(Zweiter Weltkrieg) Unternehmen Barbarossa
#16
Rudi:

Zitat:Hast Du das Buch gelesen?

Die Frage ging zwar nicht an mich, aber ich habe tatsächlich mich durch eines seiner Bücher durchgearbeitet. Aber welches seiner Machwerke genau meinst du im vorliegenden Fall ?

"Deutschland im Visier Stalins. Der Weg der Roten Armee in den Europäischen Krieg und der Aufmarsch der Wehrmacht 1941 - Eine vergleichende Studie anhand russischer Dokumente"

"Die Aufklärung der Bedrohung aus dem Osten; Band 1 - 1939 bis Dezember 1940"

"Die Aufklärung der Bedrohung aus dem Osten: Band 2 - Januar bis Juni 1941."

Das erste dieser drei Bücher habe ich gelesen. Ich halte es für genau so richtig und gleichauf wie sagen wir das folgende Machwerk:

https://www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-...vkrieg.pdf

Aber mal ernsthaft: Schwipper benennt so viel wie nur irgendwie möglich, damit der unbedarfte Leser nicht mehr weiß wo oben und unten ist, und dem folgend behauptet er, der Krieg sei ein bloßer Präventivangriff, de facto ein Gegenangriff in einen sich bereits abzeichnenden Bereitstellungsraum gewesen. Das kann nur der glauben, der sich nicht näher mit der Materie befasst hat. Natürlich ist vieles von dem von Schwipper angeführten Material durchaus vorhanden und richtig zitiert, aber er benutzt es eben, interpretiert es und sucht es auch entsprechend der erkennbar schon vorher festgelegten Zielsetzung aus.
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#17
Ich bin momentan mit Freunden in der Sauna und habe deshalb so gut wie gar nicht die Gelegenheit, das Handy zu nutzen. Was ich Deinen Ausführungen entnehme, ist keine Kritik an Schwippers Ausführungen, sondern eine Zusammenfassung sekundärer Quellen, warum Rußland 1941 keinen Angriff plante.

Schwipper schaut sich im Detail die Aufstellung der sowj. Truppen im Sommer 1941 an und vergleicht sie mit der sowj. Doktrin. Und aus der Aufstellung der sowj. Truppen erkennt er zweifelsfrei die offensive Absicht. Beispiel aus der Erinnerung: Man kann leicht erkennen, ob die Luwtwaffe offensive oder defensiven Aufgaben hat, anhand der Lage der Feldflugplätze. Bei offensiven Absichten werden die Flugplätze in Grenznähe sein, damit bei Geländegewinnen die Flugplätze nicht gleich verlegt werden müssen, mit der Folge der Unterbrechung der Luftunterstützung. Bei defensiver Ausrichtung werden sie deutlich im Hinterland angelegt, damit sie nicht so leicht angegriffen werden können und bei Geländegewinn des Gegners nicht ebenfalls sofort im kritischen Moment die Flugplätze verlegt werden müssen und wiederum die Luftunterstützung fehlt.

Und so geht er alle Einheiten durch, vergleicht ihre Dislozierung mit der sowj. Doktrin und weist nach, daß die die Rote Armee in Angriffsstellungen lag, die erst kurz vor einem Angriff eingenommen werden.

Und genau das wird ja durch den Erfolg der Wehrmacht bestätigt, die einer auf Angriff ausgerichteten weot überlegenen Armee zuvor kam und sie dadurch gleich anfangs massiv schlagen konnte. Und Du, Schneemann, bestätigst das ja, daß genau das viele Wehrmachtssoldaten aus eigener Anschauung später berichtet haben.

Hat denn jemand überhaupt das Buch gelesen, bevor wir uns darüber unterhalten ?

Jedenfalls entnehme ich Deinen Ausführungen keine Widerlegung der von Schwipper geschilderten Fakten.

(16.03.2005, 19:05)Quintus Fabius schrieb: Ansonsten könnte man genau so den Angriff auf Frankreich als Überfall deklarieren, ja jeder Angriff überhaupt wäre folglich ein Überfall.

Das ist nun uralt, ich wußte gar nicht, wie alt dieses Forum ist.

Aber das kann ja gar kein Überfall sein, weil Frankreich, genau wie England, uns den Krieg erklärt hat.

(13.03.2005, 11:53)Quintus Fabius schrieb: Unternehmen Barbarossa

1 Woche vor Kriegsbeginn stürzte zudem eine der deutschen Höhenmaschinen/Spionageflugzeuge ab. Der sowjetische Generalstab machte daher Stalin den Vorschlag, sofort die Generalmobilmachung anzuordnen und die an der Westfront stehenden Armeen in 4 Tagen zum Angriff gegen die Deutschen vorgehen zu lassen. Das es nicht dazu kam liegt an einem ganzen Bündel von Faktoren.

