Frage zum Beginn des Ukraine Kriegs
#16
Das ist eine sehr schwierige Frage, insbesondere im Nachhinein, wo man dann viel mehr Informationen vorliegen hat als damals. Ich will daher darauf nur in Bezug auf meine Person antworten: ich habe es damals 2021 nicht erkannt und war der Überzeugung, dass es sich um eine bloße Machtdemonstration handelt, welche die eigene Verhandlungsposition in Bezug auf die Seperatisten stärken soll.

Ob und inwieweit westliche Geheimdienste dies als bereits laufende Kriegsvorbereitung hätten erkennen können, entzieht sich völlig meiner Kenntnis. Es ist ja nicht bekannt, was für Informationen aus Russland vorlagen. Rein von OSINT her aber würde ich es verneinen, dass dies erkennbar war.
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#17
(05.06.2025, 22:01)Quintus Fabius schrieb: Das ist eine sehr schwierige Frage, insbesondere im Nachhinein, wo man dann viel mehr Informationen vorliegen hat als damals. Ich will daher darauf nur in Bezug auf meine Person antworten: ich habe es damals 2021 nicht erkannt und war der Überzeugung, dass es sich um eine bloße Machtdemonstration handelt, welche die eigene Verhandlungsposition in Bezug auf die Seperatisten stärken soll.

Ob und inwieweit westliche Geheimdienste dies als bereits laufende Kriegsvorbereitung hätten erkennen können, entzieht sich völlig meiner Kenntnis. Es ist ja nicht bekannt, was für Informationen aus Russland vorlagen. Rein von OSINT her aber würde ich es verneinen, dass dies erkennbar war.

Ist es nicht völkerrechtlich so, dass keine "einschüchternden" Militärmanöver mit Ansammlung von grösseren Truppenverbänden unmittelbar in der Nähe der Grenze des Nachbarstaates durchgeführt werden dürfen und dies bereits als versteckte Kriegserklärung gesehen werden kann? Egal, ob dies nun als "Übung" deklariert wird oder nicht.

Ich kann ja auch keinen Panzer in meinen Garten vor den Zaun meines Nachbarn stellen und das Rohr auf sein Haus richten, mal eben so als "Machtdemonstration".
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#18
De facto erfolgte die Kriegserklärung ja schon 2014 und war bereits die Besetzung der Krim völkerrechtswidrig. Beide Staaten befanden sich seitdem ohnehin in einem de facto Kriegszustand.

Russische Streitkräfte haben zudem bereits vorher in den Seperatistengebieten gegen die Ukrainer gekämpft - wenn auch als Seperatisten getarnt. Ein Gros der Kampfhandlungen in der Ostukraine in den Jahren unmittelbar vor 2022 war bereits Russen vs Ukrainer. Ja sogar schon 2014 gab es den ersten massiven Angriff regulärer russischer Streitkräfte auf ukrainische Armeeeinheiten, damals wurden am 11 Juli 2014 bei Zellenopillia zwei mechanisierte ukrainische Bataillone im Donbass von den Russen mittels Artillerie vollständig zerschlagen. Von konventionellen russischen Armeeeinheiten, nur dass die Welt und insbesondere der Wertewesten TM dies einfach ignorierten, weil man ja ach so günstiges Gas von den Russen beziehen konnte etc.
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#19
@Quintus Fabius
2014 war es so, dass die Ukraine sich faktisch selbst gespalten hat - in einen russisch- und einen ukrainischsprachigen Teil. In deinen Worten könnte man sagen, die Ukraine hat es nicht vermocht, nach den Maidan-Proteste eine gemeinsame Meta-Idee zu schaffen, die auch die russischsprachigen Teile der Bevölkerung mitnahm.
Eine weitere Mitschuld gebe ich auch der EU mit ihrer ungebremsten Expansion, man wollte die Ukraine nicht als Brücke nach Russland (und seinen Ressourcen), sondern sich ganz einverleiben. Ich denke, man hat da seitens der EU gerade in Russland Misstrauen geschaffen.
Russland hat eine traditionell starke emotionale Bindung an die Ukraine, und der aktuelle Krieg ist hier auch - so verrückt es klingen mag - das Resultat von beleidigter Liebe.
Ich denke, Russland konnte nicht wirklich anders handeln. Die Krim ist traditionell russisches Gebiet, und ich wage sehr zu bezweifeln dass die Übergabe der Krim an die Ukraine 1955 völkerrechtlich legitim war, und ob sie mit den Gesetzen der Sowjetunion wirklich konform war. Die Mehrheit der Bevölkerung der Krim war schon damals gegen den Anschluss an die Ukraine.
Zudem hat die Krim für Russland noch einen emotional höheren Wert als die Ukraine an sich. Man hatte schon vor 160 Jahren einen Krieg um sie geführt, und noch davor das Osmanische Reich von dort verdrängt. Ich frage mich, warum ukrainische Politiker nicht erklären, im Falle eines Sieges die Krim an die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches zu übergeben. Wink
Russland konnte natürlich auch aus emotionaler Bindung nicht der Diskriminierung und schlechten Behandlung der russischsprachigen Bevölkerung zusehen. Franzosen, Briten und Deutschen würde es trotz gegenteiliger Beteuerung nicht anders gehen.
Wohl auch deshalb hat der Wertewesten TM nicht eingegriffen, Russland leistete eigentlich nur einer ihm zugewandten Bevölkerungsgruppe Unterstützung, wieviel davon russisch und wieviel russo-ukrainisch war sei dahingestellt. Es war einfach eine mehr oder weniger verdeckte Intervention.
Der Fehler, den Putin 2022 gemacht hat war der, den Krieg ohne wirklichen Kriegsgrund auszulösen. Die Empörung darüber kann ich etwas nachvollziehen. Wenn ich etwa auf offener Straße jemandem ohne einen offensichtlichen Anlass eine 'reinhaue heißt es ja auch: "Was hat der denn? Was ist Tiger für ein A....?"
Klüger wäre es von Putin gewesen, wenn er gewartet hätte bis die Ukraine sich selbst gehängt und ihm einen wirklichen Anlass für einen Krieg gegeben hätte.
Im Zweifelsfall hätte man mit den russischen Truppen an der Grenze und in Belarus noch Manöver abhalten können - damit hätte man sich mit ihnen gutgestellt, afaik mögen Soldaten nichts lieber als Manöver, man sitzt ja nicht in der Kaserne 'rum oder riskiert gerne seine Haut in einem echten Krieg. Zudem hätte man dadurch Misstände bei den eigenen Truppen aufdecken oder ihnen modernere Bewaffnung zukommen lassen - genug von ihnen waren ja aus dem Fernen Osten verlegt worden, und kaum besser ausgerüstet als zu Zeiten der Sowjetunion.
Ich war übrigens schon vor Kriegsbeginn 2022 der Meinung, dass sich Putin übernimmt.
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#20
(27.06.2025, 23:20)Tiger schrieb: Ich denke, Russland konnte nicht wirklich anders handeln.
In aller Kürze: Ich widerspreche heftig.
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#21
Diese Sichtweise deckt sich weitgehend mit jener der meisten Russen (und auch etlicher anderer Völker wie beispielsweise Serben etc). Sie lässt aber außer Acht, dass auch die russisch-sprachigen Bürger der Ukraine gespalten waren und sind. Und dass es umgekehrt in Russland viele Ukrainische-sprachige / ukrainisch-stämmige Russische Staatsangehörige gibt.

