Es wird noch mehr Tote geben, weil es bereits Tote gegeben hat.
#1
Es wird noch mehr Tote geben, weil es bereits Tote gegeben hat.
La voie de l'épée (französisch)
Publié par Michel Goya à 30/3/2022
Wenn man seinen Sohn im Krieg verloren hat oder jeden Tag sieht, wie er verstümmelt oder in sich zusammengesackt ist, fragt man sich als Erstes, ob es wenigstens etwas gebracht hat. Wenn die Antwort negativ ausfällt, kommt unweigerlich Wut auf.

Umgekehrt kann man sich aber auch noch fester als zuvor an die Rechtfertigungen klammern, die von der Regierung angeboten wurden, weil es sonst zu hart wäre. Wenn diejenigen, die wütend sind, lauter sind, sind diejenigen, die lieber noch mehr an der vorgeschlagenen Vision festhalten und ihre Wut auf die Feinde der Nation übertragen wollen, in der Regel in der Überzahl. Letztlich ist es im Wesentlichen das Gleiche wie bei allen Opfern, die einer Gesellschaft durch den Krieg auferlegt werden.

Wenn man, wie kürzlich Anne-Claire Legendre, die Sprecherin des Außenministeriums(FR), davon spricht, die Kosten des Krieges für Russland "so hoch wie möglich zu halten", um Wladimir Putin zum Aufgeben zu bewegen, sollten wir aufpassen, dass wir nicht das Gegenteil bewirken und im Gegenteil vor allem eine Verhärtung des russischen Widerstands zumindest in der ersten Zeit hervorrufen, denn mit der Zeit wird Wladimir Putin unweigerlich eine konkrete Bilanz vorlegen müssen, die er denjenigen, die Opfer akzeptiert haben, vorlegen kann.

Und genau hier dehnt sich die Zeit aus. Nach der anfänglichen Phase der Unterstützung kommen die Zweifel, wenn die Ergebnisse ausbleiben. Dann tritt das Prinzip der "versunkenen Kosten" ein, das uns zwingt, etwas zu tun, das uns missfällt, weil wir bereits dafür bezahlt haben. In einem Krieg äußert sich dies in einem "Sie dürfen nicht umsonst gestorben sein", das erzwingt, dass wir weiterhin Tote haben und den Gürtel enger schnallen müssen, auch wenn wir anfangen, uns Fragen zu stellen. Wenn eine Bilanz erreicht wird, die den Opfern gerecht wird, kann es dabei bleiben, vorausgesetzt, der Gegner ist in der gleichen Stimmung.

Wenn dies nicht der Fall ist und der Gegner verhindert, dass diese berühmte Bilanz, die den Opfern gerecht wird, erreicht wird, und zwar umso mehr, je höher die Opfer werden, dann besteht die Gefahr einer Umkehrung. Wenn die vorherrschende Meinung die ist, dass die Opfer tatsächlich vergeblich waren und dass man niemals eine zornige Bilanz erreichen wird, tendiert die Wut der Menschen dazu, die Oberhand über ihr Bedürfnis nach Rechtfertigung zu gewinnen, und es wird immer schwieriger, den Krieg fortzusetzen.

Die Armee kann sich auflösen, wie die russische Armee 1917, oder an einer schweren Depression leiden, wie die US-Armee in Vietnam nach 1968, und die Hintermänner können Rechenschaft ablegen und zumindest lautstark die Beendigung des Krieges fordern. Man beachte, dass sich beide Gegner in derselben Situation starker innerer Anspannung befinden können, wie die Nationen des Ersten Weltkriegs, und dann geht es darum, an der Front wie im Hinterland "eine Viertelstunde länger" als der andere durchzuhalten.

Um auf die Ukraine zurückzukommen und die Hypothese der Enthauptung desjenigen, mit dem man Frieden schließen kann, auszuschließen, ist die Situation nun ein Nullsummenspiel. Damit es zu einer Einigung kommt, muss der Aggressor und a priori der Stärkere der Ansicht sein, dass er eine akzeptable Bilanz erreicht hat, und voraussehen, dass es sehr schwierig sein wird, etwas Besseres zu bekommen, während das Leiden zunimmt.