Auch das stützt ja ganz klar die Behauptung, daß die Rote Armee in Angriffsstellung lag. Denn in vier Tagen kann man nicht aus Defensivstellungen angreifen. Das schaffen die Armeen selbst heute nicht.
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#18
@Rudi
Zitat:Beispiel aus der Erinnerung: Man kann leicht erkennen, ob die Luwtwaffe offensive oder defensiven Aufgaben hat, anhand der Lage der Feldflugplätze. Bei offensiven Absichten werden die Flugplätze in Grenznähe sein, damit bei Geländegewinnen die Flugplätze nicht gleich verlegt werden müssen, mit der Folge der Unterbrechung der Luftunterstützung. Bei defensiver Ausrichtung werden sie deutlich im Hinterland angelegt, damit sie nicht so leicht angegriffen werden können und bei Geländegewinn des Gegners nicht ebenfalls sofort im kritischen Moment die Flugplätze verlegt werden müssen und wiederum die Luftunterstützung fehlt.
Da liegt leider ein Irrtum vor. Der damalige - also im Frühsommer 1941 - Flugpark der Sowjets war von älteren Typen stark geprägt, etwa gab es noch eine Vielzahl von veralteten I-15- und I-16-Jägern (grob rund 2.500 Exemplare von etwa 4.200 Jägern in den westlichen Sektoren), die eine vergleichsweise geringe Reichweite hatten - wir reden hier von etwa 500 bis max. 700 Kilometern, was äußerst wenig ist, da die Maschinen ja normal auch wieder nach Hause zurückkommen sollten.

Bereits während des spanischen Bürgerkrieges haben sowjetische Militärberater auf der Seite der spanischen Republikaner deswegen den Hinweis ausgegeben, dass die Maschinen in jedem Falle - egal ob defensiv oder offensiv angesetzt - in Frontnähe sein müssten, wenn sie überhaupt zeitnah in der Lage versetzt werden können sollen, über der Front in Kämpfe eingreifen zu können. Aus diesem Grund waren auch die sowjetischen Flugplätze in Ostpolen 1941 recht nahe an der eigentlichen Grenze (was es den Deutschen dann auch ermöglichte, diese frontnahen Plätze teils mit zehn, zwölf oder gar mehr Feindflügen pro Tag je Bomber anzugreifen [!], was entsprechend auch die verheerenden Verluste der Sowjets in den ersten 24 Stunden erklärt). Dies war aber, wie gesagt, dem Umstand der geringen Reichweite der alten Typen geschuldet. Hieraus eine Offensivabsicht ableiten zu wollen, ist allerdings nicht möglich. Zudem muss berücksichtigt werden, dass quasi keinerlei Tarnungen oder Schutzmaßnahmen vorlagen, die Maschinen standen wie im tiefsten Frieden Flügel an Flügel auf den Rollfeldern, oftmals nicht aufgetankt und aufmunitioniert - für die Deutschen ein Scheibenschießen...
Zitat:Und genau das wird ja durch den Erfolg der Wehrmacht bestätigt, die einer auf Angriff ausgerichteten weot überlegenen Armee zuvor kam und sie dadurch gleich anfangs massiv schlagen konnte. Und Du, Schneemann, bestätigst das ja, daß genau das viele Wehrmachtssoldaten aus eigener Anschauung später berichtet haben.
Nein, das bestätige ich nicht. Ich habe dargelegt, dass a) Schukow und Timoschenko die Gefahr zwar durchaus sahen, aber dass b) Stalin nichts von einem Angriff der Deutschen oder einer eigenen Offensive wissen wollte. Hinzu kam, dass c) Schukow und Timoschenko auch wussten, dass die Truppen nicht wirklich kampfbereit und auch erst recht nicht angriffsbereit waren.

Hinzu kommt, dass die anfangs sehr schnell vorrückenden deutschen Verbände fast immer dann aufgehalten wurden, wenn sie a) auf entschlossene Verteidiger stießen - etwa schon in Brest-Litowsk, aber auch entlang der Molotow-Linie sowie später auch bei Smolensk [d. h. die Verteidigung hat durchaus teils ihren Zweck erfüllt, es gibt auch viele deutsche Berichte, die diese Tapferkeit der Russen in der Verteidigung erwähnen] - oder b) auf eine der wenigen sowjetischen Einheiten stießen, die bereits mit moderneren Panzern (T-34) oder schweren Panzern (KW-1 & -2) ausgestattet waren. (In der Anfangsphase von "Barbarossa" waren viele russische Panzer noch älteren oder leichteren Typs, etwa BT-Modelle oder T-26 etc.) Aber selbst die Gefechte mit diesen Einheiten, die über T-34 oder KW-1 verfügten, wobei die Deutschen da durchaus temporär aufgehalten wurden und auch empfindliche Eigenverluste erlitten, z. B bei Rossienie in Litauen, waren von stümperhafter Führung auf sowjetischer Seite gekennzeichnet. Manche Panzer, die voll einsatzbereit waren, stießen einzeln vor, blieben dann aber erstmal nach wenigen Kilometern stehen, weil die Crews nicht wussten, was sie machen sollten etc. Dieser Umstand ermöglichte es dann auch den Deutschen, diese Kräfte durch ihren koordinierten und von erfahrenen Leuten geleiteten Einsatz verbundener Waffen niederzukämpfen. Kurzum: Die Rote Armee war 1941 sicherlich vieles, aber sie war nicht auf einen Angriff vorbereitet.

Schneemann
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#19
Stichwort Sowjetische Doktrin: die Doktrin dieser Zeit sah in jedem Fall einen möglichst frühen Gegenangriff vor. Das heißt, auch bei einer Defensive war es das Ziel, so schnell wie nur irgendwie möglich von der Defensive in eine Gegenoffensive überzuwechseln. Noch darüber hinaus war Stalin ein Befürworter einer Vorwärts-Verteidigung und ging davon aus, dass die Wehrmacht gar nicht tief in den sowjetischen Raum eindringen könne, wie schon beschrieben schätzte man auf sowjetischer Seite die Zahl der deutschen Truppen dafür als viel zu gering ein.