Es kämpfen jede Menge Russen auf Seiten der Ukraine, auch aus den Ostgebieten der Ukraine, in denen es keineswegs so war, dass dort die absolute Mehrheit gegen die Ukraine oder die Ukrainer gewesen wäre. Man war gegen die aktuelle Regierung, aber man wollte auch nicht die den Menschen dort aufoktroyierten Marionettenstaaten, welche künstlich von außen durch Russland und mittels russischer Truppen geschaffen wurden.

Und um das nochmal zu betonen: es kämpften schon 2014 auch in der Ostukraine reguläre russische Truppen gegen die Ukrainer.

Umgekehrt gibt es in Russland Ukrainer / ukrainischstämmige und ukrainisch sprechende russische Staatsangehörige, welche absolut treu zur Russland stehen.

Die perfide Ironie an diesem Komplex ist es also, dass beide Seiten eigentlich sich so nahe stehen und derart miteinander verwoben waren, wie dies überhaupt nur möglich ist. Es wäre für Russland ein leichtes gewesen, mit einer positiven Politik gegenüber ihren engsten Verwandten die Ukraine dauerhaft als treuen Verbündeten auf russischer Seite zu halten.

Es gehörte also ein immenses Ausmaß an Inkompetenz dazu, die Ukraine in den Konflikt und dem folgend in den Krieg mit Russland zu treiben. Bis dahin, dass heute der Bruch dauerhaft und nicht mehr umkehrbar ist. Dies hinzukriegen war der unwahrscheinlichste Ausgang in den Beziehungen dieser beiden Nationen.

Warum aber war das System Putin derart inkompetent in Bezug auf die Ukraine ?! Die Antwort liegt im Hochmut mit welchem Russen seit Jahrhunderten auf die Ukrainer herab geschaut haben. Die Kleinrussen wurden nie ernst genommen und man sah ihre "natürliche Position" immer als eine unter den Russen an, in welche sie sich zu fügen hätten.

Du schriebst hier von verschmähter Liebe: aber das trifft allenfalls für die Ukrainer zu. Die Russen empfanden nie Liebe für die Ukraine - sondern bezogen lediglich eine Selbsterhöhung aus der Erniedrigung der Ukrainer, welche sie nie für voll oder ernst nahmen und welche aus ihrer Sicht ihr Eigentum waren und sind.

Das ist übrigens meiner Ansicht nach auch der Grund, warum die Russen derart agressiv und verbittert auf die Veränderungen in der Ukraine reagierten, nicht aus verschmähter Liebe, sondern weil dies ihr Selbstverständnis, ihr Selbstwertgefühl und ihre Individuität in Frage stellt. Denn die Russen beziehen ihr Selbstwertgefühlt daraus, dass sie sich selbst über andere erhöhen. Man lebt arm, alles ist mehr schlecht als recht, aber man ist ein Russe und deshalb überlegen und weil man eine militärische Großmacht ist und stark und hart und die anderen einem gehorchen müssen. Das Selbstbewusstsein und die Identität welche man sich dadurch aufbaut werden durch eine Ukraine die eigene Wege geht so massiv gekränkt, dass man darauf mit Gewalt reagieren musste, weil man die innere Leere welche die Russen so zeichnet nur durch dieses auf geliehener Macht und Stärke beruhende Überlegenheitsgefühlt füllen konnte.

Eine erfolgreiche und eigenständige Ukraine ist daher nicht nur innenpolitisch für das System Putin ein großes Problem, weil sie aufzeigt, dass auch die Russen ohne dieses System besser dran wären, sondern vor allem nimmt sie den Russen das letzte bißchen Würde und Stolz dass sie noch haben, das einzige was sie noch aufrecht hält, und das löst natürlich massivste Agression aus. Man muss daher einfach beweisen, dass dieses eigene Selbstverständnis wahr ist und sich durchsetzen, weil das eigene Ego es sonst nicht aushalten würde.

Russland leistet daher keineswegs anderen Russen Unterstützung, sondern erträgt es nicht, dass selbst die Ukrainer, welche immer die Schwächeren waren, mit denen man immer gemacht hat was auch immer man wollte, nun eigene Wege gehen, nicht mehr gehorchen und sich als so stark erweisen, dass man sie nicht einfach wegfegen kann. Das kränkt das russische Selbstverständnis welches jedes Selbstbewusstsein nur daraus entleiht und deshalb muss man als Russe die "natürliche Ordnung" wieder herstellen, koste es was es wolle, denn sonst müsste man sich ja eingestehen, dass man ein Verlierer und ein Schwächling ist und es gibt in der russischen Kultur keine Gnade für die Schwachen.

Spezifisch zur Krim und zu Fehlern Putins:

Wie grenzenlos inkompetent das System Putin im Umgang mit diesem Konflikt ist zeigt sich allein darin, dass Russland mit Trump ernsthaft die Chance gehabt hätte, die Krim als russisches Gebiet anerkannt zu kriegen. De facto hätte Russland einen Sieg aus diesem Krieg heraus holen können, mit Anerkennung der Krim als russischem Staatsgebiet selbst durch den Westen, einfach nur die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen um damit Trumps Ego zu streicheln. Und selbst dieses strategische Wunder (eine Art zweites Wunder des Hauses Brandenburg) hat man einfach vertan weil man sich seiner Beschränktheit (wortwörtlich wie übertragen) derart in die Wahnidee verrannt hat, dass man die Ukraine umbedingt vollständig niederringen muss.

Es ist dabei komplett irrelevant, wem die Krim nun gehörte oder gehört oder wie sich dies rechtlich verhalten mag. Das aktuelle System Putin (welches zum Nutzen des Westens möglich lange erhalten bleiben möge) hätte die Krim ernsthaft dauerhaft für Russland gewinnen können. Aber selbst dafür war man zu unfähig.
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#22
@Quintus Fabius
Zitat:Diese Sichtweise deckt sich weitgehend mit jener der meisten Russen (und auch etlicher anderer Völker wie beispielsweise Serben etc). Sie lässt aber außer Acht, dass auch die russisch-sprachigen Bürger der Ukraine gespalten waren und sind. Und dass es umgekehrt in Russland viele Ukrainische-sprachige / ukrainisch-stämmige Russische Staatsangehörige gibt.
Mir war bei meinem vorangegangenen Posting schon klar gewesen, dass es sich um eine Vereinfachung handelt.

