EU vs. Großbritannien: Brexit und Folgen
#6
Zitat:1. GB spart sich jedes Jahr einige Milliarden an die EU

Das ist richtig. Es stellt sich aber die Frage, ob dies die anderen Verluste kompensiert? GB zahlte je nach Jahr ca. vier bis zwölf Mrd. Euro in den Topf der EU ein (bekam allerdings im Rahmen des Briten-Rabatts immer ca. 66% zurückerstattet). Bleibt also ein "Verlust" von - Maximalschätzung - rund vier Mrd. Euro. Wenn man aber nun bedenkt, dass die Masse der Exporte der Inselnation in die EU gingen und gehen (davon der Großteil nach Deutschland) und dass diese Vergünstigungen bezüglich des Exportes nun wegfallen - es sei denn, man einigt sich irgendwann auf ein Freihandelsabkommen (was aber noch in den Sternen steht) -, so wird der wirtschaftliche Verlust die Einsparungen überwiegen.
Zitat:2. GB wird keine 60 Milliarden als Ablöse an die EU zahlen

Das ist erst einmal Säbelrasseln und Getöse seitens der EU im Vorfeld, nachdem auch einige Drohungen von britischer Seite ausgestoßen wurden. Insgesamt gesehen werden diese 60 Mrd. natürlich nicht fällig werden - man einigt sich vermutlich irgendwo dazwischen -, aber eine Verlustrechnung wird es dennoch werden, wenn die Forderungen von Downing Street so Bestand haben sollten.
Zitat:3. Ca. ein Viertel der EU-Einwanderer belastet die Sozialkassen. GB zahlt in der Bilanz dabei drauf. Für die EU also kein Pfund zum wuchern.

Wieso zahlt GB drauf? Es ist richtig, dass ca. 25% wegen "Arbeitssuche" auf die Insel kommen (wobei man hier allerdings zwischen EU-14 und den sog. Accession-8 unterscheiden muss), aber die 75% - von denen die Masse aus den EU-14 stammt - zahlen mehr an Steuern als die anderen 25% an Sozialausgaben kosten. Es bleibt zwar abzuwarten, inwieweit sich diese Statistik noch verschiebt, aber aktuell wäre es eine Verlustrechnung für die Insel.
Zitat:4. Die Handelsbilanz zur EU ist stark negativ. Das heißt die EU muss GB Angebote machen, um weiter verkaufen zu können. GB könnte die Waren auch woanders einkaufen.

Die EU muss gar nichts. Trotz einer negativen Handelsbilanz käme der Insel ja dennoch einer der wichtigsten Märkte abhanden. Man kann also in Brüssel warten. Die Briten suchen ja jetzt schon händeringend nach Ländern, mit denen sie Freihandelsabkommen schließen könnten. Und hier stellt sich dann die Frage, ob diese England entgegenkommen. Die USA etwa haben zwar anfangs (unter Trump) schon Entgegenkommen demonstriert, aber so wirklich etwas konkretes kam bislang nicht heraus. Hierzu kommt, dass a) die britischen Importe nach den USA seit Jahren rückläufig sind - aktuell ist es weniger als nach Deutschland - und b) die US-Wirtschaft insgesamt ca. 25% produktiver ist als die britische. D. h. der stärkere und produktivere Partner wird bei einem Freihandelsabkommen profitieren und den kleineren Partner automatisch in die Abnehmerrolle drängen (was das britische Defizit allerdings weiter befeuern würde). Für England rechnet sich also eine Freihandelszone mit den USA nicht wirklich. England hat eines der höchsten Leistungsbilanzdefizite von allen Industriestaaten, viel Spielraum gibt es also nicht. Bliebe insofern die Frage, mit wem man dann noch "freihandeln" soll? Mit China? Na denn nun, alles Gute...

Zumindest scheint man sich in London hierüber - unter der Hand zumindest - im Klaren zu sein. Anders kann ich mir dir 1000-Pfund-Offerte für EU-Facharbeiter (s. Bericht des Guardian), um sie auf die Insel zu holen, nicht erklären.
Zitat:5. Ca. eine Million Briten leben in der EU. Die EU könnte sie nach Hause schicken, was wohl aber kaum passieren wird und selbst wenn für GB kein großes Problem wäre.

Die EU wird sie nicht nach Hause schicken (sie wäre ja auch ziemlich kurzsichtig, da fast 95% in Arbeit sind). Allerdings stellt sich diese Frage auch nicht, da die Masse dieser Arbeitnehmer in der EU bleiben will. Es stellt sich aber sehr wohl die Frage, ob es nicht einen generellen Sogeffekt in Richtung EU geben wird. Zumindest nehmen Einbürgerungsanfragen von GB-Arbeitnehmern in der EU (auch in Deutschland) aktuell zu, was darauf schließen lassen könnte, dass die EU eher Arbeitnehmer von der Insel anzieht als umgekehrt. Für den britischen Staat wäre es, würde diese Tendenz sich auswachsen, allerdings wiederum negativ, da so dem Staat Steuern flöten gehen.
Zitat:6. Polen wird für seine Bürger eine Sonderregelung schaffen müssen. Etwa eine Million Polen werden wohl bleiben dürfen, solange sie Arbeit haben. Besser für GB, da sie Arbeitslose wieder ausweisen können.

Polen wird hier keinen Finger rühren. In Warschau ist die dortige nationalkonservative Regierung ziemlich vergrätzt über London, da viele nationale Kreise in England das Brexit-Votum auf dem Rücken polnischer Arbeitnehmer ausgetragen bzw. antipolnische Töne angeschlagen haben. Zudem sind die Briten hier im "Mexikaner-Problem" gefangen. Viele Polen machen eher drittklassig bezahlte Jobs - in der Landwirtschaft, im Baugewerbe und in Kraftfahrzeug-Betrieben (ähnlich wie in Deutschland) -, die Briten nicht machen (wollen), aber sie tragen dennoch ihre Steuern bei. Es stellt sich also nicht die oberflächliche Frage, ob man sie denn bleiben lassen soll, sondern eher die, ob man es sich überhaupt leisten kann, sie zurückzuschicken. Zudem hat Warschau klar gemacht (bereits 2014 und 2016), dass man für jeden zurückgeschickten Polen eine Kompensation erwarten würde. Kurzum: Die Kosten (alleine wenn man denn darüber verhandeln würde), würden jeden Vernunftrahmen sprengen - es wird also gar nichts passieren.

Schneemann.
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RE: EU vs. Großbritannien: Brexit und Folgen - von Schneemann - 07.05.2017, 10:46

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