Nationbuilding und die Alternativen
#8
Broensen:

Weshalb ich ja ausdrücklich - theoretisch - schrieb. Und dies als Antwort auf deine These, dass es gar nicht geht, völlig unmöglich ist, und niemals funktionieren kann. Immerhin wäre das meiner Einschätzung nach noch eher machbar als deine Idee den ganzen Indo-Iranischen Raum umzugestalten. Ich hoffe aber belegt zu haben, dass Nation Building auch innerhalb deiner verengten Definition durchaus praktisch real machbar wäre, wenn man nur die dafür notwendigen Handlungen durchführen könnte.

Zitat:Wie würdest du die Konsequenzen einer Eingliederung Afghanistans nach Pakistan bewerten? Oder einer entsprechenden Besatzung. Das ist schon ein indoiranisch-islamischer Vielvölkerstaat mit einem großen paschtunischen Bevölkerungsanteil, der auch bei einer Vereinigung nicht die Punjabi-Mehrheit gefährden würde.
Kritisch sind natürlich die Interessen Indiens und des Irans, das ist logisch. Aber rein mit Blick auf die innere Stabilität?

Die ganze Sache dort (Haltung Pakistans zu den Talian, zu Afghanistan im allgemeinen und umgekehrt) ist schizoid um es mal vorsichtig auszudrücken. Die Taliban wie auch eine Mehrheit der Afghanen hassen in Wahrheit Pakistan. Ebenso wird Pakistan von vielen Paschtunen in diesem Land selbst strikt abgelehnt. Wenn Afghanistan nun von Pakistan geschluckt würde, dann würde dass sofort einen Guerillakrieg gegen die Pakistanis bedeuten und es würde das Paschtunenproblem für Pakistan unbeherrschbar machen. Die pakistanische Armee wäre damit überfordert und würde ihre Mittel überdehnen. Innere Stabilität in Afghanistan wäre dadurch nicht herstellbar und zugleich würde sich die innere Stabilität Pakistans vermindern.

Was viele nicht verstehen ist, dass die Taliban keineswegs internationalistische Islamisten sind wie Daesh, sondern dass sie zuvorderst auch afghanische Nationalisten sind.

Zitat:Z.B. mal angenommen, die Taliban rennen jetzt zu Fuß (weil kein Sprit) wie die Lemminge gegen den Iran an. (Weil Schia und so.) Wen schert's? Weit werden sie so nicht kommen.

Der moderne Krieg wird nicht auf diese Weise geführt - da rennt man nicht an, da sickert man ein und wuchert wie ein Krebsgeschwür mit Metastasen. Sieh dir mal die Situation der Belutschen im Iran an und wie das Dreieck: Iran - Belutschen - Afghanistan mit dem Drogenhandel und der Sicherheitslage interagiert.

Zitat:Ich weiß nicht, ob das so ein gutes Beispiel ist. Das ist ein befriedeter Staat. Aber eine "Nation" sieht doch anders aus. Aber da sind wir wieder bei Definition und Zielvorstellung.

Eine Nation in deinem Sinne und innerhalb deiner Definition kann nur über längere Zeiträume aus so einem Gebilde heraus organisch wachsen. Deswegen fängt man ja auch zunehmend an zwischen Nation Buildung und State Building zu unterscheiden und sieht letztgenanntes als Vorbedingung für erstgenanntes. Dessen ungeachtet: in sehr vielen Ländern der Welt gibt es keine Nation im Sinne deiner Definition. Die Nation ist dort die eigene Bevölkerungsgruppe, die anderen Bevölkerungsgruppen in dem Staat gehören nicht dazu. Das hattest du ja selbst schon angerissen. Wenn ich mich recht entsinne ist deine Schlußfolgerung daraus, entsprechend mehr Staaten entlang der Bevölkerungsgruppen zu schaffen und damit die "kolonialen" Grenzen aufzuheben.

In Wahrheit aber wäre das eine Katastrophe: sehr viele der dann neu entstandenen Nationen wären nicht ansatzweise überlebensfähig. Es würden sofort unzählige Kriege zwischen diesen neuen Nationen ausbrechen, es käme zu mehr Völkermord und mehr ethnischen Säuberungen und alles würde sich destabilisieren. Zudem haben viele Nationen gar kein Interesse daran dass andere Ethnien zu eigenen Staaten kommen, ganz im Gegenteil werden die alles dafür tun dass dies nicht geschieht.

Nehmen wir einmal Nord-Mali als Beispiel: dort wollen die Tuareg und einige andere Gruppen einen Staat Azawad und rein ethnisch, kulturell, auch von der Geographie und Geschichte her ist Mali ein Konstrukt in dem zwei Landesteile zu einem Staat zusammen geflanscht wurden, die absolut nicht zueinander passen. Dessen ungeachtet will niemand dort einen Tuareg-Staat von den Anrainern und würde dieser extrem destabilisierend auf die Sicherheitslage in allen Nachbarländern wirken. Weshalb man einen Tuaregstaat dort mit allen Mitteln verhindern will und verhindern wird. Oder nimm die Kurden und ihr Bestreben nach einem eigenen Staat und wie dies sofort weitere Mächte aufruft das zu verhindern.

Du überschätzt meiner Einschätzung nach einerseits die Möglichkeiten des Westens hier drastisch und unterschätzt noch extremer die Fernwirkungen einer solchen Neuziehung von Grenzen. Das erzeugt nicht mehr Frieden, sondern mehr Krieg. Es hat oft schon Gründe warum man die Grenzen genau so gezogen hat und bestimmte Ethnien dadurch bevorteiligt wurden. Dadurch haben diese ein hohes rationales Interesse daran ihre Vorteile zu erhalten, welche ihnen verloren gingen wenn die anderen benachteiligten Ethnien eigene Staaten hätten. Du tauschst also interne Instabilität in zwischenstaatliche Kriege um. Nur dass diese dann noch größere Instabilität über ihr unmittelbares Umfeld hinaus erzeugen würden.

Ganz allgemein gibt es für viele Weltgegenden überhaupt gar keine Lösung. Die Menschen dort sind dazu verdammt noch für lange Zeit in permanenter Instabilität und Gewalt vor sich hin zu vegetieren ohne dass sich die Situation vor Ort überhaupt irgendwie verbessern lässt. In vielen Fällen wird man einfach nur zusehen können wie sie sich alle gegenseitig immer weiter umbringen. Es ist aber auch gar nicht unsere Verantwortung und es ist eben diese sich auf die ganze Welt erstreckende aktuelle deutsche Hybris welche ich so entschieden ablehne. Der Größenwahn der Gutmenschen in dieser Bundesrepublik kennt aktuell keine Grenzen mehr, die Selbstüberschätzung in Bezug auf diese Problemstellung ist unfassbar. Die realen Möglichkeiten in diesem Bereich sind aber in sehr vielen Fällen wesentlich geringer als es die naiven Narren hierzulande glauben.
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RE: Nationbuilding und die Alternativen - von Quintus Fabius - 12.09.2021, 09:14

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