Zitat:Es wäre für Russland ein leichtes gewesen, mit einer positiven Politik gegenüber ihren engsten Verwandten die Ukraine dauerhaft als treuen Verbündeten auf russischer Seite zu halten.
Ich denke, dass der Bruch schon 1991, sogar bereits vorher, vorgezeichnet war und auch mit einem Trauma auf russischer Seite zu tun hat: Dem Untergang der Sowjetunion.
Der Austritt der Ukraine bedeutete sozusagen den Todesstoß für die Sowjetunion. Die Sezession der baltischen Staaten konnte sie verkraften, nicht aber jene der Ukraine.
Mehr noch: Der Austritt der Ukraine und Untergang der Sowjetunion legte endgültig den Verlust an Prestige und Bedeutung von Russland offen. Vorher stand man an der Spitze einer großen Völkerfamilie, eines großen sozialen Experiments, einer bedeutenden Militärmacht, die den 2.Weltkrieg (mit)gewonnen hatte, deswegen auch die großen Militärparaden des Sieges über Deutschland...Man hat Russland gar mit der Sowjetunion gleichgesetzt, ganz ähnlich wie Preußen mit Deutschland.
Als dann dank der Ukraine die Sowjetunion zerfiel, wurden das marode sowjetische Erbe und der Bedeutungs- und Prestigeverlust von Russland endgültig offengelegt, einschließlich desolater, von kriminellen Elementen infiltrierter Streitkräfte. Nur der Sitz im UN-Sicherheitsrat und die Atomwaffen, immerhin auch ein Prestigeobjekt, blieben.
Man kann hier fragen, ob Putin - und andere - die Trennung von Russland und Ukraine nicht damals schon als einen "Verrat" erlebten. Für viele Russen war es sicher ein Stich ins Herz.
Wahrscheinlich war man mit Blick nach Deutschland auch froh, dass Russland selbst nicht wie einst Preußen und die DDR - beides ehemalige Verbündete - regelrecht vaporisierte.
Präsident Jelzin und weitere Separationsbestrebungen sowie terroristische Anschläge machten die Misere später auch nicht besser.
Übrigens: Wegen der Aufteilung der Schwarzmeerflotte tauchten schon unter Jelzin Kriegsdrohungen gegen die Ukraine auf.

Zitat:Es gehörte also ein immenses Ausmaß an Inkompetenz dazu, die Ukraine in den Konflikt und dem folgend in den Krieg mit Russland zu treiben.
Ich würde hier nicht von Inkompetenz, sondern Kränkungserfahrungen sprechen. Man stritt um die Aufteilung der Atomwaffen und Schwarzmeerflotte, die Krim, die Beziehung der Ukraine zur EU und NATO...
Irgendwann war das Maß aus russischer Sicht voll.

Zitat:Bis dahin, dass heute der Bruch dauerhaft und nicht mehr umkehrbar ist.
Was, wenn es zu einem Bruch zwischen der EU und der Ukraine käme? Irgendwie sehe ich das kommen...("Die EU ist ja wie damals die Sowjetunion! Sagt und dauernd, wie wir sein und was wir zu tun haben!")

Zitat:Warum aber war das System Putin derart inkompetent in Bezug auf die Ukraine ?! Die Antwort liegt im Hochmut mit welchem Russen seit Jahrhunderten auf die Ukrainer herab geschaut haben. Die Kleinrussen wurden nie ernst genommen und man sah ihre "natürliche Position" immer als eine unter den Russen an, in welche sie sich zu fügen hätten.
Hier spielt wohl auch der historische Erfolg von Russland eine Rolle. Nach dem Mongolensturm waren die Gebiete der Ukraine unter litauische Herrschaft geraten - übrigens weniger durch militärischen Druck sondern durch ein altes Rezept der Kiewer Rus: Heiratspolitik. Später hat man - etwa durch das Bündnis mit Bogdan Chmielniki - diese Gebiete wiedererlangt.
Wahrscheinlich wollte man die Kleinrussen tatsächlich als Juniorpartner, aber aufgrund kultureller Unterschiede oder Ähnlichkeiten - Stichwort Hierarchieorientierung - hat es dann nie so recht funktioniert.
Man kann das mit einer Schultheatergruppe vergleichen, wo jeder den strahlenden Held spielen will, aber nicht den jüngeren Bruder, der lahm ist oder sich das Bein gebrochen hat.

Zitat:Du schriebst hier von verschmähter Liebe: aber das trifft allenfalls für die Ukrainer zu.
Wo ist da verschmähte Liebe seitens der Ukrainer? Steckt das in den ganzen Beleidigungen, die man den Russen vorsetzt, z.B. ihre Titulierung als "Orks"? Oder der Zerstörung von russischen Schriftstücken (wegen der ich die Ukrainer gerne mit den Taliban gleichsetze)?

Zitat:Wie grenzenlos inkompetent das System Putin im Umgang mit diesem Konflikt ist zeigt sich allein darin, dass Russland mit Trump ernsthaft die Chance gehabt hätte, die Krim als russisches Gebiet anerkannt zu kriegen. De facto hätte Russland einen Sieg aus diesem Krieg heraus holen können, mit Anerkennung der Krim als russischem Staatsgebiet selbst durch den Westen, einfach nur die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen um damit Trumps Ego zu streicheln
Das liegt einmal daran, dass auch das russische Außenministerium noch unter den Folgen des Zerfalls der Sowjetunion leidet. Zu Zeiten der Sowjetunion bot eine Tätigkeit im Außenministerium viel Anerkennung und den Zugriff auf westliche Luxusgüter, z.B. Coca Cola. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind dann gerade deshalb viele Mitarbeiter des Außenministeriums in die freie Wirtschaft gegangen - so konnte man schließlich Cola-Dosen und Luxus-Autos schiffsladungmäßig importieren und damit Gewinn machen. Im Außenministerium blieben die Abnicker zurück, denen man erst beibringen musste wie man einen Computer bedient.
Trotzdem muss man den russischen Außenminister Lawrow dafür bewundern, was er mit seinem Ministerium alles erreicht hat. Aber nun kommen wir zum zweiten Punkt: Ist schonmal wem aufgefallen, wie selten Lawrow noch auftritt? Dafür tritt um so häufiger Putins Pressesprecher Peskov auf. Mein Eindruck ist hier, dass Lawrow in einem internen Machtkampf unterlegen war und viele Befugnisse an Peskov verloren hat.
Dazu muss man wissen, das der Machtkreis um Putin wie die Drushina, also Gefolgschaft, eines Fürsten der Kiewer Rus' funktioniert. Der Fürst versammelt Personen, in denen er Potential erkennt oder benötigt, um sich und verteilt an diese dann Geld, Lob und Tadel ("Zum Chef, auf den Teppich!").
Ein weiterer Grund für das Versagen der russischen Außenpolitik ist, dass man diese auch international langsam abgewertet hat. Sehen wir hier doch mal nach Deutschland: Bundeskanzlerin Merkel zog immer mehr Kompetenzen ihres (inkompetenten) Außenministers Maas an, betrieb selbst Außenpolitik, und Baerbock war nur ein einziger Skandal. Auch in den USA ist ein Außenminister vom Status her nicht mehr dass, was er einmal war. Es gab also eine Veränderung in der außenpolitischen Kultur, den Russland mitgemacht hat.
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#23
Die Überhöhung des Zerfall der Sowjetunion durch die Russen ist meiner Ansicht nach eine Folge der katastrophalen Jelzin-Ära (ich nenne das jetzt mal so) und wurde vom System Putin gezielt aufgegriffen und seit seiner Machtergreifung gezielt immer weiter geschürt. Der sich daraus ergebende Komplex ist daher meiner Meinung nach ein weitgehend künstlicher, von oben herbei geführter. Der gedankliche Fehler der Russen war und ist es hierbei, dass sie die Sowjetunion eben nicht als eine Völkerunion, sondern schon früher immer als ein russisches Imperium unter russischer Herrschaft verstanden haben (was du ja schlussendlich auch schreibst).