Seit der Schlacht bei Nomonhan waren die Sowjets von der Grundidee überzeugt, jeden feindlichen Angriff sofort und unmittelbar an der Grenze mit Truppenmassen ersticken zu können, um dann ohne dass der Feind überhaupt voran gekommen war diesen dann der erfolgreichen Abwehr folgend offensiv angehen zu können.

Und genau deshalb diese Vorwärtslozierung der Verbände.

Das ist ironischerweise gar nicht so verschieden von der Aufstellung und der grundsätzlichen Doktrin der NATO in Westdeutschland vor allem zu Beginn des Kalten Krieges - Vorwärtsstrategie, dann Vorwärtsverteidigung genannt. Auch hier war die Idee, die Russen so weit östlich wie möglich, also unmittelbar in Grenznähe abzufangen. Und entsprechend waren die Verbände der NATO aufgestellt.

Nun zur Frage wie Schwipper überhaupt zu seinen Auffassungen kommt:

Er ist ein NVA Offizier, welcher in der Doktrin der Sowjetarmee des Kalten Krieges militärisch sozialisiert wurde. Diese Doktrin war sehr viel offensiver als die der Sowjets vor dem 2WK. Die Offensive wurde während des Kalten Krieges zur Zeit von Schwippers aktivem Dienst extrem überhöht, jedes Vorgehen der Sowjets war zu dieser Zeit immer als sofortige Offensive gedacht. Entsprechend seiner praktischen realen Erfahrung als Ost-Offizier, seiner militärischen Lehrgänge in Russland welche er besuchte und damit seiner praktisch-realen Erfahrungen mit der Roten Armee floß diese Überhöhung des Offensiv-Gedankens daher auch in seine Auffassungen wie das militärische Geschehen 1941 gewesen sein muß.

Auch das stützt ja ganz klar die Behauptung, daß die Rote Armee in Angriffsstellung lag. Denn in vier Tagen kann man nicht aus Defensivstellungen angreifen. Das schaffen die Armeen selbst heute nicht.

Mal abgesehen davon dass man das damals durchaus konnte, und sowohl in Nomonhan die Japaner wie auch die Sowjets exakt so etwas praktiziert hatten, lagen diesem Vorschlag mehrere Fehlannahmen zu Grunde. Zum einen eine extreme Unterschätzung der quantitativen und auch der qualitativen Stärke der deutschen Verbände, eine heillose Überschätzung der eigenen MIttel, der Umstand dass viele Sowjetverbände nur auf dem Papier vollständig und einsatzbereit waren, und die Annahme, dass man in den deutschen Bereitstellungsraum vorstoßen könne, bevor die deutschen Truppen dort ihre Gefechtsaufstellung eingenommen hätten bzw. bevor sie dort zum Kampf und zur Defensive befähigt werden.

Jede dieser Annahmen war falsch. Ein sowjetischer Angriff auf die deutschen Einheiten im Osten wäre genau so katastrophal verlaufen wie der Versuch einer Vorneverteidigung den Stalin hier anstrebte, und hätte allenfalls den Deutschen propagandistisch immens genutzt, wären sie ja dann eben nicht die Angreifer gewesen.

Der Grund für die sowjetische Arroganz und den Versuch einer Vorwärtsstrategie (Vorneverteidigung analog zur NATO in den ersten Jahren des Kalten Krieges) lag also in den falschen Auffassungen welche die Sowjets in diesem Kontext hatten, und zu einem wesentlichen Anteil auch in ihrer ideologischen Verblendung.

Beispielsweise gingen die Kommunisten davon aus, dass sich im Falle eines Angriffs der Deutschen die Arbeiter in Deutschland und in der Wehrmacht erheben würden etc. Beschließend könnte man daher Schwipper vor allem anderen unterstellen, dass er sich viel zu sehr auf bloße militärische Logik stützt und viel zu wenig die ideologischen und politischen Faktoren berücksichtigt, welche aber gerade für das militärische Handeln der Sowjetunion immens wichtig waren.

Ohne eine Berücksichtigung von Ideologie und politischen Auffassungen und vor allem der inneren Verfasstheit der Sowjetunion werden viele ihrer militärischen Handlungen und vor allem ihrer militärischen Fehler nicht verständlich. Und gerade weil sie deshalb für Schwipper nicht verständlich sind, sucht er entsprechend Gründe die aber in der Realität nicht gegeben waren.

Die Sowjets haben immense militärische Fehler begangen. Aus einer Vielzahl von Gründen, vor allem aber auch aufgrund ihrer ideologischen Verblendung, der Fehler der absoluten Führungsspitze (Stalins selbst) und die Vorneverteidigung war so ein militärischer Fehler. Nicht geboren aus einem dahinter stehenden militärischen Offensivkonzept, nicht aus einer sinnvollen militärischen Zielsetzung, sondern aufgrund der rein persönlichen Ansichten Stalins und seines engsten Führungskreises.

