Nationbuilding und die Alternativen
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Broensen:

So zeigt sich schon wo die Unterschied sind und wo es hakt. Ich habe beispielsweise einen weiteren Begriff von Nation Buildung als du und glaube an die theoretische Machbarkeit selbst innerhalb der verengten Definition welche du verwendest.

Zitat:Ich persönlich benutze den Begriff "Nationbuilding" für den vor allem seitens westlicher Regierungen und Organisationen durchgeführten Versuch, einen Nationalstaat nach westlichem Vorbild innerhalb vorhandener Landesgrenzen außerhalb des europäisch-westlich geprägten Kulturraumes im Zusammenhang mit militärischer Präsenz durchzusetzen. Im Prinzip ist es ein Sammelbegriff für alle Bemühungen, die auf dieses Ziel eines solchen Nationalstaates hinwirken, der mMn allerdings eine unerreichbare Utopie darstellt.

Und das wäre (theoretisch) auch innerhalb dieser Definition machbar wenn:

1 Wir die Macht dort direkt selbst ausüben. Es kann nicht funktionieren wenn man einheimischen Eliten das überlässt.

2 Das setzt voraus dass wir eine ausreichende militärische Macht und den Willen dazu haben um dort direkt zu herrschen.

3 Es muss de facto dann unter unserer direkten Herrschaft eine ganze Generation neu heranwachsen, so ein Einsatz ist in unter 20 Jahren nicht machbar.

4 Es muss gar nicht so viel Geld dafür eingesetzt werden, aber es muss sehr viel mehr Blut dafür eingesetzt werden. Geld - Zeit und Blut sind in dieser Rechnung austauschbare Werte. Es darf hier auch keinerlei moralische Einschränkungen geben - was aber nicht im Umkehrschluss bedeutet, dass man nach Belieben Gewalt anwendet, sondern dass alles allein dem Gebot der Notwendigkeit unterliegen darf und nichts anderem.

5 Dazu bedarf es eines de facto rechtsfreien Raumes für diejenigen welche diese Maßnahmen durchführen müssen.

6 Man kann Kulturen von oben her beeinflussen, also gezielt verändern. Das geht in der heutigen Zeit des Internet und der Smartphones noch viel leichter, also muss ein solcher sozialkultureller Einfluss von oben hergestellt werden.

7 Dann muss die Schulbildung durch uns durchgeführt werden.

8 In vormodernen, tribalistischen etc Strukturen müssen diese zerschlagen werden und eine Modernisierung der Gesellschaft durch uns von oben her erfolgen. Das bedeutet, dass wir die traditionellen Eliten wie die traditionellen Machtstrukturen zwingend zum Feind haben werden. Also müssen diese ausgeschaltet werden, statt sie zur Grundlage unserer Präsenz dort zu machen.

9 Wir müssen neue Eliten aus der nächsten Generation aufbauen, dies kann in dem Land selbst nicht geschehen, also müssen diese hierher zu uns geholt und dort vollständig ausgebildet und hochgezogen werden.

10 Es müssen vollständig neue und komplett andere einheimische Sicherheitsstrukturen errichtet werden welche je nach den Umständen des Einzelfalles ganz verschiedene Formen annehmen müssen.

Zitat:Für das Beispiel Afghanistan laufen deine Ausführungen bzgl. des strategischen Luftkriegs ja genau darauf hinaus.

Es gibt in vielen Fällen nur die Wahl zwischen Cholera und dem Schwarzen Tod. Man müsste genau genommen Afghanistan deshalb zerstören damit Pakistan nicht zerstört wird. Ein Taliban Staat, welcher ein Paschtunen-Staat ist, wird auf Dauer meiner Überzeugung nach für Pakistan eine Katastrophe sein. Und ja, dass führt zu neuen anderen Problemen und insbesondere zu weiteren Flüchtlingswellen. Es gibt hier im Endeffekt keine gute Lösung mehr.

In meiner Theorie gilt es daher, dafür zu sorgen, dass andere Motive und Notwendigkeiten diesen Expansionsdrang in Grenzen halten. Wenn, nur als kleines Beispiel, ein Regime aufgrund von effektiv geschlossenen Grenzen keinerlei Chancen auf Kraftstoffimporte hat, außer von einem bestimmten Nachbar-Regime, dann dürfte es ihm schwer fallen, dieses aus reinem Expansionsdrang zu bekämpfen.