Dieser Verlust eines Imperiums wurde aber in den Jahren unmittelbar nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion eben nicht so empfunden wie heute, wo russische Truppen im Feld teilweise sogar sowjetische Flaggen statt russischer führen. Es gab also eine Veränderung in den letzten 20 Jahren diesbezüglich. Die Sowjetunion wurde in Russland (künstlich angeschürt) immer mehr überhöht, als russisches Reich (die russische Welt und die Sowjetunion wurden auch immer mehr gleichgesetzt, was historisch eben falsch ist), und zugleich damit ein immer größerer Wunsch nach der Rückkehr eines russischen Imperiums erzeugt, eine Erwartungshaltung die vor allem deshalb so fruchtbar wurde, weil die Russen sonst nichts haben, woraus sie innere Leere füllen können. Man weiß eigentlich wie negativ alles ist, wie gut es sein könnte, und somit baut man sich das eigene Ego, die eigene Persönlichkeit immer weitergehender auf geliehener nationaler Größe auf. Zwar ist man arm, besitzt nichts, ist korrupten kriminellen Strukturen ausgeliefert, aber immerhin ist man ja eine Weltmacht ersten Ranges und hat ein Imperium, dass man nur wieder mit einem Handstreich herstellen muss.

Es ist dieser psychologische Mechanismus, den eigenen Wert als Person von der russischen Militärmacht, dem von Russland beherrschten Imperium abzuleiten und das eigene Ego darauf zu begründen, welcher notwendig ist, um die Missstände in Russland überhaupt ertragen zu können, und welcher von der Mafia-Kamarilla im Kreml so geschickt aufgegriffen und zu den eigenen Gunsten manipuliert wurde.

Das Trauma ist also nur deshalb ein Trauma, weil die Russen statt sich der Missstände im eigenen Land anzunehmen ihre Fehler, ihr Versagen und ihre Unzulänglichkeiten mit diesem geliehenen Ego überkompensiert haben.

Die Ukraine greift nun dieses Ego mehr als alles andere an, denn die Kleinrussen waren für Russland immer nur eine beliebige Verfügungsmasse, ohne Wert, mit der man machen konnte was immer man wollte. Wenn selbst ein solcher "natürlicher, geborener, althergebrachter, traditioneller Untertan", der nie etwas anderes war und nie etwas anderes sein durfte und sollte, als ein Leibeigener des russischen Volkes eigenständig, stark und erfolgreich sein kann, so greift dies natürlich die geliehene Stärke des Russen mehr an als alles andere. Gerade eben deshalb verzeiht man den Ukrainern ihre Eigenständigkeit und Stärke nicht, weniger als jedem anderen.

Der vermeintliche Verrat an der russischen Welt durch die Ukrainer ist also in Wahrheit die Kränkung des geliehenen künstlichen Egos der Russen, welches sie nicht ertragen können, weil sie sonst nichts anderes haben aus dem sie Wert und Selbstwertgefühl beziehen.

Deshalb muss dieser Untertan in seine "natürliche Position" gezwungen oder vernichtet werden, anders kann es der Russe psychologisch nicht aushalten. Deshalb trifft es dein Begriff der Kränkungserfahrungen gar nicht so schlecht. Die von den Russen angenommene "natürliche Position" des Ukrainers als Leibeigener und Verfügungsmasse der Russen hat nun natürlich geschichtliche Hintergründe.

Das Gebiet welches die Ukraine heute beansprucht und welches heute völkerrechtlich als Ukraine anerkannt wird, ist durchaus ein künstliches Gebilde, dass erst in der Sowjetunion so geschaffen wurde, als man drei wesentliche Gebiete zusammen legte, die historisch gesehen vorher nie zusammen gehört haben. Die eigentliche Ukraine im Westen, welche immer stärker nach Polen, Litauen etc. ausgerichtet war denn nach Russland. Den Osten der heutigen Ukraine, der genuin russisch war, jedoch eine gewisse Sonderrolle durch die Kultur und die Herkunft von den Kosaken her hatte, sowie die Krim als nochmals davon getrennten Sonderfall. Darauf basierend ist es heute die Behauptung der Russen, die Ukraine in ihren aktuellen Grenzen sei nicht natürlich, sei falsch, müsse so beseitigt werden, weil sie aus drei verschiedenen Gebieten erst in der Sowjetunion so zusammen gesetzt wurde. Die damit einhergehende Schwächung der ethnischen Ukrainer in ihrem "Reststaat" würde dann diese zudem in eine Position versetzen, in welcher sie sich unterwerfen müssten, womit das eigene zerfallene Ego wiederhergestellt ist.

Aber um noch ein wenig bei der Geschichte zu bleiben und da ja explizit Chmelnyzkyj genannt hast. Dieser startete ja einen Aufstand der Kosaken, schlussendlich auch der Ukrainer gegen Polen. Da die Polen militärisch zu stark waren, bot er dem russischen Zaren an, den eigentlich de facto unabhängigen Kosakenstaat welchen er da geschaffen hatte der russischen Krone zu unterstellen. Damals gab es ja noch kein solches modernes ethnisches nationales Verständnis von Völkern und Staaten. Da Russland dies aber anfangs ablehnte (!), wandte er sich als nächstes an das Krim-Khanat (da haben wir sie wieder, die Krim) und konnte damit anfangs gegen die Polen durchhalten. Da dies aber langfristig zu einer Stärkung des Krim-Khanats führen musste, und damit etwaig die "Ukraine" an die Osmanen hätte fallen können, entschloß sich Russland nun doch zu handeln und nahm das Hetmanat in das Zarenreich auf - unter Gewährung weitreichender Autonomie.

