Afghanistan
Du bringst interessante Beispiele, die ich (noch) nicht kannte. Allerdings habe ich zu einem Punkt noch Nachfragen:
(07.02.2024, 23:41)Quintus Fabius schrieb: .....

Das hängt davon ab, ob die Hazara sich einordnen und mit der Zeit paschtunisieren lassen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Paschtunisierung

Aber selbst im Hazaradschat sprechen inzwischen viele junge Hazara zunehmend paschtunisch (zumindest sprechen sie ihre eigene Sprache nicht mehr, sondern stattdessen Dari) und auch sonst gleichen sich Sitten und Kultur an. Verbleibt die Frage der Religion. Es sind aber nicht alle Hazara Schiiten, es gibt auch eine sunnitische Minderheit unter ihnen. Und die wird von den Taliban aktuell in jeder Weise gefördert.

....
Du unterscheidest zwischen der Sprache der Hazara, paschtunisch, Dari - und persisch. Dazu zitiere ich:
Zitat:Persisch ist die Amtssprache im Iran sowie in Afghanistan (gemeinsam mit Paschtu) und Tadschikistan. Die Bezeichnungen Farsi und Dari wurden in der Vergangenheit als Synonyme
angesehen, Dari ist jedoch streng genommen eine Varietät des Persischen, die zusätzlich zu Paschtu
hauptsächlich in Afghanistan gesprochen wird, während Tadschikisch hauptsächlich in Tadschikistan
verwendet wird.
Wir haben also als gemeinsame Amtssprache als "Interlingua" zwischen Iran und Tadschikistan die persische Sprache mit ihrer reichen Literatur. Das in Afghanistan gesprochene Dari ist lediglich eine Varietät, ein "umgangssprachlicher Diaklekt", wenn man das so bezeichnen will.
Zitat:Im Iran wird diese Sprache Farsi genannt, Dari ist die Bezeichnung für die Sprache in Afghanistan und Pakistan. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um dieselbe Sprache, im Zuge der königlichen Regentschaft von Mohammad Zahir wurde jedoch der Name der afghanischen Landessprache Farsi in Dari umgewandelt, um eine Abgrenzung zu schaffen. Dieser politische Disput ist in der Bevölkerung nicht zu spüren – die meisten verstehen sich als Volk, das Farsi spricht. Es gibt keine trennenden Merkmale zwischen den beiden Sprachen, nur wenige Unterschiede, die keine eigenständige Sprache ausmachen.
(Zitat)
Dazu kommt in Afghanistan noch Paschtu(nisch) als weitere Sprache speziell der Paschtunen. Paschtu ist nun tatsächlich eine eigenständige Sprache, die sich wesentlich näher an die altiranische Sprache anlehnt als das heutige Persisch. Ich bin versucht, beide Sprachen mit Niederländisch/Platt- und Hochdeutsch zu vergleichen.
Wenn die Hazara also "Dari" sprechen, dann ist das nichts weiter als die örtliche Varietät des Persischen, der "Interlingua Hochsprache", die an die Stelle des eigenen Idioms tritt. Und dieses Idiom ist eine lokale Varietät des persischen mit vielen türkischen und mongolischen Wörtern. Der Verlust des eigenen Idioms und die Übernahme von Dari, also "reinem persisch", spricht nun nicht unbedingt für eine Angleichung an die Paschtunen, sondern eher für die Assimilierung in der iranischen Sprachfamilie.
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Zunächst mal hatten die Hazara eine komplett eigene Sprache, die aber heute praktisch ausgestorben ist. Dann hatten sie eine komplett eigene Form des Dari, die für andere Dari Sprecher nur schwer verständlich ist und viele türkische und mongolische Lehnwörter hat. Und von der wenden sie sich zur Zeit auch rasant ab und sprechen jetzt mehrheitlich normales Dari.

Und ja, dass ist natürlich keine Paschtunisierung. Zudem ist das Kerngebiet der Hazara eigentlich das letzte Gebiet in Afghanistan indem die Paschtunen nicht überall siedeln und wo die Paschtunisierung tatsächlich noch am langsamsten läuft. Dessen ungeachtet ist die Aufgabe einer eigenen, abweichenden Sprache hin zu einer in ganz Afghanistan verwendeten Lingua Franca ein Verlust eigener Kultur und Identität. Und es ist dieser schleichende Identitätsverlust der auch sonst die Paschtunisierung voran treibt.