Und da kommt erneut Schwippers eigene militärische Sozialisierung zum Vorschein: Zu seiner Zeit als Soldat galt: Die Rote Armee ist die beste, die Russen sind überlegen, die russische Führung hatte immer recht usw usf, Entsprechend kann nicht sein, was nicht sein durfte: nämlich dass militärische Vollversager hier die Rote Armee durch eine falsche Doktrin der Vorwärtsverteidigung fast in den Untergang manövriert hätten. Also musste es naütrlich für diese ganze Aufstellung andere Gründe geben, so die Annahme Schwippers. Und passend zur Doktrin seiner Zeit fand er in diese im Offensivgedanken seiner Zeit.

Von daher sagen die Bücher Schwippers mehr über die Sowjetischen Streitkräfte des Kalten Krieges aus, als über die Rote Armee zur Zeit von Barbarossa.
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#20
Mir fehlt die Zeit um mich hier jetzt inhaltlich zu äußern (auch wenn ich gern so einiges zur Dislozierung und zum Einsatz der sowjetischen Luftstreitkräfte geschrieben hätte), möchte aber darauf hinweisen, dass in meinen Augen das elementare Problem die falsche Verknüpfung von Fakten und Schlussfolgerungen ist. Die Kausalität, dass letztere korrekt sein müssen weil erstere es nachweislich sind ist logisch nicht gegeben. Im Geisteswissenschaftlichen Bereich stellen die notwendige Interpretation und Selektion von Informationen eine gute Spielweise für die Thesenbildung dar. Eine kritische Gegenprüfung der Interpretation durch entsprechend widersprüchliches Quellenmaterial ist daher obligatorisch, und besonders wichtig wenn es um eine Neuinterpretation bekannter Fakten geht.

Um bei dem Beispiel zu bleiben: Von der Dislozierung der sowjetischen Luftstreitkräfte auf eine kurzfristige Angriffsabsicht Stalins zu schließen ist ein sehr weiter Weg, auf dem man über eine sehr deutliche Zahl an widerlegenden Fakten stolpern muss.
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#21
(24.02.2023, 08:42)Helios schrieb: Mir fehlt die Zeit um mich hier jetzt inhaltlich zu äußern (auch wenn ich gern so einiges zur Dislozierung und zum Einsatz der sowjetischen Luftstreitkräfte geschrieben hätte), möchte aber darauf hinweisen, dass in meinen Augen das elementare Problem die falsche Verknüpfung von Fakten und Schlussfolgerungen ist. Die Kausalität, dass letztere korrekt sein müssen weil erstere es nachweislich sind ist logisch nicht gegeben. Im Geisteswissenschaftlichen Bereich stellen die notwendige Interpretation und Selektion von Informationen eine gute Spielweise für die Thesenbildung dar. Eine kritische Gegenprüfung der Interpretation durch entsprechend widersprüchliches Quellenmaterial ist daher obligatorisch, und besonders wichtig wenn es um eine Neuinterpretation bekannter Fakten geht.

Um bei dem Beispiel zu bleiben: Von der Dislozierung der sowjetischen Luftstreitkräfte auf eine kurzfristige Angriffsabsicht Stalins zu schließen ist ein sehr weiter Weg, auf dem man über eine sehr deutliche Zahl an widerlegenden Fakten stolpern muss.

Das habe ich auch nicht gesagt, daß von der Dislozierung der sowjetischen Luftstreitkräfte auf eine kurzfristige Angriffsabsicht Stalins zu schließen ist, sondern nur ein Beispiel genannt, woran man erkennen kann, ob eine Dislozierung offensiv oder defensiv ist.

Nach der Einverleibung des Baltikums, Polens usw. wurde eine Verdoppelung der Flugplätze geplant. Die überwältigende Zahl der Flugplätze wurde max. an die neue Grenze herangerückt. Einige in einer Entfernung von einem Kilometer, viele in einer Entfernung von 10-40 km.

Aber man nimmt keine Angriffsstellung auf längere Zeit ein, wenn man nicht die Absicht hat, anzugreifen. Denn diese offensive Dislozierung ist ja im Falle des Angriffes durch den Gegner ein enormer Nachteil, wie die Rote Armee auch erleben mußte. Denn nur diese offensive Dislozierung ermöglichte ja die grandiosen Anfangserfolge der Wehrmacht.

Und es ist ja nicht nur die Dislozierung der Truppen, am 21.5. wurde eine Teilmobilmachung beschlossen mit der Einberufung von 766.000 Reservisten, und es war bspw. eine weitere gedeckte Teilmobilmachung vom 25. - 27.6. beschlossen. Die Allgemeine und Offene Mobilmachung sollte aus Überraschungsgründen erst am Tage der Offensive verkündet werden. Die Dokumente weisen alle auf einen geplanten Angriff ab dem 1.7. hin. Der Aufmarsch sollte vom 3.-5.7., spätestens bis zum 9.7. abgeschlossen sein.

Ein weiteres kleines Indiz, der Oberste Militärrat informierte die Truppen des Leningrader Militärbezirkes am 22.6.41 über den Beginn des Krieges mit der überraschten Feststellung: "Die Gefechtshandlungen begannen die Deutschen..."

Auch noch interessant, der Angriff wurde im Operationsplan vom 15.5.41 geplant. Nach dem Angriff Deutschlands wurde nun nicht ein Verteidigungsplan umgesetzt, sondern am 23.6. der Angriff gem. obigem Operationsplan befohlen. Erst nach den starken Erfolgen der Wehrmacht wurde am 25.6. zur strategischen Verteidigung übergegangen. Die Rote Armee war so stark auf den befohlenen Angriff fixiert, daß der Angriffsplan trotz des deutschen Angriffs noch befohlen wurde.

