrenzen. Und er hat es auch unter eigenem Risiko gemacht, da ihm seine Koalition um die Ohren fliegen könnte. Ich muss dazu sagen, dass ich wieder einmal von ihm positiv überrascht wurde...
Zitat:Verfassungskrise, verschoben
Dass Benjamin Netanjahu die Justizreform stoppt, ist ein historischer Erfolg für die Demonstranten. Die tiefe Krise der israelischen Gesellschaft bleibt aber ungelöst. [...]
Am Montagabend um 20 Uhr Ortszeit meldete sich Benjamin Netanjahu endlich selbst zu Wort. "Ich habe entschieden, die zweite und dritte Lesung in dieser Sitzungsperiode auszusetzen", sagte Netanjahu in seiner Fernsehansprache und erklärte, die umstrittene Justizreform zu "pausieren". Er sei weiter zu der von Beobachtern als Umwälzung der Justiz kritisierten Reform entschlossen, wolle aber einen breiten Konsens suchen. "Wenn es eine Chance gibt, einen Bürgerkrieg durch Dialog zu vermeiden, nehme ich als Ministerpräsident eine Auszeit zugunsten des Dialogs." [...]
Die entscheidenden Gesetzesänderungen zur Entmachtung des Obersten Gerichts wurden vorerst gestoppt – und das nur Stunden und Tage, ehe die Koalition aus rechten, rechtsreligiösen und ultraorthodoxen Parteien die Reform durch die Knesset, Israels Parlament, bringen wollte.
Schon in der Nacht zum Montag sind im ganzen Land Tausende spontan auf die Straßen gegangenen, nachdem Netanjahu am Sonntagabend erklärt hatte, mit Verteidigungsminister und Parteikollegen Yoav Galant den schärften Kritiker an der Reform aus den eigenen Reihen zu feuern. Der Rauswurf von Galant legte einen Schalter um. Setzte eine Energie frei, die selbst Netanjahu überwältigt haben muss. Nun war er wirklich zu weit gegangen. In Tel Aviv brannten Barrikaden. In Jerusalem durchbrachen Protestierende die Absperrungen vor Netanjahus Regierungsresidenz. Am Morgen erklärte die größte Gewerkschaft Israels den Generalstreik. Erstmals seit der britischen Mandatszeit stellte Israels internationaler Flughafen Ben Gurion den Betrieb aus Protest komplett ein. Parallel dazu kündigte Netanjahu eine Stellungnahme an. Erst sickerte aus internen Quellen Netanjahus Likud-Partei durch, man habe sich auf eine Pause geeinigt. [...]
Zeitgleich warnte Israels Inlandsgeheimdienst vor Gewalt gegen die Gegner der Reform: Rechte Hooligans und gewaltbereite Anhänger Netanjahus planten sich zu bewaffnen, hieß es. Die nationale Zuggesellschaft veröffentlichte eine Meldung und empfahl den Demonstrierenden, besser nicht an jener Bahnstation in Tel Aviv auszusteigen, in deren Nähe die rechten Unterstützer der Reform eine Kundgebung für den Abend angemeldet hatten.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2023...gle.com%2F
Schneemann
|