Krieg im 21. Jahrhundert
#96
Hab die Beiträge jetzt mal hierhin verschoben. Es gab ja mal einen Strang über Bunkeranlagen,

https://www.forum-sicherheitspolitik.org...keranlagen

aber die Diskussion ist meiner Meinung nach ganzheitlicher und dreht sich ja nicht nur um Bunker und insbesondere nicht über den tschechoslowakischen Wall.

Werter Nightwatch:

Zitat:Bei zugespitzte Aussagen lassen sich in der näheren Betrachtung immer erhebliche Unschärfen feststellen.

Zweifelsohne, und daher im Vorab meinen Dank für die Ausführlichkeit, mit der du deine Aussagen nun detailliert hast!

Zitat:Schließlich markierte eben der Durchbruch dieser Linie im Herbst 1918 als Abschluss der Hundert-Tage-Offensive die Rückkehr des Bewegungskrieges und das Ende des Primats der Defensive.

Zitat:Linien als strategisches Element der Kriegsführung .......wurden bereits in diesem Krieg durch eine Evolution der Landkriegsführung überwunden. Und daran hat sich seitdem nichts geändert.

Zunächst müsste ich hinterfragen, was genau du mit einer strategischen Linie meinst ?! Klassischerweise waren dies natürliche Hindernisse über erhebliche Strecken (Gebirge, Flüsse etc) und nun könnte man natürlich auch argumentieren, dass ausgedehnte Befestigungen (beispielsweise die Maginot Linie) analog eine solche strategische Linie darstellen.

Nur: ob es strategische Linien gibt oder nicht, ist zunächst mal völlig unabhängig von der Frage ob es ein Primat der Defensive gibt oder nicht. Und zu keinem Zeitpunkt, nicht einmal auf dem Höhepunkt der Überlegenheit der Defensive vor der Offensive, galten Linien als nicht überwindbar. Sie waren immer schon überwindbar, denn ihr Wert ergab und ergibt sich nicht daraus, dass man sie nicht überwinden (oder umgehen) kann, sondern aus ganz anderen gründen. Sie entstanden zudem weder durch die Evolution in der Kriegsführung, noch wurden sie durch diese entwertet. Der Wert einer strategischen Linie (im weiteren Sinne) liegt eben nicht darin, dass sie gehalten werden kann. Sondern darin, dass sie auf der eigenen Seite Truppen frei setzt, oder dass sie die Kampfkraft der Truppen entlang der Linie erhöht. Das ist ihr eigentlicher Zweck und Sinn, dazu unten noch mehr.

Spezifisch auf die Gegenwart müsste man zudem fragen, ob das Primat der Defensive nicht zurück gekehrt ist, da Angreifer heute erhebliche Nachteile zu vergegenwertigen haben. Das allein ist schon eine sehr umfangreiche Diskussion, deshalb verschob ich die Beiträge auch hierher, da sie ja weit über die Frage bloßer Befestigungen hinaus gehen.

Meiner Ansicht nach hat sich in diesem Kontext durchaus etwas seit dem Ende des 1WK geändert, und gibt es heute beispielsweise erneut ein Primat der Defensive - und dass strategische Linien heute nicht mehr in diesem Maße wie im 1WK gehalten werden können liegt nicht daran, dass man dies nicht rein theoretisch durchaus immer noch könnte, oder genauer gesagt: wieder könnte, sondern das resultiert aus einem ganzen Faktorenbündel heraus, in welchem die evolutionäre Weiterentwicklung der Kriegsführung nur einer ist.

Gerade in dieser Frage würde ich mich nicht so festlegen wollen und ich verneine zudem, dass es hier Axiome gibt. Es wäre beispielsweise gegenüber Russland (als einem praktischen Beispiel) sowohl möglich Linien zu etablieren (entsprechende Konzepte vorausgesetzt) welche gehalten werden können, als auch ganze andere Formen der Kriegsführung diesbezüglich anzuwenden.