Und die Sprache ist eben nicht alles. Das reicht von Kleidung, Gebräuchen, Sitten, Essen usw. bis hin zu Musik und sonstigen sozialkulturellen Eigenheiten. Und da ist halt in ganz Afghanistan und in Bezug auf alle ethnischen Minderheiten eine mehr oder weniger starke Paschtunisierung feststellbar. Bei den Hazara natürlich noch am wenigsten im Vergleich, was aber wie beschrieben primär religiöse Gründe hat. Wenn aber nun die Taliban tatsächlich langfristig die Hazara integrieren würden - ob dem so geschehen wird kann ich nicht sagen - wenn sie also ihre gegenwertige Politik gegenüber den Hazara beibehalten, dann würde dieser Prozess deutlich an Fahrt gewinnen. Denn die Hazara grenzen sich ja vor allem deshalb bisher so stark von den Paschtunen ab, weil diese sie seit langer Zeit eigentlich immer nur angegriffen und masskriert haben.

Bei der allerersten Eroberung der Gebiete der Hazara durch die Paschtunen im 19 Jahrhundert töteten diese beispielsweise bereits um die Hälfte der Gesamtbevölkerung dort. Und so pflanzte sich das seit jeher fort. Heute aber - und dass ist eben der völlige Bruch mit allem was bisher war - lässt man es bei einer mehr oder weniger offenene Diskriminierung und bei seltenen Übergriffen sein und es gibt wie beschrieben Taliban aus den Reihen der Hazara. Es gibt heute allen Ernstes schiiitsche Taliban - wie auch immer man sich dass dann praktisch vorstellen soll. Und das ist halt ein absolutes Novum.
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ich stimme Dir zu:
Die Aufgabe der eigenen Sprache führt zu einem Verlust eigener Kultur und Identität. Die Frage ist nur, ob diese Aufgabe zugunsten einer nah verwandten, regionalen Hochsprache wie dem persischen (Dari) oder zugunsten des eher regional starken Paschtu erfolgt.
Da würde ich persönlich dem Dari und damit langfristig auch dem Iran mehr Erfolg zutrauen. Da spielen auch andere Punkte eine wichtige Rolle.
Zu den strukturellen Variablen mit Langzeitwirkung zählen insbesondere auch historische Erfahrungen eines Volkes oder einer Volksgruppe und die gängigen Stereotypen und Bilder von anderen Volksgruppen. "Neben den hartnäckigen, oft jahrhunderte alten Stereotypen über andere ... Völker wird die Wahrnehmung des Anderen durch dessen jeweils aktuelles Verhalten im regionalen ... System geprägt. Ob die so gewonnenen Eindrücke aus dem aktuellen politischen Alltag bestehende Stereotypen ... verändern oder nur kurzfristig wirksame Eindrücke hinterlassen, hängt ganz von der Dauerhaftigkeit der Verhaltensmuster des anderen ... ab." (Privatdozentin Dr. habil. Sigrid Faath in "Die Zukunft arabisch-türkischer Beziehungen", DGAP Berlin S. 20).
Gerade die von Dir geschilderten historischen Erfahrungen machen eine "Paschtunisierung" eher schwierig, wenn eine andere Alternative besteht. Die Frage ist dann lediglich, ob der Iran genug attraktive Ressourcen aufbietet, um eine Alternative zur angesprochenen Paschtunisierung zu bieten.

Welche Bedeutung die Sprache hat ist übrigens hier ausgeführt:
Zitat: Aus den Sprachen sind die Völker — nicht aus den Völkern die Sprachen entstanden”
(Isidor von Sevilla)
Die gemeinsame Sprache ist das Grundelement des modernen Nationalgedankens. Auf Basis der gemeinsamen Sprache entwickelt sich ein “Wir-Gefühl”, das für die Bildung von Nationen wichtig ist. Die Sprache ist das Mittel der Verständigung und des Verstehens, die Grundlage für Handel und Gewerbe, für Erzieung und Beratung, für die Meinungsäusserung, die Diskussion, die Meinungsbildung und die Bildung von Werten und Wertegemeinschaften. “Ich verstehe Dich nicht” ist nicht nur im übertragenen sondern vor allem auch im wortwörtlichen Sinn der vernichtendste Satz des gegenseitigen Unverständnisses. Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen — aber nur wenige gemeinsame Gesten wie Lachen und Weinen sind allen Menschen gleich. Die Sprache ist das Mittel der Verständigung zwischen den Menschen. Der Mensch “denkt in Sprache”. Auf Basis der gesprochenen Verständigung entwickelt sich eine Kulturgemeinschaft. Die Nationalbildung der Staaten Europas erfolgte im Wesentlichen an der Sprache — die Sprachgrenzen waren immer auch die Grenzen zum Fremden, und noch heute krankt Belgien an der Spannung zwischen Flamen und Wallonen.