In dem Operationsplan war festgelegt, daß die Rote Armee die Offensive eröffnet, bevor die Wehrmacht angreift oder sich zum Angriff bereit stellt, sondern zu einem beliebigen Zeitpunkt ihrer Konzentration oder auch nur beim Anschein einer bestimmten Versammlung von deutschen Kräften.
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#22
Zitat: man nimmt keine Angriffsstellung auf längere Zeit ein, wenn man nicht die Absicht hat, anzugreifen.

Es sei denn man ist unfähig, und/oder zu arrogant - und/oder unterliegt sonstigen Fehlwahrnehmungen, wobei bei den Sowjets dieser Zeit alle drei genannten Aspekte reichlich vorhanden waren.

Nach dem Angriff Deutschlands wurde nun nicht ein Verteidigungsplan umgesetzt, sondern am 23.6. der Angriff gem. obigem Operationsplan befohlen. Erst nach den starken Erfolgen der Wehrmacht wurde am 25.6. zur strategischen Verteidigung übergegangen. Die Rote Armee war so stark auf den befohlenen Angriff fixiert, daß der Angriffsplan trotz des deutschen Angriffs noch befohlen wurde.

Wie ich es weiter oben schon ausgeführt habe, entsprach dies der Doktrin der Roten Armee dieser Zeit. Die hätten auf alles und jedes mit einem Angriff reagiert. Aber eine Reaktion ist und bleibt eine Reaktion und wird eben nicht dadurch zur Aktion, indem sie derart offensiv ist.
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#23
(24.02.2023, 07:39)Quintus Fabius schrieb: Stichwort Sowjetische Doktrin: die Doktrin dieser Zeit sah in jedem Fall einen möglichst frühen Gegenangriff vor. Das heißt, auch bei einer Defensive war es das Ziel, so schnell wie nur irgendwie möglich von der Defensive in eine Gegenoffensive überzuwechseln. Noch darüber hinaus war Stalin ein Befürworter einer Vorwärts-Verteidigung und ging davon aus, dass die Wehrmacht gar nicht tief in den sowjetischen Raum eindringen könne, wie schon beschrieben schätzte man auf sowjetischer Seite die Zahl der deutschen Truppen dafür als viel zu gering ein.

Seit der Schlacht bei Nomonhan waren die Sowjets von der Grundidee überzeugt, jeden feindlichen Angriff sofort und unmittelbar an der Grenze mit Truppenmassen ersticken zu können, um dann ohne dass der Feind überhaupt voran gekommen war diesen dann der erfolgreichen Abwehr folgend offensiv angehen zu können.

Und genau deshalb diese Vorwärtslozierung der Verbände.

Das ist ironischerweise gar nicht so verschieden von der Aufstellung und der grundsätzlichen Doktrin der NATO in Westdeutschland vor allem zu Beginn des Kalten Krieges - Vorwärtsstrategie, dann Vorwärtsverteidigung genannt. Auch hier war die Idee, die Russen so weit östlich wie möglich, also unmittelbar in Grenznähe abzufangen. Und entsprechend waren die Verbände der NATO aufgestellt.

Nun zur Frage wie Schwipper überhaupt zu seinen Auffassungen kommt:

Er ist ein NVA Offizier, welcher in der Doktrin der Sowjetarmee des Kalten Krieges militärisch sozialisiert wurde. Diese Doktrin war sehr viel offensiver als die der Sowjets vor dem 2WK. Die Offensive wurde während des Kalten Krieges zur Zeit von Schwippers aktivem Dienst extrem überhöht, jedes Vorgehen der Sowjets war zu dieser Zeit immer als sofortige Offensive gedacht. Entsprechend seiner praktischen realen Erfahrung als Ost-Offizier, seiner militärischen Lehrgänge in Russland welche er besuchte und damit seiner praktisch-realen Erfahrungen mit der Roten Armee floß diese Überhöhung des Offensiv-Gedankens daher auch in seine Auffassungen wie das militärische Geschehen 1941 gewesen sein muß.

Auch das stützt ja ganz klar die Behauptung, daß die Rote Armee in Angriffsstellung lag. Denn in vier Tagen kann man nicht aus Defensivstellungen angreifen. Das schaffen die Armeen selbst heute nicht.

Mal abgesehen davon dass man das damals durchaus konnte, und sowohl in Nomonhan die Japaner wie auch die Sowjets exakt so etwas praktiziert hatten, lagen diesem Vorschlag mehrere Fehlannahmen zu Grunde. Zum einen eine extreme Unterschätzung der quantitativen und auch der qualitativen Stärke der deutschen Verbände, eine heillose Überschätzung der eigenen MIttel, der Umstand dass viele Sowjetverbände nur auf dem Papier vollständig und einsatzbereit waren, und die Annahme, dass man in den deutschen Bereitstellungsraum vorstoßen könne, bevor die deutschen Truppen dort ihre Gefechtsaufstellung eingenommen hätten bzw. bevor sie dort zum Kampf und zur Defensive befähigt werden.

Jede dieser Annahmen war falsch. Ein sowjetischer Angriff auf die deutschen Einheiten im Osten wäre genau so katastrophal verlaufen wie der Versuch einer Vorneverteidigung den Stalin hier anstrebte, und hätte allenfalls den Deutschen propagandistisch immens genutzt, wären sie ja dann eben nicht die Angreifer gewesen.

