Energiesicherheit in Frankreich
#45
Atomkraft: Nach 12 Jahren Verzögerung wird EDF den EPR in Flamanville endlich in Betrieb nehmen.
La tribune (französisch)
Die Bauarbeiten am leistungsstärksten Reaktor der Welt werden abgeschlossen, mit zwölf Jahren Verspätung gegenüber dem geplanten Termin und einer beträchtlichen finanziellen Fehlentwicklung.
Juliette Raynal
29. Apr 2024, 6:00

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Das Kraftwerk Flamanville 3 (Credits: SARAH MEYSSONNIER).

TIC-TAC, TIC-TAC ... Nach siebzehn langen und schmerzhaften Jahren auf der Baustelle auf der Halbinsel Cotentin ist EDF endlich bereit, den ersten französischen EPR-Reaktor in Betrieb zu nehmen. Die Teams warten nur noch auf das grüne Licht der Atomaufsichtsbehörde, deren Untersuchung nach Abschluss einer letzten öffentlichen Anhörung kurz vor dem Abschluss steht. Es ist nur noch eine Frage von Tagen oder Wochen, höchstens.

Hinter den Kulissen ist der Besuch des französischen Staatspräsidenten für Mitte Mai geplant. Logischerweise wird Emmanuel Macron in Begleitung von Wirtschaftsminister Bruno Le Maire und dem stellvertretenden Energieminister Roland Lescure den Standort Flamanville (Ärmelkanal) besuchen, um die Brennelemente in den Reaktordruckbehälter zu laden, den ersten Akt der lang erwarteten Inbetriebnahme des Reaktors. Vor Ort werden alle den Atem anhalten. Der Startschuss ist ein echter Test für die französische Atomindustrie, die sich nach einer schwierigen Bauphase wieder auf den Weg machen muss, um die zivile Atomkraft wieder in Gang zu bringen, einschließlich des Baus von sechs oder sogar vierzehn neuen Reaktoren.
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Der EPR, der Kreuzweg der französischen Atomindustrie

Der leistungsstärkste Reaktor der Welt

Auf dem Papier sollte der mit 1.600 Megawatt weltweit leistungsstärkste Reaktor in der Normandie bereits 2012, also nur fünf Jahre nach dem ersten Spatenstich, die ersten Elektronen produzieren. "Das war sehr optimistisch, da die vorherigen nuklearen Baustellen für den Bau der Reaktoren Chooz und Civaux etwa zehn Jahre gedauert hatten", betont Michaël Mangeon, ein Experte für die Geschichte der Kernenergie. Doch diese extrem ehrgeizige Marketingstrategie schlug schnell in ein Fiasko um.

Die gerade erst begonnenen Arbeiten wurden im Mai 2008 aufgrund von Mängeln an der Betonplatte, die verstärkt werden musste, gestoppt. Es folgten Verzögerungen, weil wichtige Ausrüstungsgegenstände nicht verfügbar waren. Dann wurden Anomalien im Stahl des Reaktordruckbehälters, einer entscheidenden Komponente des Reaktors, von der Atomaufsichtsbehörde aufgedeckt. Danach erfüllte der Deckel des Reaktordruckbehälters nicht die Sicherheitsanforderungen. Der Fluch setzt sich fort, als zahlreiche defekte Schweißnähte entdeckt werden. Die Nacharbeiten werden sich immer weiter hinziehen.

Die Rechnung explodiert

Die Baustelle ist durch diese wiederholten Schlampereien belastet, so dass sich schließlich ein Rückstand von zwölf Jahren anhäuft. Die Kosten explodierten. Laut EDF beläuft sie sich mittlerweile auf 13,2 Milliarden Euro, was dem Vierfachen der ursprünglich veranschlagten 3,3 Milliarden Euro entspricht. Selbst die Rechnung für die pharaonische Baustelle des Ärmelkanaltunnels ist nicht so stark gestiegen.

Diese zahlreichen Debakel wurden weitgehend auf das "Verlernen" des Nuklearsektors zurückgeführt, nachdem es zehn Jahre lang keine Bauprojekte gegeben hatte, im Gegensatz zu einem sehr hohen Tempo mit bis zu 30 Baustellen gleichzeitig während der Präsidentschaft von Valéry Giscard d'Estaing.

Selbst bei sehr einfachen Bauwerken hatte man die Kompetenzen völlig verloren", erinnert sich ein ehemaliger hochrangiger EDF-Manager. Es war eine Katastrophe."

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Pierre Gadonneix, der damals an der Spitze des Staatsunternehmens stand, das Projekt dieses Kraftwerks nicht wegen des Strombedarfs (Frankreich hatte damals Überkapazitäten), sondern aus Angst vor einem Verlust der Kompetenzen in Angriff nahm. Er hatte zwar damit gerechnet, dass der Zeitplan und das Budget aus dem Ruder laufen würden, "aber nicht in diesem Ausmaß".