Damit war schlussendlich die Ukraine als eigenständiger Staat entstanden, auch wenn sie damals noch nicht so hieß. Auch die Kleinrussen wurden bereits zu dieser Zeit greifbar. Dem Tod von Chmelnyzkyj folgte aber dann dass, was man heute in der Ukraine Руїна nennt, der rasche Zerfall der Eigenstaatlichkeit und der de facto Proto-Ukraine. Das Hetmanat (die Proto-Ukraine) versuchte Russen wie Polen gegeneinander auszuspielen um tatsächlich als eigener Staat auf die Füße zu kommen, und lief daher im folgenden mehrmals wieder zu den Polen über, oder verbündete sich mit den Krim-Tataren. So wurden die Russen beispielsweise von den Ukrainern und den mit ihnen verbündeten Krim-Tataren 1659 vernichtend geschlagen. Das ständige hin und her führte aber nicht zu einem eigenen Staat "Ukraine", sondern schlussendlich zum Zerfall des Hetmanats und dessen Aufteilung unter die benachbarten Großmächte. Schlussendlich wurde die Ukraine dann zwischen den Osmanen, Polen und Russland zerrieben, dies aber nicht durch eine fortwährende äußere Agression dieser Mächte per se, sondern aufgrund eigener massiver politischer Fehler und innerer Spaltung sowie ständig hin- und herschwankender unbeständiger Außenpolitik.

Die Dreiteilung von West- Ost- und Krim ist daher nicht zuletzt ein Resultat dieser Zeit des Ruins der frühen Ukraine.

Dessen ungeachtet ist die Ukraine entgegen aktueller russischer Darstellung eben nicht ohne weit zurückreichende Wurzeln und hatte durchaus einen Anfang als eigener Staat mit eigener Kultur und Sprache im Hetmanat, welches sich keineswegs nur auf die heutige Westukraine erstreckte. Beispielsweise flohen viele Ukrainer vor dem großen Polnisch-Osmanischen Krieg welcher die West-Ukraine verheerte in die Gebiete der Ost-Ukraine welche heute Russland beansprucht.

Und seit diesem Zeitpunkt waren die Kleinrussen nur noch eine vernachlässigbare Kleingruppe am Rande des russischen Imperiums, mit welcher man verfuhr wie es einem beliebte, die man aber darüber hinaus von russischer Seite aus nie ernst nahm und nie wirklich negativ sah.

Sowohl im späten Zarenreich als auch in der Sowjetunion war das Bild der Ukrainer ein völlig anderes, als dass was es heute in Russland ist ! Wenn man damals von der Ukraine sprach, hatten die Russen lauter positive, etwas verniedlichende und etwas altertümliche Bilder im Kopf. Kein Russe in der Sowjetunion sah die Ukrainer so wie man sie heute in Russland sieht. Und auch umgekehrt sah sich ein Gros der Menschen in der Ukraine durch die lange Zeit der russischen Vorherrschaft als Russen oder derart der russischen Welt zugehörig, dass man sich keine Trennung von dieser auch nur vorstellen konnte.

Dies wurde dann durch die letzten dreißig Jahre vollständig verändert. Selbst noch zur Zeit Jelzins war das Bild der Ukraine keineswegs negativ (in der russischen Bevölkerung) und ebenso umgekehrt das der Russen nicht negativ für die Ukrainer (wenn man von den üblichen Radikalen und Ultranationalisten auf beiden Seiten absieht).

Was aber seit der Unabhängigkeit der Ukraine durchwegs nur negativ war, war die russische Politik gegenüber den Ukrainern. Das war und ist immer noch eine dialektische Entwicklung gewesen, bei welcher russische politische Fehler und extremste Arroganz der Russen die Ukrainer immer mehr künstlich in eine Feindschaft trieben, worauf die Russen noch negativer in Bezug auf sie reagierten, worauf die russische Politik gegenüber der Ukraine immer noch negativer wurde usw. eine fortwährende Spirale.

Vor dreißig Jahren nannte kein Ukrainer die Russen Orks. Noch vor zehn Jahren tat man das nicht. Um mal nur diese eine Sache von dir aufzugreifen: Die Titulierung als Orks ist eine sehr junge Entwicklung, die erst mit dem Krieg und den Taten der Russen in der Ukraine aufkam. Das ist eine völlige Neuentwicklung die keinerlei historischen Kontext hat. Im übrigen werden keineswegs wahllos russische Schriftstücke zerstört, und auch nicht gegen alles Russische an sich gewütet wie das in Russland gerne falsch dargestellt wird.

Stattdessen haben es die Russen seit 2014 geschafft, dass selbst die ethnischen Russen in der Ukraine inzwischen mehrheitlich gegen Russland sind (wenn man die seit 2014 besetzten Ostgebiete abzieht, in welchen die Bevölkerung aber auch keine Wahl und keine Freiheit hat). Die Spaltung der Ukraine aufgrund der oben angerissenen historischen Entwicklung wurde durch die Taten der Russen überwunden, und heute ist die Ukraine tatsächlich so geeint wie seit den Zeiten des Hetmanats nicht mehr. Entsprechend beruft man sich auch sehr weitgehend auf dieses und auf das Kosakentum an sich.

Die ukrainischen Russen sehen sich heute inzwischen als Nachfahren bzw. in der Nachfolge der Kosaken, welche lieber frei als unter russischer Knute leben wollten etc. und postulieren damit eine bewusste Trennung von Russen unter der Gewaltherrschaft Moskaus und ihnen als freien Russen in der Tradition der Flüchtlinge welche lieber in die Steppe unter die Tataren zogen als sich dem Zaren zu beugen.

Und es ist sogar historisch korrekt, dass diejenigen welche in das Wilde Feld zogen um dort frei von Moskau zu sein, sowohl Ukrainer, als auch Russen waren, und sich beide dann dort zu einer Nation der Kosaken zusammen fanden (Saporoger Hetmanat). Faszinierenderweise gibt es nicht wenige ethnische Ukrainer, die sich heute wenn man sie nach ihrem ethnischen und kulturellen Bezug zu Russland fragt, als Freie Russen definieren. Im Gegensatz zu den Russen in der Russischen Föderation. Das ist exakt die gleiche historische Definition während des Hetmanats.

Die heutige Ukraine ist also schlussendlich wenn man es überspitzt so ausdrücken will: Das Freie Russland. Und viele Ukrainer sehen dies inzwischen so.