Die Rote Armee unterschätzte den Gegner nicht, wie Du schreibst, sondern sie überschätzte ihn. Im Operationsplan vom 11.3.41 ging sie von 200 Verbänden aus (real am 21.6. 120), 10.000 Panzern (tatsächlich 3.332), 10.000 Flugzeugen (real 2.253). Einem solch massivem Angriff kann man nur mit einer umfassend vorbereiteten Verteidigungsoperation begegnen und von von dort aus zum Gegenangriff antreten. Ein Gegenangriff vom ersten Tag an ist illusorisch. Das dem sowj. Generalstab zu unterstellen ist naiv. Und wer mit einem solchen Angriff rechnet, kann seine Truppen nicht in absoluter Grenznähe aufstellen. Das also die Truppen in Grenznähe aufgestellt wurden, bestätigt die sowj. Angriffsabsichten, andere Absichten snd bei dieser Aufstellung nicht vorstellbar oder realistischerweise anzunehmen.

(01.03.2023, 23:42)Quintus Fabius schrieb: Es sei denn man ist unfähig, und/oder zu arrogant - und/oder unterliegt sonstigen Fehlwahrnehmungen, wobei bei den Sowjets dieser Zeit alle drei genannten Aspekte reichlich vorhanden waren.

Nach dem Angriff Deutschlands wurde nun nicht ein Verteidigungsplan umgesetzt, sondern am 23.6. der Angriff gem. obigem Operationsplan befohlen. Erst nach den starken Erfolgen der Wehrmacht wurde am 25.6. zur strategischen Verteidigung übergegangen. Die Rote Armee war so stark auf den befohlenen Angriff fixiert, daß der Angriffsplan trotz des deutschen Angriffs noch befohlen wurde.

Wie ich es weiter oben schon ausgeführt habe, entsprach dies der Doktrin der Roten Armee dieser Zeit. Die hätten auf alles und jedes mit einem Angriff reagiert. Aber eine Reaktion ist und bleibt eine Reaktion und wird eben nicht dadurch zur Aktion, indem sie derart offensiv ist.

Aber am 25.6. sind sie ja doch zur strategischen Verteidigung übergegangen, das widerspricht Deiner Behauptung.

Soweit ich weiß gab es gar keinen Verteidigungsplan, deswegen haben sie erstmal den Operationsplan ausgelöst, der eben den Angriff vorsah. Zumindest ist kein Verteidigungsplan bekannt. Und der Übergang zur strategischen Verteidigung ist dann einfach aus der Not geboren und improvisiert. Sie konnten ja in diesen Anfangstagen eh nur reagieren.

Mich erinnern diese krampfhaften Argumente an die Kriegsschuldlüge, die genauso krampfhaft jahrzehntelang verteidigt wurde, bis durch Clark eine Neubewertung vorgenommen wurde, unter der auch die bundesdeutsche Argumentation zusammenbrach. Wäre Schwipper Schotte, würde sein Buch wohl auch reichen. Aber natürlich kann so eine Neubewertung nicht durch einen Deutschen erfolgen.

Da wir bei der Luftwaffe sind. Alle Termine der Aufgaben an die Luftwaffe, wie Reorganisation der rückwärtigen Sicherstellung der Fliegerkräfte, Bau betonierter Startbahnen, 54 Räume der Basierung der Fliegerkräfte, Bestellung von neuem Kartenmaterial für die Fernfliegerkräfte, Beseitigung von Mängeln an der MIG 3, Tarnung von Flugzeugen und Flugplätzen, waren der 1.Juli 1941.

Wie oben ausgeführt, später wurde die weitere gedeckte Teilmobilmachung vom 25. - 27.6. beschlossen.

Alles lief auf den 1.Juli hin. Mein Eindruck, ab dem 1.Juli war eine militärische Spezialoperation geplant. Muß ja nicht gleich der Überfall auf ein anderes Land sein.
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#24
(23.02.2023, 11:38)Schneemann schrieb: Man sieht also, dass die Rote Armee nicht nur in keiner Weise kriegsbereit war - bzw. die meisten Einheiten nicht kampfbereit waren und auch Unterstärke und Führungs- und Versorgungsprobleme hatten -, was auch dem Versagen der oberen Führung geschuldet war, sondern dass sie noch viel weniger angriffsbereit gewesen wäre. Mal abgesehen davon, dass die obere Führung bzw. Stalin dies auch nie abgesegnet hätte, dass man zum Angriff übergeht. Das gilt zumindest für 1941, wie es dann ab August 1942 oder gar 1943 ausgesehen hätte, muss spekulativ bleiben.

Schneemann

Das hört man ja desöfteren, deswegen dazu noch einiges.

Der russ. Historiker Igor Bunitsch hat ja den so genannten Vorbefehl vom 11.6.41 vorgestellt, allerdings ohne Quellenangabe, weshalb dieser strittig ist. In diesem soll stehen: ... haben zum 1.7.41 zur Durchführung von Angriffsoperationen bereit zu sein...