Die gemeinsame Sprache ist daher — noch vor der gemeinsamen Religion und Kultur — das wesentliche Element für die Bildung von Gemeinschaften und Nationen. ...
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Zitat:Da würde ich persönlich dem Dari und damit langfristig auch dem Iran mehr Erfolg zutrauen.

Meine These bezüglich des bisher in der Geschichte Afghanistans historisch einmaligen Ansatz der Taliban im Umgang mit den Hazara ist, dass sie gerade eben den Iran raushalten wollen und die Hazara für sich gewinnen wollen. Ob das funktionieren wird steht in den Sternen, keine Ahnung. Aber immerhin versuchen sie es. Und umgekehrt haben die Hazara stark an eigener sozialkultureller und ethnischer Identität eingebüßt im Vergleich zu dem was früher war.

Ich würde es daher (reine These) für möglich halten, dass dies aufgehen könnte und der Iran von den Hazara fern gehalten werden kann.

Zitat:Die Frage ist dann lediglich, ob der Iran genug attraktive Ressourcen aufbietet, um eine Alternative zur angesprochenen Paschtunisierung zu bieten.

Der Iran hat ja noch darüber hinaus erhebliche innere Probleme, dazu kommen die Belutschen als Problemfall im Ostiran welche von den Taliban mit Waffen, Drogen usw. beliefert werden und ganz allgemein der massive Drogenhandel aus Afghanistan in Richtung Iran usw usf

Darüber hinaus ist der Iran in Syrien, im Libanon, im Jemen und ganz allgemein bei seinem Kampf gegen die Ölaraber gebunden.

WENN die Taliban hinter den Kulissen im Rahmen einer Geheimdiplomatie dem Iran gegenüber Neutralität zusichern und dass sie ihm damit den Rücken frei halten für all die anderen welche dem Iran am Pelz hängen, denke ich dass es dazu kommen könnte, dass der Iran nicht in die Hazara investiert und diese den Taliban überlässt. Als notwendigen Preis um den Rücken frei zu kriegen. WENN die Taliban so klug sind eine solche Strategie zu fahren. Und über ihren ideologisch-religiösen Schatten springen können, was sie aber zumindest hier und jetzt bereits tun.
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Noch drei bemerkenswerte Dokumentationen:

https://www.youtube.com/watch?v=stVSsGvLV_k

https://www.youtube.com/watch?v=jByCZqXwZqI

https://www.youtube.com/watch?v=xJpB4t5naqo
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Eigentümliche Randinformation aufgrund der Anschläge in Moskau:

Die russische Regierung hat jetzt die Taliban offiziell eingeladen, mit einer umfangreichen Delegation an dem 15 internationalen Russisch-Islamischen Treffen in Kasan vom 14 bis zum 19 Mai teilzunehmen. Vor allem wolle man eine enge Zusammenarbeit in Bezug auf die Bekämpfung von Terroristen erreichen - dass richtet sich ganz klar gegen den IS-K.

Das russische Außenministerium erklärte hierzu ergänzend, diese Einladung und die geplanten Gespräche über einen Ausbau der Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen würden keine Anerkennung des islamischen Emirates bedeuten. Allerdings würde man die Taliban selbst nun im weiteren nicht mehr als terroristische Vereinigung einstufen. Die Taliban erklärten, dass sie an dem Treffen in Russland teilnehmen würden und sehr an einem Ausbau der Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Terroristen interessiert sind.

Da haben sich mal zwei gefunden, und der IS-K wird dadurch meiner Einschätzung nach erheblich unter Druck geraten.
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Der Feind meines Feindes ist mein Freund...
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