Umgekehrt muss Volodymyr Zelensky der Meinung sein, dass er eine noch akzeptable Bilanz beibehalten hat und antizipiert, dass es unmöglich sein wird, diese zu halten. Es ist keineswegs sicher, dass all diese oft subjektiven Bedingungen noch erfüllt sind, aber solange sie nicht erfüllt sind, werden Menschen fallen und Familien weinen.
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#2
Zitat:Die Armee kann sich auflösen, wie die russische Armee 1917, oder an einer schweren Depression leiden, wie die US-Armee in Vietnam nach 1968, und die Hintermänner können Rechenschaft ablegen und zumindest lautstark die Beendigung des Krieges fordern. Man beachte, dass sich beide Gegner in derselben Situation starker innerer Anspannung befinden können, wie die Nationen des Ersten Weltkriegs, und dann geht es darum, an der Front wie im Hinterland "eine Viertelstunde länger" als der andere durchzuhalten.
In gewisser Weise zutreffend, aber in gewisser Weise auch wieder nicht. Man muss bedenken, dass der Krieg in der Ukraine gerade einmal fünf Wochen alt ist. Bis es zu den ersten gesellschaftlichen Erosionserscheinungen bei den in den Ersten Weltkrieg verwickelten Nationen kam, gingen zwei Jahre ins Land, obgleich die Verluste um ein Vielfaches höher waren. Ab 1916 erodierte die Moral bei Engländern (so arg, dass Lloyd George dem auf dem Kontinent stehenden General Haig keine Verstärkungen mehr senden wollte) und Deutschen (Ablösung Falkenhayns durch Hindenburg/Ludendorff), ab 1917 bei Franzosen (Ablösung Nivelles durch Pétain nach offenen Meutereien) und Italienern (Sturz es überaus arroganten und zugleich unfähigen Cadornas nach dem Caporetto-Desaster). Und in Russland rumorte es schon viel länger, die "Explosion" 1917 war nur das Finale...

Dabei muss man aber berücksichtigen, dass das Narrativ, dass wir heutzutage ja "kriegsentwöhnter" wären und damals das Führen eines Krieges gesellschaftlich "akzeptierter" gewesen wäre, nicht immer angewendet werden kann.

Die Sorgen vor einem Krieg, ja das Warnen vor den Folgen, war auch schon vor über 100 Jahren durchaus stark verbreitet. Und auch damals schon gab es heftige Flügelkämpfe zwischen Konservativen und Linken. Nur waren die Medien noch nicht so massiv ausgeprägt wie bei uns derzeit. Aber wenn man sich zeitgenössische Berichte etwas genauer anschaut, so wird ersichtlich, dass in den Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts die Sorgen vor einem Krieg immer groß waren. (Das einzige was viele nicht wussten - übrigens gilt das auch für die Militärs auf allen Seiten - bzw. abschätzen konnten, war die Wirkung der damals modernen Waffen [Maschinengewehre, Artillerie], gegen die man anfangs mit den Taktiken des frühen 19. Jahrhunderts zu bestehen versuchte, mit bekannten, verheerenden Folgen.)

Bspw. haben kürzlich in Berlin weit über 100.000 Menschen gegen den Ukraine-Krieg demonstriert, auch gegen die Nachrüstung mit Pershing II in den 1980ern gingen hunderttausende in Deutschland auf die Straßen. Aber wer weiß z. B., dass 1911, mitten in der Kaiserzeit und im Rahmen der sog. zweiten Marokko-Krise, im kaiserlichen Berlin geschätzt rund 200.000 Menschen gegen einen drohenden Krieg und die deutsche Kanonenbootpolitik ("Panthersprung nach Agadir") demonstriert haben? Das ist leider relativ unbekannt, obgleich Wilhelm II. nicht amüsiert gewesen sein soll...

Insofern: Die Sorgen vor einem Krieg waren in Gesellschaften damals wie heute sehr stark verbreitet, nur ist von "damals" weniger bekannt geblieben. Was allerdings der Fall sein dürfte, um wieder den Bogen zu obigem Satz zu schlagen, ist, dass Gesellschaften heutzutage bedingt durch die mediale Vernetzung schneller, sensibler und geschockter auf Todesopfer-Zahlen reagieren, auch wenn diese um ein Vielfaches niedriger liegen als noch bspw. im Ersten Weltkrieg. Aber das muss auch nicht schlecht sein...

Schneemann
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