Zitat:Es geht mir dabei weniger um irgendwelche lokalen befestigten Punkte mit taktischer oder bestenfalls operativ-taktischer Relevanz als um ausgedehnte Befestigungssysteme die gedacht sind, den Feind in seinen operativ-strategischen Bewegungen zu stören bzw. zu stoppen oder aufzuhalten.

Kein Befestigungssystem konnte jemals einen Feind in seiner operativ-strategischen Bewegung nachhaltig stoppen. Aber wie schon angerissen ist dass nicht das Ziel, nicht der eigentliche Zweck eines solchen ausgedehnten Befestigungssystems. Und Effekte auf der taktischen Ebene oder der operativ/taktischen Ebene wirken auch auf die strategische Ebene hinein. Und ebenso hat eine strategische Linie (ich verwende mal im weiteren den Begriff einer strategischen Befestigung) auch dann eine strategische Wirkung, wenn sie den Feind in seiner Bewegung nicht stoppt. Selbst wenn er diese gar nicht angeht, sondern deshalb gerade eben andere Räume aufsucht, so ist das ein strategischer Effekt von erheblicher Bedeutung. Lenkt man doch so den Feind und nimmt Einfluss auf sein Handeln und macht zugleich Truppen frei, welche man andernortens gegen ihn einsetzen kann.

Zitat:Die (mythischen) Befestigungsanlagen der Ukrainer gegenüber Donezk sind nur von lokaler Relevanz und in ihrer Effektivität allein dem Umstand geschuldet, dass Russland keine Versuche startet diese Befestigungen zu umgehen oder mit ausreichenden Kräften zu zerschlagen und stattdessen die schlecht ausgerüsteten und schlecht motivierten Verbündeten stupide dagegen anrennen lässt.

https://tass.com/world/809845

https://www.globalsecurity.org/military/...-fence.htm

https://9gag.com/gag/a71nEAw

http://www.indiandefencereview.com/news/...ussia-war/

Natürlich könnte Russland diese Anlagen umgehen, aber das haben sie eben nicht getan, sondern stattdessen den Vorstoß in Richtung Kiew gemacht. Und sie haben anfangs gerade eben die Befestigungs- und Grabenanlagen der Ukrainer gegenüber Donezk nicht frontal bestürmt und auch heute versuchen sie es eher an deren Flanken bzw. dort wo diese auslaufen, nur dass inzwischen die Kräfte zu schwach geworden sind, um diese Grabensysteme der Ukrainer auch nur von der Seite her aufrollen zu können.

Zitat:Weiter gefasst waren auch diese Befestigungsanlagen aber keineswegs geeignet den operativ-strategischen Prozess der Gegenseite zu beherrschen. Die Erwartungshaltung der Ukrainer (‚wir halten gegen den Russen im Donbas‘) konnten sie mitnichten erfüllen, die Russen suchten sich schlicht andere, schlechter verteidigte Räume und trugen von dort aus den Krieg über den Dnjepr und bis vor Kiev.

Wir wissen natürlich jetzt nicht, was für eine Rolle diese Befestigungen bei den strategischen Plänen der Russen hatten (wenn es denn überhaupt irgendwelche sinnvollen strategischen Pläne gab), aber hier und heute ermöglichen diese Systeme es den Ukrainern gegenüber Donezk mit vergleichsweise wenigen Truppen zu halten, während diese dort zugleich russische Truppen binden und man hat eine sichere Stellung von der aus man später auch in andere Richtungen operieren könnte. Der strategische Wert der Stellungssysteme gegenüber von Donezk ist daher erheblich und resultiert gerade eben daraus, dass die Russen diese nicht einnehmen konnten und nicht einnehmen können.

Die Gründe dafür sind unerheblich. Ob die Russen rein theoretisch diese Stellungssysteme hätten umgehen, von der Seite und von hinten aufrollen und zerschlagen können, ist völlig irrelevant für den strategischen Wert dieser Stellungssysteme. Fakt ist, dass es nicht dazu gekommen ist, aus welchen Gründen auch immer, und damit diese Stellungen einen erheblichen strategischen Wert erlangten.

