Kontrafaktische Geschichte: Westfeldzug 1940
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Der Vergleich reiner Stückzahlen ergibt ohne einen größeren Kontext meines Erachtens wenig Sinn, und so trügt das Bild gerade beim Westfeldzug in beide Richtungen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Armée de l'Air. Deren Transformation hin zu einer neuen Typengeneration lief beim Ausbruch des Krieges gerade erst an und lag damit über zwei Jahre hinter der Luftwaffe und anderthalb Jahre hinter der RAF zurück. Das Gros der Jagdflugzeuge und Bomber war entsprechend veraltet, technisch moderne Muster gab es nur in geringer Stückzahl, von der D.520 standen am 10. Mai nur 29 Maschinen zur Verfügung, die Hauptmacht bildeten die insgesamt fast 300 Curtiss Hawk.

Dabei war der Generationenunterschied und die damit einhergehenden reinen Leistungsnachteile tatsächlich sogar zweitranging, stärkeren Einfluss hatten die technischen Unzulänglichkeiten, insbesondere was die Führungs- und Organisationsfähigkeiten anging (bspw. die Funkausstattung). Der operative Einsatzwert lag bei der Armée de l'Air quantitätsbereinigt bei einem Drittel der deutschen Luftwaffe, und während die RAF zumindest hinsichtlich der technischen Ausstattung auf dem gleichen Niveau lag und die operative Einsatzführung stark an die deutsche angepasst wurde, konnte Frankreich diese Mängel bis zur Kapitulation nicht korrigieren.

Erschwerend kam hinzu, dass dies nicht nur ein militärisches, sondern auch ein politisches und industrielles Problem war. Trotz der sich erkennbar verschärfenden Weltlage fehlte eine klare Organisation der Rüstungsbemühungen, die getrieben von Industrieinteressen, politischen Einflussnahmen bis hin zu Sabotageaktionen und Vetternwirtschaft zu einer Vielzahl an ähnlichen, in der Regel aber unausgereiften Flugzeugprojekten mit einer viel zu starken Fokussierung auf eine möglichst rasche Indienststellung führte, ohne die (größtenteils behebbaren) technischen Mängel auszumerzen und ohne eine entsprechende logistische Basis aufzubauen. Man schaue sich beispielsweise an, wie viele MS.406 nominell in Dienst standen und wie viele tatsächlich einsatzbereit waren.

Gerade der große Unterschied zwischen den tatsächlich eingesetzten Maschinen relativ zur viel größeren Zahl an produzierten Maschinen wird gern als Resultat der Ausrichtung auf einen langen Krieg und damit große Reserven begründet, was unmittelbar durchaus richtig ist, mittelbar aber den Eindruck erzeugt, dass man diese Flugzeuge einfach an die Front hätte werfen können. Faktisch war das aber unmöglich, weder erlaubte der technische Zustand so etwas, noch die personelle Basis. Denn während die französischen Piloten durchaus sehr gut ausgebildet waren, erfolgte diese Ausbildung und die Personalheranführung viel zu langsam. Die tatsächlich einsatzfähigen, im Hinterland liegenden Einheiten (die es durchaus gab, wenn auch in deutlich geringerer Quantität als üblicherweise kolportiert) dienten primär der Luftverteidigung der Industrieanlagen, die im Laufe des Westfeldzugs ja auch zum Ziel deutscher Angriffe wurden.

Ähnlich wie bei den russischen Luftstreitkräften 2022 vermittelt eine Betrachtung der Quantität ein völlig falsches Bild von den französischen Luftstreitkräften 1940. Allerdings stellt sich die Frage, in wie weit das für eine solche kontrafaktische Betrachtung relevant ist? Sowohl der Kriegszustand als auch der enge Austausch mit der RAF führten sowohl auf militärischer wie auch auf politischer Seite zu einem deutlichen Umdenken und einer Fokussierung auf die Beseitigung der zuvor genannten Umstände, die zwar im Zeitraum bis zur Kapitulation nicht beseitigt werden konnten, die aber in einem viel weiter gefassten Verlauf durchaus zu lösen gewesen wären. Aus dieser Perspektive wäre die Armée de l'Air eine völlig andere gewesen, gilt das aber auch, wenn es den deutschen Angriff nicht gegeben hätte?

Das ist nämlich der andere Punkt. Die RAF war bis Mitte der 30er Jahre auf eine Konfrontation mit Frankreich ausgerichtet worden, entsprechend erfolgte auch die Ausrüstung mit leichten und mittleren Kampfflugzeugen sowohl in der Jagd- als auch in der strategischen Bomberrolle. Mit der Refokussierung auf Deutschland begann erst die Entwicklung von Langstreckenflugzeugen, die von britischen Flugplätzen aus Ziele auch in Ost- und vor allem Süddeutschland treffen konnten. Dieser Umstand führte zur Vereinbarung der Verlegung britischer Kräfte nach Nordfrankreich im Falle eines Krieges, was dann ja ab Ende 1939 auch passierte. Gleichzeitig war man aber zu keinem Zeitpunkt bereit, die Abwehrfähigkeiten der britischen Insel zu kannibalisieren. Es wurden keine Spitfires aufs Festland verlegt, und es wurden bestimmte Verfügbarkeitsmindestgrenzen für die Sicherung der Inseln gesetzt (die zwar nach dem deutschen Angriff reduziert wurden, aber trotzdem grundsätzlich bestehen blieben).