Und damit schließt sich der Kreis zum beleidigten Ego der Russen, deren Selbstwertgefühlt durch die Ukrainer angegriffen wird: denn die Mafia-Kamarilla des St. Petersburger Zirkels rund um den Botoxopa ist natürlich nicht davon angekränkelt, aufgrund von Selbstwertgefühlt usw. zu handeln, damit manipuliert man nur die eigene Bevölkerung. Was also stört den Botoxopa selbst an der Ukraine ?! Es ist eben dieser Gedanke eines freien Russland, als Alternativmodell zu seinem System. Wenn die Ukrainer beweisen würden, dass Russen frei, demokratisch und dabei auch noch erfolgreich sein können, so würde dieser Fakt als Beleg vor der eigenen Haustür die Macht des eigenen Systems in Frage stellen.

Die Ukraine muss daher aus Sicht des St. Petersburger Zirkels in jedem Fall vernichtet werden, und als mindestes so geschädigt werden, dass sie dauerhaft nicht erfolgreich ist und damit als mahnendes Beispiel für die Leibeigene Bevölkerung daheim herhalten kann, wohin es führt, als Russe frei sein zu wollen.

Es ist dieser Verbund aus den Notwendigkeiten des eigenen Machterhaltes und der Frage der Quellen des eigenne Selbstwertgefühles, welcher die Russen in diesem Krieg so verbissen die Vernichtung der Ukraine betreiben lässt.

Die Notwendigkeiten der Macht und die russische Psyche gehen hier perfekt Hand in Hand.

Sollte das Freie Russland aber überleben und erfolgreich sein, so wäre das System Putin damit in einer Art und Weise in Frage gestellt, dass dessen Überleben (wortwörtlich wie übertragen) fragwürdig würde.

Und wieder einmal steht die Ukraine wie schon in ihren Anfängen im Hetmanat der Saporoger Kosaken zwischen den Großmächten, und wird zwischen dereren Machtspielen zerrieben. Aber vielleicht mag es ja diesmal gelingen, einen anderen Weg für die russische Welt zu eröffnen (auch die Republik Novogord wäre ein solcher gewesen, aber das ist eine andere Geschichte).

Um beschließend Ilja Repin zu zitieren:

Niemand auf der ganzen Welt hat so tief die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefühlt. (wie die Ukrainer)
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#24
Noch eine besondere Buchempfehlung die weit über die im Netz üblicherweise befindlichen Informationen hinaus geht:

https://www.amazon.de/-/en/Serhii-Plokhy/dp/110702210X

Es handelt sich um eine sehr ganzheitliche Abhandlung über das historische Manuskript der sogenannten "Geschichte der Ruthenen"

https://en.wikipedia.org/wiki/History_of_Ruthenians

Das faszinierende an diesem Werk ist, wie es Russen und Ukrainer jeweils völlig verschieden wahrnehmen. Für die Russen stellt dieses Werk den Beleg dar, dass die Ukrainer Russen sind, für die Ukrainer wiederum, dass sie keine Russen sind. Ein Russe sieht in den beschriebenen Taten die Verteidigung der russischen Welt gegen fremde Mächte (Ideologie der belagerten Festung). Ein Ukrainer sieht in den gleichen Taten wie die Ukrainer aufgrund der Umstände gezwungen waren, Teil der russischen Welt zu werden.
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#25
Häng ich noch was dran, über die Anfänge der Ukrainer: Wo kommen sie überhaupt her und woher ihre Sprache ?

In der Endzeit der Kiewer Rus, welche sowohl für die heutigen Russen als auch für die Ukrainer, Weißrussen und Russinen der gemeinsame Ursprung ist, in welchem sie allesamt praktisch gesehen noch ein Volk waren, trat eine starke Zersplitterung, Feudalisierung und ein völliger Verfall der Zentralgewalt auf, welcher die Eroberung der Rus durch die Mongolen stark beförderte. Vor allem der Süden der Rus (die heutige Ukraine) wurde stark entvölkert, und nur im Norden konnten sich noch russische Staaten eigenständig behaupten.

Im Gebiet der heutigen Ukraine, Weißrusslands und auch noch weiter im Westen überlebten aber durchaus auch Ostslawen orthodoxen Glaubens, welche direkte Abkömmlinge der Kiewer Rus waren. Diese gerieten unter eine unmittelbarere, direktere Herrschaft der Goldenen Horde als der Norden Russlands, wo die Mongolen / Tataren sich russischer Kollaborateure bedienten um dort ihre Herrschaft indirekt auszuüben und Steuern und Tribute dort einzutreiben.

Als Kollaborateur für die Mongolen / Tataren taten sich dabei vor allen anderen die Fürsten von Moskau hervor, welche schlussendlich Verräter an der russischen Welt waren, und für die Eintreibung der Steuern und Tribute für die Mongolen von diesen Vorteile, Macht und Gebiete erhielten, auf Kosten anderer russischer Fürstentümer. Damit begann der Aufstieg Moskaus als führendem russischen Staat, durch Verrat an den Russen und als Knecht und Exekutive der Mongolen.

Die vielen kleinen, ostslawischen, orthodoxen Fürstentümer im Süden und Westen hingegen, welche früher auch alle Teil der Kiewer Rus waren, standen unter viel direkterer Herrschaft der Goldenen Horde. Als diese jedoch durch innere Wirren, Einfälle von Außen (Tamerlan / Timur Lenk) stark geschwächt wurde, erlangten sie eine wachsende Unabhängigkeit, obwohl sie immer noch Tribute zahlen mussten. Die Verräter in Moskau hatten aber zu diesem Zeitpunkt ihre Macht noch nicht nach Süden ausgedehnt und waren zu dieser Zeit noch stark im Norden gebunden, insbesondere gegen die Republik Novgorod und die Republik Pskow. Dabei beanspruchten die Fürsten von Moskau den Titel eines Großfürsten von Wladimier als nominellen Oberherrn über Nordrussland, owohl dieser Titel eigentlich den Fürsten von Twer gehörte. Und nominell unterstand Novgorod dem Großfürsten von Wladimir, womit Moskau seinen Herrschaftsanspruch auf diese Republik begründete.

Das hatte auch weitere politische Gründe, denn Novogorod war zu einem Vorkämpfer für die russische Sache und gegen die Goldene Horde geworden, während Moskau ein Büttel der Goldenen Horde war. Heere aus Novgorod fielen regelmäßig in das Gebiet der Goldenen Horde ein und schwächten diese dadurch substanziell und trugen damit ebenfalls weitgehend zum Zerfall der Goldenen Horde bei. Und es war dieser Zerfall, der im Gebiet der heutigen Ukraine dann komplett neue Möglichkeiten und drastische Veränderungen schuf.