Zitat:Lesen Sie unser Dossier: Die Rache der Atomkraft

Komplexe Gestaltung

Die aufgetretenen Schwierigkeiten sind auch das Ergebnis einer äußerst komplexen Konzeption, die auf die doppelten Sicherheitsanforderungen zurückzuführen ist, die von den zuständigen Behörden beiderseits des Rheins auferlegt wurden. Denn der EPR (für European pressurized reactor) ist das Ergebnis einer 1989 erfolgten Annäherung zwischen der französischen Framatome (später Areva) und der deutschen Siemens, die von François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl zu Beginn der Europäischen Union vorangetrieben wurde. Man darf nicht vergessen, dass der EPR in Flamanville ein Reaktor nach Tschernobyl [Atomunfall in der Ukraine am 26. April 1986] ist", erläutert Michaël Mangeon. Die Konstruktionsarbeiten begannen in den frühen 1990er Jahren. Zu dieser Zeit macht die Atomkraft Angst, in Frankreich und noch mehr in Deutschland, wo es eine große Vertrauenskrise gibt. Man will also einen neuen Reaktor, der vor dem Hintergrund eines schwachen Atommarktes sehr sicher ist."

"Man hat ein Monster mit doppelt so viel Beton und viermal so viel Stahl wie die Reaktoren der vorherigen Generation entworfen", urteilt ein ehemaliges Mitglied des Exekutivkomitees von EDF seinerseits. Man hat Vorkehrungen getroffen, die das Ganze fast unbebaubar gemacht haben".

Trotzdem werden in China und Finnland weitere EPR-Baustellen erfolgreich abgeschlossen, ebenfalls mit mehreren Jahren Verspätung. Die Fertigstellung dieser Arbeiten bedeutet jedoch nicht das Ende der Schwierigkeiten. Der chinesische EPR Taishan 1 beispielsweise wird erstmals 2021 wegen einer erhöhten Konzentration von Edelgasen und dann 2023 wegen Korrosion abgeschaltet.

Der erste EPR und der letzte in Frankreich.

In Flamanville steht zwar die Beladung mit Kernbrennstoffen unmittelbar bevor, doch wird es noch mehrere Monate dauern, bis der Reaktor tatsächlich an das normannische Netz angeschlossen wird. Diese für den Sommer 2024 geplante Kopplung wird erst dann erfolgen, wenn der Reaktor nach einem schrittweisen Anstieg in Stufen ein Viertel seiner vollen Leistung erreicht hat. Die maximale Produktionsstufe hingegen wird nicht vor Ende des Jahres erwartet.

Eines ist sicher: Der EPR in Flamanville wird der erste, aber auch der letzte EPR sein, der auf dem Boden der Tricolore gebaut wird. Die von Emmanuel Macron gewünschten zukünftigen Reaktoren werden EPR 2 sein, mit einem verbesserten Design. "Sie werden Teil der großen EPR-Familie sein, aber sie werden keine Zwillinge des EPR in Flamanville sein. Sie werden eher Cousins sein", sagt Gabriel Oblin, Leiter des EPR2-Projekts bei EDF, der Mann, der die schwere Aufgabe hat, dieses meisterhafte industrielle Fiasko nicht zu wiederholen. ■

Eine endlose Saga in zehn Daten

1992 - NPI wird gegründet, das Gemeinschaftsunternehmen zwischen der französischen Framatome (später Areva) und der deutschen Siemens, das das Projekt eines europäischen Druckwasserreaktors, des EPR, vorantreibt.

2004 - Jean-Pierre Raffarin, der damalige Premierminister, genehmigt den Bau eines EPR in Frankreich, nachdem Lionel Jospin dies 1999 abgelehnt hatte.

2007- Beginn der Bauarbeiten in Flamanville (Ärmelkanal). Die Kosten werden auf 3,3 Milliarden Euro geschätzt und die Fertigstellung ist für 2012 geplant.

2008 - Erste Probleme mit der Betonplatte. Die Kosten werden auf 4 Milliarden Euro neu veranschlagt. Einige Monate später zieht sich die deutsche Siemens aus dem Joint Venture zurück.

2011 - Die Inbetriebnahme wird nach zwei tödlichen Unfällen auf der Baustelle und verschiedenen Unwägbarkeiten auf 2016 verschoben. EDF muss auch die Sicherheitsvorkehrungen nach Fukushima integrieren. Die Kosten werden auf 6 Milliarden Euro neu veranschlagt.

2015 - Die Atomaufsicht warnt vor einer schwerwiegenden Anomalie des Reaktordruckbehälters. Das Ende der Bauarbeiten wird nun für 2018 erwartet.

2018 - EDF schluckt die Kernreaktorsparte von Areva. Der Stromversorger muss 53 Schweißnähte übernehmen. Das Ende der Bauarbeiten ist für 2020 geplant, die Kosten werden auf 11 Milliarden Euro neu bewertet.

2019 - Erneute Kostenüberschreitung um 1,5 Mrd. EUR aufgrund der an den Schweißnähten durchzuführenden Arbeiten. Die Inbetriebnahme wird auf 2023 verschoben.

2022 - Inbetriebnahme auf das erste Quartal 2024 verschoben. Der Energieversorger schätzt die Gesamtkosten auf 13,2 Milliarden Euro.

2024 - Inbetriebnahme des EPR wird für Mai erwartet.

Juliette Raynal
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