Tatsächlich war der Großteil der bis zum deutschen Angriff nach Nordfrankreich verlegten Maschinen Unterstützungsflugzeuge (primär Aufklärung) für die britische Armee, sowie deren Jagdschutz. Die tatsächlichen Offensivkräfte (in Form der "Advanced Air Striking Force") lagen bei lediglich zehn Staffeln veralteter leichter bzw. mittlerer Bomber, und deren Jagdschutz durch zwei Jagdstaffeln mit Hurricanes. Verstärkt wurden diese Einheiten erst nach dem deutschen Angriff, und wie dargestellt auch das in Anbetracht der tatsächlich verfügbaren Maschinen eher halbherzig.

Genauso wie im Falle Frankreichs spielte aber die Zeit auch für Großbritannien, die entsprechenden Aufrüstungsprogramme waren bereits aufgelegt, die Entwicklung Schritt sehr zielstrebig voran. Es ist also völlig legitim zu behaupten, dass ein Ausbleiben des deutschen Angriffs die Alliierte Position zunehmend verstärkt hätte.

Das ignoriert aber völlig eine entsprechende Ausrichtung und Anpassung von deutscher Seite. Zunächst war man ja gar nicht von einem Kriegseintritt Großbritanniens und Frankreichs ausgegangen, insbesondere die Luftrüstung sah also weit weniger einen strategischen Angriffs- oder Abwehrkrieg gegen diese beiden Länder vor, als vielmehr einen vor allem taktisch geführten Krieg gegen die Sowjetunion. Das deutsche Vorgehen an der Westfront war, neben der Notwendigkeit komplett neue Angriffspläne zu erstellen, auch von der tatsächlichen Ausrüstung geprägt. Zurecht wurde angemerkt, dass es auch bei einer kontrafaktischen Betrachtung wenig Sinn ergibt sich von grundsätzlichen Doktrinen zu lösen, das aber wiederum bedeutet, dass Deutschland bei einem Ausblieben der Angriffspläne eine neue Abwehrstrategie im Rahmen der grundsätzlichen Einsatzdoktrin hätte finden müssen. Genauso wie schließlich die Produktion beispielsweise an Jagdflugzeugen im späteren Kriegsverlauf gesteigert wurde (unter schwierigeren Umständen), wäre es nur folgerichtig anzunehmen, dass man sie auch früher bereits zur Abwehr strategischer Angriffe gesteigert hätte, während gleichzeitig eigene Angriff gegen grenznahe Einsatzplätze geflogen worden wären, so wie dies ja auch tatsächlich passierte. Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass das grundsätzliche Kräfteverhältnis in der Luft von sich aus, also als Folge der Planungen der jeweiligen Luftstreitkräfte, gekippt wäre.

Das wiederum führt zu meiner Schlussfolgerung, dass die Situation am Boden hätte entschieden werden müssen, bevor irgendeine Entscheidung in der Luft erfolgt wäre, die defensiven deutschen Fähigkeiten aber zumindest kurzfristig (im hier genannten Zeitraum) stärker fortentwickelt werden könnten als die offensiven Fähigkeiten insbesondere zur Unterstützung eigener Truppen der Gegenseite. In wie weit dies dann eine Alliierte Offensive am Boden ver- oder behindert hätte kann ich nicht beurteilen. Die entscheidenden Punkte wären meines Erachtens weiterhin die Entwicklung im Osten (Deutscher Angriff ja/nein?) sowie das Verhalten Japans und der USA, insbesondere das Interesse letzterer an Europa ohne konkrete Angriffsdrohung auf Frankreich und Großbritannien, ohne weitere deutsche Expansion nach Westen, dafür aber mit einem pazifischen Krieg vor der Brust.

Gerade mit den eigenen innerpolitischen Sorgen um sozialistische Strömungen in Frankreich (insbesondere dort) und in Großbritannien sehe ich durchaus Potenzial, dass es ohne den deutschen Angriff im Westen zunächst eine abwartende Haltung gegeben hätte, die sich durch einen deutsch-russischen Krieg (egal wer ihn begonnen hätte) noch verstärkt hätte, auch um zu sehen, in wie weit sich diese beiden Systeme gegenseitig schwächen (und wie man das möglichst verlängern kann). Aber das führt dann im Zuge dieser klaren Fragestellung vermutlich auch zu weit.
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RE: Kontrafaktische Geschichte: Westfeldzug 1940 - von Helios - 23.04.2022, 11:52

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