EU vs. Großbritannien: Brexit und Folgen
#3
Der Versuch einer Analyse der Fehlkalkulationen seitens der britischen Regierung bezüglich des Brexit:
Zitat:Theresa May und der Brexit

Zehnfach verrechnet

Die Brexit-Strategie der britischen Premierministerin beruht auf zehn Fehlkalkulationen - und widerspricht allem, was wir vom britischen Pragmatismus und Realismus wissen und an ihm schätzen. [...]

Der echte Schock für die Briten ist ein ganz anderer. Insbesondere die Menschen in Nordirland, Wales und Schottland können nur davon träumen, dass Theresa May ihnen gegenüber auf ein ähnliches Maß an Zusammenhalt innerhalb des angeblich "Vereinigten" Königreichs bedacht wäre, wie die EU-27-Länder dies beim Thema Brexit untereinander erreicht haben. [...]

In der Vergangenheit haben die Tories gegenüber Europa immer eine "divide et impera"-Strategie verfolgt. Doch dieser übliche Ansatz konnte diesmal nicht aufgehen. Er scheiterte genaugenommen schon in dem Augenblick, als sich die Brexit-Kampagne so zentral auf polnische Arbeitnehmer in Großbritannien einschoss. Denn die polnische Regierung unter Kaczynskis Führerschaft war die einzige, die vom Temperament und Gewicht bedeutsam genug war, um zugunsten der Briten beim Brexit Sand ins EU-Getriebe zu streuen. [...] Denn die Polen stehen den Briten nun nicht als der dringend benötigte Spielverderber zur Verfügung. [...]

Die dritte Fehlkalkulation ist, dass die britischen Konservativen auch noch stolz darauf sind, sich aus reiner Arroganz heraus weit von den EU-Realitäten entfernt zu haben. [...] Kein Wunder also, dass May und ihr Team vollkommen davon überrascht waren, dass die EU-27 - in der Regel als notorisch uneiniger Haufen beschrieben - in Sachen Brexit-Strategie so eng zusammenstehen. [...]

Die Strategie von Theresa May und ihren strategischen Beratern in Medien und Politik, eine Allianz der beiden mächtigen Damen Europas (zwischen sich und Angela Merkel) schmieden zu wollen, war schon immer ein Luftschloss. [...]

Die fünfte Fehlkalkulation betrifft die Wirtschaftsdynamik. Mays Wahlkampfrhetorik beruht zentral auf dem Argument, dass die Wirtschaft in Großbritannien viel besser dasteht als im Rest der EU. [...] Da passt es nicht so recht ins Bild, dass allmählich echte Sturmwolken am Horizont der britischen Ökonomie aufziehen, während es ausgerechnet in der viel vermaledeiten EU-Wirtschaft Anzeichen einer echten Erholung gibt - und zwar gerade auch auf dem Arbeitsmarkt. [...]

Wie die Tories nicht verstehen konnten, dass der Brexit die EU zusammenschweißen würde, wird für immer ihre gröbste Fehlkalkulation bleiben. Denn eine Nation, die das Klubwesen erfunden hat, sollte doch wissen, dass Aussteiger, die weiter irgendwie vom Klub profitieren wollen, Bittsteller sind. [...] Theresa Mays Torheit, aus Stolz heraus einen harten Brexit zu verfolgen, ist für jeden, der an der EU festhalten möchte, ein Geschenk der Götter. Denn wenn der EU bisher eines gefehlt hat, dann war es eine effektive Abschreckungsstrategie im Innern. [...]

Wer von sich aus die vermeintliche Drohkulisse eines "harten" Brexit inszeniert, der handelt selbstzerstörerisch. Damit zu drohen, ist etwa so, als ob man in einem Potenzstreit die eigene Kastration als Trumpfkarte in die Waagschale werfen würde. Im Grunde schießen May und Konsorten mit ihrem Abheben auf diese "harte" Strategie womöglich das Eigentor des Jahrzehnts. [...]

Dies führt zur achten Fehlkalkulation: Aus Sicht derer in Kontinentaleuropa, die immer noch darauf hoffen, dass in Großbritannien irgendwann die Vernunft siegen wird, steigt mit der Verfolgung des harten Brexit die Chance, dass das Land irgendwann doch noch einknicken wird. Dieses Kalkül gilt in besonderem Maße für Deutschland. [...] Im Kern bedeutet das, dass es in Deutschland keinen Appetit auf einen Kompromiss mit den Tories in ihrer harten Brexit-Strategie gibt, obwohl diese - wie ein widerborstiges Kind in zunehmender Verzweiflung - genau darauf setzen. [...]

Die souveränitätsbesessene Theresa May entpuppt sich zunehmend als der Donald Trump Europas: Was auch immer sie an strategischen Fehlern begeht - und von denen gibt es viele -, Schuld daran ist niemals sie selbst oder ihre Partei, sondern immer die anderen, vornehmlich andere Nationen. [...] Jüngstes Beispiel: Angesichts der für sie unerwartet einstimmigen Position der EU-27 in Sachen Brexit behauptet May nun, dass die Position der anderen EU-Länder eine Zunahme von "Ungewissheit und Instabilität" bedeute. [...]

Die abschließende Fehlkalkulation ist der Glaube, sich gegen alles stellen zu können, was wir vom britischen Pragmatismus und Realismus wissen und an ihm schätzen. Viele britische Brexit-"Strategen" glauben immer noch daran, dass es ihrem Land gelingen wird, ein Kaninchen aus dem Hut zu ziehen. So haben sich diese Glaubenstäter, die ein wenig an den deutschen Wilhelminismus des späten 19. Jahrhunderts erinnern, in dem kunstvollen Argument verstiegen, dass nach den wichtigen Wahlen Europas im Jahr 2017 (vor allem in Frankreich und Deutschland) die Verhandlungskarten womöglich qua Regierungswechsel in diesen Ländern neu gemischt würden.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/th...46262.html

Schneemann.
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RE: EU vs. Großbritannien: Brexit und Folgen - von Schneemann - 06.05.2017, 13:19

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