Nun wird aber die Existenz dieses Befehls durch zahlreiche weitere Befehle und Direktiven gestützt. Bspw. wurde der Seekriegsflotte der UdSSR am 11.6. die Aufgabe gestellt, die vollständige Kampfbereitschaft herzustellen. Weiterhin wurden am 11.6. Maßnahmen zur Erhöhung der Gefechtsbereitschaft befohlen. Es gibt eine Weisung, ebenfalls v. 11.6., zum Vorziehen der Verbände der operativen Staffeln der Militärbezirke sowie der Fliegergeschwader aus der Tiefe auf grenznahe Plätze bis zum 25.6. Es wurde der Anmarsch der materiell voll aufgefüllten 16. Armee aus Fernost befohlen. Vorverlegung der 2. strategischen Staffel und Vorverlegung von insges. 29 Schützendivisionen näher zur Staatsgrenze in neue Lager.

Weisung zum Beziehen der Frontgefechtsstände, Vorziehen aller tiefer stationierten Schützenkorps bis zum 1.Juli.

Soviel dazu, daß "die Rote Armee nicht nur in keiner Weise kriegsbereit war..." Sie war nicht nur kampfbereit, sondern plante ab dem 1.Juli einen Angriff. Denn das Stalin nicht mit einem deutschen Angriff rechnete, ist ja allgemeine Überzeugung. Also wozu dann diese Befehle ?
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#25
@Rudi
Zitat:Der russ. Historiker Igor Bunitsch hat ja den so genannten Vorbefehl vom 11.6.41 vorgestellt, allerdings ohne Quellenangabe, weshalb dieser strittig ist. In diesem soll stehen: ... haben zum 1.7.41 zur Durchführung von Angriffsoperationen bereit zu sein...
Abgesehen davon, dass es i. d. T. keine Quelle gibt, wäre ein solcher Befehl nicht zwingend ein Beleg für eine Angriffsabsicht. Man muss bedenken, dass es in totalitären Staaten gerne auch gesehen wird, wenn man etwas herbeizaubert, was irgendwie nach einem gewissen Aktionismus aussieht (angesichts der Lage der Roten Armee im Sommer 1941 könnte man in diesem Befehl statt "Durchführung von Angriffsoperationen" auch "Durchführung der ersten Marsmission" schreiben - realistischer wird der geforderte Umstand dadurch allerdings nicht). Heißt: Völlig egal, auf wen dieser Befehl nun möglicherweise zurückgeht, gilt es festzuhalten, dass die Rote Armee 1941 in keinster Weise angriffsbereit war. Ich hatte es auf der vorangegangenen Seite geschrieben: Anfang Juni 1941 meldeten sich rund zwei Dutzend Divisionskommandeure bei Schukow und sagten faktisch, dass ihre Divisionen nicht einsatzbereit seien - von Angriffsbereitschaft ganz zu schweigen. Und um diese Einsatzbereitschaft überhaupt befehlen zu dürfen, mussten Schukow und Timoschenko (die beide die Gefahr witterten) Stalin geradezu belagern - und dies taten sie über Monate hinweg, da sie immer mehr Hinweise bekamen, dass die Deutschen munter einen Aufmarsch zelebrierten.
Zitat:Nun wird aber die Existenz dieses Befehls durch zahlreiche weitere Befehle und Direktiven gestützt. Bspw. wurde der Seekriegsflotte der UdSSR am 11.6. die Aufgabe gestellt, die vollständige Kampfbereitschaft herzustellen.
Korrekt. Das war aber nur "Alarmstufe 3". Und man sollte hinzufügen, dass die Seekriegsflotte noch am ehesten wusste, dass die Deutschen was im Schilde führten. Admiral N. G. Kusnezow, Volkskommissar der Marine, hatte zuvor laufend Nachrichten erhalten, dass deutsche Schiffe in den sowjetischen Küstengewässern aktiv sind und teils schon Minen geworfen hatten (!). Er war auch einer der Führungsoffiziere - neben Schukow u. a. -, die die Tatenlosigkeit der politischen Führung angesichts von Hitlers Aufmarsch mit großer Sorge sahen, aber er hatte sich nach einem Streit mit Stalin 1939 über den Bau von Großkampfschiffen (und es konnte durchaus sehr gefährlich sein, sich Ende der 1930er Jahre mit Stalin zu streiten) aus existenziellen Gründen verständlicherweise mit Widerspruch seitdem zurückgehalten. Aufgrund dieser Meldungen gab er am 19. Juni 1941 für die ihm unterstellten Flottenkommandos die "Alarmstufe 2" und am 21. Juni, um 23.37, Uhr die "Alarmstufe 1" (hohe Kriegsgefahr) aus. Einen Befehl zur Bereitmachung zum Angriff gab es aber nie.

Übrigens beschreibt dies auch Steigleder - dieser ist auch ehem. DDR-Offizier, aber im Gegensatz zu Schwipper nicht in den revisionistischen Bereich gegangen, sondern eher stramm auf der SED-Linie geblieben. Sonderlich glaubwürdig wird Steigleder dadurch übrigens nicht, da er einige fachliche Fehler in seinem Buch hat.
Zitat:Es gibt eine Weisung, ebenfalls v. 11.6., zum Vorziehen der Verbände der operativen Staffeln der Militärbezirke sowie der Fliegergeschwader aus der Tiefe auf grenznahe Plätze bis zum 25.6.
Ja, aber das entspricht der sowjetischen Doktrin (und entspringt den technischen Unzulänglichkeiten [Reichweite] der damaligen Flugzeugmuster).