Unter einer ganzen Reihe von sehr fähigen Herrschern gelang es zu dieser Zeit dem immer noch heidnischen (!) Staat Litauen, sich immer weiter nach Osten und nach Süden hin auszudehnen. Dabei übernahmen die Litauer ostslawische, orthodoxe Fürstentümer und Kleinstaaten, welche aus der Kiewer Rus hervor gegangen waren. Ein Grund für diese ständige Expansion war der endlose Krieg der Litauer mit dem Deutschen Orden im Westen. Die Litauer waren gezwungen ihre Macht fortwährend zu vergrößern, um im Westen überhaupt militärisch bestehen zu können. Ein wesentlicher Grund für ihren Erfolg war wiederum ihre erstaunliche Toleranz (auch bedingt dadurch, dass der litauische Hochadel noch bis 1387 Heidnisch war) und dass sie die eroberten Ostslawen nicht nur auffallend gut behandelten (weniger Steuern, innere Autonomie usw.), sondern auch deren Sprache als Amtssprache übernahmen.

Denn im entstehenden Großfürstentum Litauen war es der Ostslawische, von der Kiewer Rus abstammende Adel, welcher dort militärisch, wie wirtschaftlich, wie kulturell eine immer größere Rolle spielte, was die heidnischen Litauer im Hochadel dieses erstaunlichen Staates nicht nur hinnahmen, sondern sogar aktiv förderten. So wurde das Ruthenische (!) die Amtssprache des Großfürstentums Litauen. Und bestanden die Heere der Litauer zu einem großen Teil aus Rus (!) also aus Ostslawen in der Abstammung von der Kiewer Rus.

Das Ruthenische aber, welches sich aus dem Altkirchenslawischen heraus entwickelt hatte, war schlussendlich nichts anderes als Alt-Ukrainisch (damals noch sehr viel näher am Russischen und faktisch fast identisch mit dem Alt-Weißrussischen). Durch die lange Herrschaft der Litauer über all diese Gebiete, und dieser folgend nach der Personalunion Litauens mit Polen der Herrschaft von Polen-Litauen setzte sich dann der Begriff Ruthenen für die de facto orthodoxen Russen unter Herrschaft der Litauer und später der Litauer-Polen durch. Und in dieser Zeit der Trennung der Ruthenen von den anderen Russen entwickelten sich diese sprachlich, und schließlich auch ethnisch von den Russen welche immer weitergehender unter die Herrschaft Moskaus fielen auseinander. Es entstand damit im Gebiet des Großfürstentums Litauen das Alt-Ukrainische, welches für Litauen die Amts- und Verkehrssprache wurde (vor der Union mit Polen und der dieser folgenden Polonisierung).

Entsprechend bezeichneten sich die Herrscher von Litauen immer als Fürsten der Litauer und der Russen !

In der Schlacht am Irpen (in der heutigen Ukraine) im Jahr 1321 besiegten die Litauer dann die vereinten Heere der Südrussen und besetzten Kiew und auch die Gebiete welche heute die Ost-Ukraine darstellen. Im Jahr 1362 besiegten die Litauer dann die Goldene Horde in der Ostukraine in der Schlacht am Blauen Wasser und konnten damit praktisch fast das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine unter litauische Herrschaft bringen und dauerhaft sichern. Es sah zu dieser Zeit so aus, dass Litauen die Nachfolge der Kiewer Rus übernommen hätte, und dass die Russen schlussendlich allesamt im litauischen Reich aufgehen würden.

Und die Litauer beanspruchten auch diese Nachfolge – die litauischen Herrscher erklärten, sie seien die Rechtsnachfolger und der Erbe der Kiewer Rus, und als Herrscher der Russen dazu ausersehen, alle russischen Fürstentümer zu einen und die Kiewer Rus wiederherzustellen.

Damit war eine Zweiteilung der russischen Welt entstanden – zum einen die Russen (orthodoxe Ostslawen) unter Herrschaft der Litauer (wobei Litauen zu dieser Zeit de facto ein russischer Staat war). Diese Russen nannte man dann Ruthenen. Daraus gingen die heutigen Weißrussen, Ukrainer und Russinen hervor. Zum anderen die Russen welche vom Großfürstentum Moskau unterworfen worden waren, welches sich mit dem Zerfall der Goldenen Horde ebenfalls unabhängig geworden war. Und auch Moskau beanspruchte das Erbe der Kiewer Rus für sich und die Herrschaft über alle Russen.

Und es ist diese Zweiteilung der Russen, in orthodoxe Ostslawen unter litauischer Herrschaft und orthodoxe Ostslawen unter der Knute Moskaus, welche zur Entstehung der ukrainischen Sprache, der Ethnie der Ukrainer und schließlich der ukrainischen Identität führte. Denn diese (anfängliche) Zweiteilung hielt für eine erstaunlich lange Zeit an. Beispielsweise kam Kiew erst 1667 wieder unter die Herrschaft Moskaus ! Damit hatte beispielsweise Kiew nicht weniger als 367 Jahre nicht unter der Herrschaft Moskaus, sondern unter litauischer Herrschaft gestanden ! (von 1321 bis 1667)

Man muss sich das mal gezielt vor Augen halten ! Kiew war 367 Jahre lang nicht unter russischer, sondern unter litauischer, also ruthenischer Herrschaft ! Und in dieser Zeit entstand dort und in den Gebieten westlich davon eben das Alt-Ukrainische, aufgrund dieser räumlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Trennung und damit die Ethnie der Ukrainer (Ruthenen).

Schließlich geriet Litauen als russischer Staat (die Litauer verstanden sich zu dieser Zeit nämlich tatsächlich als russischer Staat !) dadurch zwingend in den Krieg mit Moskau. Es kam zu einer über mehr als hundert Jahre andauernden Abfolge von Kriegen, in welchen Moskau anfangs durchaus regelmäßig verlor bzw. nicht voran kam. Dennoch gelang es den Russen von Moskau aus mit der Zeit Litauen immer mehr unter Druck zu setzen, und die Russisch-Litauischen Kriege zogen sich schlussendlich von 1368 bis 1570 hin. Die Litauer, welche über die Einheirat ihrer Fürsten in die polnische Krone (Jagiello) und den gemeinsamen Sieg mit den Polen zusammen über die Deutschen eng mit dem Königreich Polen verbunden waren, reagierten auf diesen ununterbrochenen Druck mit der Personalunion mit Polen. Damit verbunden wandten sie sich vom Heidentum als auch von der Orthodoxie ab, und dem Katholizismus und der polnischen Kultur zu. Es kam zu einer massiven Polonisierung der Litauer und des Adels im Großfürstemtum Litauen, zumal die Fürsten der Litauer die Polnischen Könige stellten. Damit war Litauen scheinbar auf dem absoluten Höhepunkt seiner Macht und Größe angelangt.