Was alles hätte sein können, ist eine davon völlig losgelöst Frage. Beispielsweise hätten die Russen mit nur einem Schwerpunkt alle ihre Truppen konzentriert über Charkiw in Richtung Dnipro und dann von dort an den Fluss angelehnt in Richtung Saporischja - Melitopol - Küste angreifen können. Damit wäre die ukrainische Armee welche in mit ihren besten Einheiten und größten Anteilen zu diesem Zeitpunkt östlich davon stand in der Ostukraine eingekesselt worden, womit entsprechend die Stellungssysteme gegenüber Donzek nur zu einer Falle für diese Verbände geworden wären. Aber so ist es eben nicht gelaufen.

Zitat:Das grundlegende Problem des zweiten Libanonkrieges war, dass Israel mit falschen Vorstellungen ohne operativen Plan für einen militärischen Sieg in diesen Konflikt gestolpert ist

So wie Russland auch. Aber dessen völlig ungeachtet, wäre die Hisbollah ohne die von ihr angelegten Befestigungsanlagen weitgehend vernichtet worden. Das Ungleichgewicht zwischen den Israelis und der Hisbollah war extrem und trotzdem gelang es der israelischen Armee nicht, hier einen wirklich entscheidenden Sieg zu erringen. Nun kann man argumentieren, dass ein solcher ja noch gekommen wäre, wenn der Konflikt immer weiter gegangen wäre, aber so ist es eben nicht gelaufen.

Die Befestigungsanlagen der Hisbollah, die von ihr errichtete strategische "Linie" ermöglichten es ihr nicht nur diesen Krieg in ausreichender Stärke zu überleben, sie ermöglichten es ihr auch durch die Folgen dieses Krieges im Libanon erheblich an Macht und Bedeutung zu gewinnen und schlußendlich gestärkt aus diesem Kampf hervor zu gehen. Die strategische Bedeutung dieser Befestigungen reichte daher über die bloße militärisch-strategische Bedeutung hinaus.

Zitat:Unbestritten, natürlich stärkten diverse Befestigungen die Kampfkraft der Hisbollah auf taktischer Ebene. Das ist jetzt keine bahnbrechende Erkenntnis.

Alles im Krieg ist in Wahrheit einfach. Eine Stärkung der Kampfkraft auf der taktischen Ebene kann aber auf der strategischen Ebene Effekte erzeugen. Beide Bereiche daher so klar voneinander zu trennen wie du es hier meiner Ansicht nach propagierst halte ich für verfälschend. Damit es überhaupt eine strategische Wirkung geben kann, muss eine Befestigung zunächst mal auch taktisch funktionieren. Entsprechend haben die aktuellen russischen "Befestigungs"anlagen allein schon daraus keinerlei strategischen Wert.

Zitat:Inwieweit das verbissene Halten im Donbass die richtige Entscheidung gewesen ist kann man separat diskutieren. Wahrscheinlich war es das, aber auch nur weil die ukrainische Armee noch nicht zu einer beweglicheren Kriegsführung in der Lage war/ist.

Eine bewegliche Kriegsführung gegen einen Feind der eine extrem überlegene Artillerie besitzt und der hochgradig mechanisiert ist, macht keinen Sinn, weil sie einfach zu risikoreich ist. Die Russen waren anfangs sehr viel kampfstärker als die Ukrainer und ihre Einheiten viel stärker mechanisiert. Entsprechend war die Entscheidung in Stellungssystemen zu halten, leichte Infanterie infiltrierend einzusetzen und auch sich überrollen zu lassen richtig.