Deine Theorie setzt voraus, dass die Beteiligten logisch und rational handeln. Die wahren Gründe für den Expansionsdrang sind aber in Wahrheit oft ideeler Natur, sie sind weder logisch noch rational. Meine Theorie inkludiert also diese Irrationalität, welche meiner Ansicht nach vorherrschend ist. Man kann heute mit Gebietseroberungen usw eigentlich keine Vorteile mehr gewinnen welche die Kosten rechtfertigen würden. Oder anders ausgedrückt: Krieg führen ist heute im Endeffekt ineffizient und unwirtschaftlich geworden. Der Expansionsdrang läuft daher jeder Logik zu wieder welche auf der rationalen Vorteilserwägung / Nachteilvermeidung basiert.

Zitat:Welche Lösung wird langfristig betrachtet in der Summe das geringste Leid verursachen.

Die in welcher Pakistan nicht auseinander fällt.

Zitat:Und da unterscheiden sich einfach unsere Einschätzungen. Ich halte beides nicht für langfristig stabil zu haltende Staaten. Ich gehe davon aus, dass diese in ihrer jetzigen Form das Jahrhundert nicht überstehen werden. Dementsprechend sollte sich eine nachhaltige diesbezügliche Politik nicht an diese Staatsgebilde klammern, sondern Alternativen dazu im Blick behalten.

Auch der Iran wird durch einen Taliban-Staat destabilisiert, dass stimmt schon. Man sehe sich dazu die Lage bei den Belutschen an, was der Sieg der Taliban für die Belutschen bedeutet und man sehe sich den Drogenhandel im Iran an etc. Das Jahrhundert aber ist eine nicht händelbare Größe, die Fernwirkungen jedweder Handlungen sind einfach zu unkalkulierbar als das man so rechnen könnte oder so rechnen dürfte. Wenn man hier das Jahrhundert als Maßstab nimmt wird es auch keine Bundesrepublik mehr geben und da stehen wir vor komplett anderen Problemen. Erst mal die nächsten zwei Dekaden überleben, und die Probleme angehen die vor der Haustür liegen. Es gibt keine Alternative zu einem stabilen Iran und einem stabilen Pakistan.

Dafür muss man erstens dem Iran ermöglichen Luft zu holen und aufhören ihn niederzumachen und ansonsten sich darauf konzentrieren dass sich Pakistan halten kann und dafür muss der Taliban Staat als Staat vernichtet werden.

Zitat:Nationalstaaten sind ja nichts falsches, im Gegenteil. Man kann sie halt nur nicht von außen erzwingen.

Da Nationalstaaten wie Nationalismus etwas künstliches sind, muss ich dir hier widersprechen. Man kann so etwas durchaus von außen erzwingen und dass ist auch mehrfach schon geschichtlich geschehen. Viele Völker die heute in Afrika sich gegenseitig morden sind künstlich von den Kolonialmächten geschaffen worden, und damit meine ich keine afrikanischen Staaten, sondern Stämme innerhalb dieser die sich heute als Völker selbst so verstehen, und die nicht einmal mehr wissen dass sie künstlichen Ursprungs sind.

Zitat:Im Prinzip markiert der Arabische Frühling das endgültige Scheitern der "ersten Welle" des Nationbuildings, in der starke Diktatoren mit ausländischer Unterstützung versucht haben, von oben nach unten "Nationen" aus ihren geografischen Herrschaftsbereichen zu formen.

Da die Endergebnisse uneinheitlich waren würde ich das nicht als endgültiges Scheitern betrachten.

Zitat:Kennst du welche?

Nimm mal Bosnien als besonders lehrreiches Beispiel. Insbesondere da wir dort immer noch die Regierung wesentlich mitbestimmen, durch die Position des Hohen Repräsentanten, welches seit neuestem der CSU Politiker Schmidt inne hat. Diese Position ist immer noch zwingend notwendig, obwohl der Bosnienkrieg nun schon etliche Dekaden her ist.
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RE: Nationbuilding und die Alternativen - von Quintus Fabius - 10.09.2021, 11:01

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