Dies veränderte aber den Charakter des litauischen Staates, welcher vor der Personalunion, der Machtübernahme der Litauer auch in Polen und der daraus folgenden Polonisierung eben ein russischer Staat gewesen war ! Damit wuchs der litauische Adel, welcher sich immer mehr dem Polentum zuwandte mit dem ruthenischen Adel auseinander. Militärische Erfolge Moskaus und die im Wilden Feld im Südosten des litauischen Reiches herrschende Anarchie und das dort entstehende Kosakentum führten dazu, dass die Ruthenen im Südosten sich immer mehr von den Litauern entfremdeten. In den ersten hundert Jahren des Großfürstentums hatte man die Fürsten von Litauen noch als Herrscher der Russen verstanden und auch so gesehen, jetzt erkannte man zunehmend die kulturelle Eigenständigkeit und vor allem lehnte man die Polonisierung ab. Damit wurde die Position der Litauer im Gebiet der heutigen Ukraine fortwährend geschwächt.

Ein perfektes Beispiel für diese Entwicklung ist beispielsweise die Abschaffung des Ruthenischen (Proto-Ukrainischen) als Amtssprache in Litauen, und die Ersetzung desselben durch das Polnische. Dies und vieles weitere, vor allen anderen aber die religiöse Frage (!) führten zu einem zunehmenden Verfall der Macht der Litauer über die Ruthenen. Die offiziell bis 1387 heidnischen Litauer waren insgeheim teilweise noch bis 1450 herum Heiden, und ausgesucht tolerant gegenüber der orthodoxen Kirche gewesen. Unter dem Einfluss der Polonisierung und der Durchsetzung des katholischen Glaubens, entstand hier eine Spaltung, auch wenn man diese in der Union von Brest 1596 und der Schaffung der sogenannten griechisch-katholischen Kirche zu überwinden versuchte.

Es war aber trotz der Union von Brest die ruthenisch-orthodoxe Kirche, welche maßgeblich sich von der Polonisierung abgrenzte und zunehmend Einfluss darauf nahm, dass die orthodoxen Ostslawen unter polnisch-litauischer Herrschaft doch eher zu Moskau, als rechtgläubig orthodoxen Staat gehören sollten, als unter die Herrschaft der katholischen Polen.

Damit verlor Litauen seinen Anspruch ein russischer Staat zu sein und der Nachfolger der Kiewer Rus. Was das Großfürstentum Litauen bis zur Personalunion mit Polen aber tatsächlich, also de facto wirklich gewesen ist – einschließlich russischer Sprache als Amtssprache.

Bezeichnend übrigens als Randnotiz, dass die Weißrussen die Zeit der Herrschaft der Litauer über Weißrussland heute noch als das Goldene Zeitalter Weißrusslands sehen und dass nach Weißrussischer Sichtweise das Großfürstentum Litauen kein litauischer, sondern ein weißrussischer Staat war ! Das wird heute noch so in Weißrussland verstanden, dass die über 300 Jahre währende Herrschaft der Litauer über die Ukraine in Wahrheit eine weißrussische gewesen sei.

Mit dem im Eintrag oben schon beschriebenen orthodoxen Kosakentum entwickelte sich dann im Gebiet der heutigen Ukraine eine militärische Kraft, welche die Ostslawen aus der Polnisch-Litauischen Herrschaft heraus führte, dies aber anfangs durchaus mit der Idee einer Eigenstaatlichkeit. Die Umstände aber, und die Position zwischen Polen-Litauen, dem Osmanischen Reich und Moskau führten wie oben schon beschrieben dann dazu, dass die Ruthenen im Süden sich schlussendlich Moskau anschließen musssten.

Kurzusammenfassung:

Die Ukrainer, das ukrainische als Sprache und die gesonderte ethnische Identität entstanden also in der mehr als 300 Jahre währenden Herrschaft der Litauer über die südrussischen Fürstentümer (Ruthenen). In dieser Zeit entwickelten sich die orthodoxen Ostslawen dort eigenständig von den orthodoxen Ostslawen im Norden und Osten welche unter die Herrschaft Moskaus fielen. Daraus entstand das Alt-Ukrainische, welches über lange Zeit die Amtssprache des Großfürstentums Litauen war. Dieses war ein de facto russischer Staat, in welchem proto-weißrussische und proto- ukrainische Adelige und Bevölkerungsgruppen die wesentlichste Rolle inne hatten. Dieser de facto russische Staat beanspruchte das Erbe der Kiewer Rus, verlor dieses jedoch durch eine Unzahl an Kriegen und durch die Polonisierung Litauens im Laufe von über hundert Jahren dann an Moskau.

Und die orthodoxen Ostslawen (Proto-Ukrainer) welche über 300 Jahre lang unter litauischer Herrschaft gestanden hatten (welche sie selbst jahrhundertelang massgeblich mitgetragen hatten !) wandten sich dann über das Kosakentum Moskau zu, weil die religiöse, kulturelle und sonstige Kluft zu den Polen größer wurde als die zu Moskau, vor allem aber um eigentlich die Selbstständigkeit zu erlangen, was ihnen aber aufgrund der politischen Gesamtumstände nicht gelang. So wurden sie entgegen ihrem eigenen Wollen Teil der russischen Welt im Sinne Moskaus.

Die Ukrainer entstanden also zu der Zeit, als das Großfürstentum Litauen ein russischer Staat war und das Erbe der Kiewer Rus beanspruchte. Sie wandten sich von Polen-Litauen ab als dieses Staat dieses Erbe nicht mehr beanspruchen wollte. Sie wurden aufgrund äußerer Zwänge dann Teil des russischen Imperiums unter der Führung Moskaus.

Die Ukrainer sind damit wie die Russen auch Erben der Kiewer Rus, aber schon seit 1321 auf einem eigenen Weg gewesen, der schlussendlich in der Zeit zwischen 1321 und 1667 in der Entstehung einer eigenen ethnischen Identität und einer eigenen Sprache mündete, wobei die ukranische Sprache der direkte Erbe der ruthenischen Amtssprache des Großfürstentums Litauen ist.
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#26
Wie viele Bücher liest du eigentlich so pro Stunde ?
Frag das nur für einen Freund...
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#27
So viele wie ich halt kann.

Gegenfrage: hat dir der Beitrag etwaig irgendwelche neuen Erkenntnisse und/oder Perspektiven gebracht ?
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#28
Die Grundlagen waren bekannt, bin aber nie so tief in die Materie eingestiegen. Mir reichen meist grundlegende Informationen. Daten, Namen u.ä. sind für mich eher unnötiger Ballast. Ich muss in der Lage sein Ereignisse in einen groben Rahmen einordnen zu können, was ist sonst in dem Jahrhundert passiert, reicht als Einordnung für mich. Das spezielle Jahr, ist da unwichtig. In neuerer Geschichte reicht da für mich ein Fünfjahresrahmen.
In diesem speziellen Fall, wusste ich in etwa in welchem Jahrhundert ( plus minus fünf 😤), Polen, Littauer und Ukraine eher eng waren. Auch erinnerte ich mich an allerdings drei russische Kiever Russ, welche sich stritten. Das mag aber mit der von dir beschriebenen "Abspaltung" nach dem zuwenden der Littauer zu den Polen begründet sein.
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