Und da komme ich zu einem meiner Meinung nach wesentlichen Punkt: man darf sich eine strategische Linie nicht zu steif als eine Linie von geringer Tiefe vorstellen. In der heutigen modernen Kriegsführung ist eine Verteidigungs-Linie ohne Reserven dahinter, ohne ausreichende Tiefe und ohne eine Staffelung der Verteidigung in die Tiefe hinein wertlos. Und das war sie schon früher. Auch im 1WK hatte man eben keineswegs nur einen Graben und dahinter nichts weiter, sondern recht schnell kam man auf eine gestaffelte, sich nach hinten erst verdichtende Verteidigung, und schon immer waren hochbewegliche und massive Reserven notwendig, um eine Verteidigung entlang einer Linie möglich zu machen.

Heute könnte man ein Primat der Defensive postulieren, und entsprechende Netzartige Strukturen als Verteidigungslinien etablieren. Man müsste dann vielleicht eher von Verteidigungsräumen sprechen, als dezidierten Linien, aber wie gerade eben schon geschrieben waren selbst die "Linien" des 1WK ganz genau so eher Räume. Lediglich die Frage wie tief diese gestaltet werden und wie Netzartig die Verteidigungssstrukturen sind welche diese Räume einnehmen ist heute aufgrund der anderen Umstände eine andere.

Wie so eine Verteidigung durch ein Netz aus Befestigungen und im Jagdkampf agierender leichter Infanterie aussehen könnte, beispielsweise im Baltikum, zeigten die Bücher: "Defensive Verteidigung" und "Die Praxis der defensiven Verteidigung" von Afheldt et al bereits vor Dekaden auf. Die Schlussfolgerungen dieses Autors wären für eine solche Strategie meiner Ansicht nach immer noch gültig, oder vielmehr heute sogar teilweise gültiger als damals.

Ebenso könnte man die Werke von Emil Spannocchi (Verteidigung ohne Schlacht), Guy Brossollet (Das Ende der Schlacht) und in Teilen auch Franz Uhle-Wettler (Gefechtsfeld Mitteleuropa) anführen, welche ebenso Konzepte für eine defensive Verteidigung aufzeigen, welche wenn sie konsequent durchgeführt würden, durchaus das Halten von strategischen "Linien" ermöglichen würden.

Gerade in Bezug auf das Baltikum wäre es meiner Meinung nach wesentlich, solche Konzepte noch einmal hervor zu holen und auf ihre praktische Anwendbarkeit hin gründlich zu prüfen. Eine strategische "Befestigung", welche das Baltikum vor einem russischen Zugriff so weitgehend abschirmt, dass die Russen dort nicht die baltische Zivilbevölkerung ad hoc zu Geißeln machen können, hätte einen erheblichen strategischen Wert. Man muss sich da natürlich von der Vorstellung klassischer endlos ausgedehnter Grabensysteme lösen, wie sie aktuell auch wieder in der Ukraine vorkommen. Sondern man stelle sich ein entsprechendes Netz aus Stay-Behind Gruppen, Jagdkampf leichter Infanterie und vielen verstreuten dezentralen Befestigungen vor, in welchem sich die gegnerischen Einheiten verfangen und bis zur Einsatzunfähigkeit ausbluten.

Zitat:Mein Eindruck ist das ist weniger ausgeklügelte Befestigung als Not gegen Elend.

Bezüglich des allgemeinen 1WK Reenactments in der Ukraine kann ich dir hier zustimmen. Aber das macht weder eine defensive Strategie im allgemeinen wertlos, noch ist deshalb jedwede Art von strategischen Befestigungen sinnlos. Nur weil etwas in der Ukraine aufgrund bestimmter Umstände ist, heißt dass nicht, dass man daraus verallgemeinernd Schlussfolgerungen für alle anderen Situationen und Umstände schließen sollte. Im Gegenteil: gerade eben weil es Not gegen Elend ist, gerade eben deshalb ist die Übertragbarkeit von vielem was man in der Ukraine sieht höchst fragwürdig.

Entsprechend sollte man die Frage des Wertes strategischer Befestigungen meiner Ansicht nach nicht aufgrund der Umstände in der Ukraine diskutieren, sondern eher davon gelöst betrachten.
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