Um das zu erläutern: In dem "Entwurf der Felddienstordnung 1939" (ich habe mir diese aktuell nochmals herangezogen) der sowjetischen Streitkräfte wird die These aufgestellt, dass ein Krieg im Regelfall sehr überraschend beginnen würde, sehr wahrscheinlich ohne eine Kriegserklärung (da lagen die Planer in Bezug auf "Barbarossa" durchaus richtig). Da man insofern den genauen Angriffszeitpunkt nicht sicher vorhersagen könnte, aber von einem Überfall ausging, ging man in der Annahme, dass man die Angriffsabsichten frühzeitig erkennen und durch einen eigenen Gegenschlag negieren müsste. Hierzu war es aber notwendig, entsprechend Truppen bereit zu halten und notfalls in die Bereitstellungsräume des Gegners vorzudringen.

Es gab intern übrigens starke Kritik an diesem Konzept, vor allem daran, dass es keine Pläne gab, wie defensiv vorgegangen werden sollte. Angesichts der stalinistischen Säuberungen hielten sich aber führende Offiziere mit allzu deutlicher Kritik zurück. D. h. man drehte ein mögliches defensives Konzept um in ein rein offensives bzw. nahm an, sich mit einem rein offensiven Konzept defensiv verhalten zu können. Und das ist natürlich nur unter optimalsten Bedingungen möglich, wenn man grob weiß, wann der Angriff kommen soll, wenn alle Truppen in Bereitschaft sind, wenn alle Truppen entsprechend gut ausgebildet und ausgestattet sind, wenn die Ziele der eigenen Operation klar definiert sind, wenn die Führungsoffiziere erfahren sind, wenn der Gegner nicht eine hervorragende Armee heranführt, die zudem noch technisch, in der Führung und im Verbund überlegen ist...

Wenn...

In der Realität standen die Truppen zwar in der Landschaft, waren aber faktisch nicht einsatzbereit, oftmals unterbesetzt, waren schlecht versorgt, hatten veraltetes Gerät (davon aber sehr viel), hundsmiserable Verbindungen, wurden durch unerfahrene Offiziere geführt und sahen sich einem hochprofessionellen Gegner gegenüber, der im Sommer 1941 vermutlich den Spitzenpunkt seiner militärischen Führungskunst erreicht hatte. Ach ja, und sie hatten noch eine Führung, die von einem Angriff der Wehrmacht nichts wissen wollte.

Ergo: Die sowjetischen Bewegungen 1941 waren Teil einer Defensivstrategie, sie waren darauf ausgelegt, mit eigenen Gegenstößen zu reagieren, wenn man angegriffen werden würde. Eine direkte, eigene Angriffsvorbereitung waren sie aber nicht. Abgesehen davon wären die sowjetischen Truppen 1941 zu einer Angriffsoperation überhaupt nicht fähig gewesen. Bzw. eine solche wäre zum Fiasko geworden, wenn man mit diesem Wanderzirkus in die "Tiefe des Raumes der Wehrmacht" hätte vorstoßen wollen.

Schneemann
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#26
(01.03.2023, 23:38)Rudi schrieb: Das habe ich auch nicht gesagt, daß von der Dislozierung der sowjetischen Luftstreitkräfte auf eine kurzfristige Angriffsabsicht Stalins zu schließen ist, sondern nur ein Beispiel genannt, woran man erkennen kann, ob eine Dislozierung offensiv oder defensiv ist.

Deine ursprüngliche Aussage war:
"Zuletzt hat Bernd Schwipper sehr überzeugend und detailliert die Angriffsabsichten Stalins nachgewiesen."

Ergänzt wurde diese dann später durch:
"Schwipper hat im Detail die Dislozierung der sowj. Truppen untersucht. Anhand der Dislozierung kann man mit absoluter Sicherheit sagen, ob eine Armee offensiv oder defensiv aufgestellt ist."

Es werden eindeutige und durchaus anerkannte Fakten genannt ("Dislozierung der sowjetischen Luftstreitkräfte"), diese werden interpretiert ("offensive Aufstellung"), diese Interpretation verallgemeinert ("mit absoluter Sicherheit") und, über mehrere Zwischenschritte und weitere, ähnlich aufgebaute Argumente, zu einem vermeintlich eindeutigen Fazit verarbeitet ("Angriffsabsichten Stalins").

Natürlich sagst du nicht explizit, dass man anhand der Dislozierung die Absichten Stalins erkennen kann - dies wäre schon rein logisch nicht nachvollziehbar. Aber natürlich geht es um diesen Zusammenhang implizit, ansonsten bräuchten wir das nicht diskutieren. Für dich (und auch für Schwipper, auf den du dich ja beziehst) ist es ein starkes, quasi unwiderlegbares Argument.

Dabei fehlt rein logisch bereits die Kausalität zwischen Interpretation und Fakt, so dass die Verallgemeinerung als Argument gar nicht zulässig ist. Vielmehr müsste sich die Interpretation der kritischen Betrachtung stellen. In dem konkreten Fall müsste man sich also anschauen, wie die sowjetische Doktrin aussah, aus welchem Grund welche Einheiten verlegt wurden, mit welcher Technik sie ausgestattet waren und welchen Einfluss diese auf die Leistungsparameter hatte. Wenn man das macht wird bereits deutlich, dass die Dislozierung externen Einflüssen unterworfen war, die Gesamtplanung keine Priorität auf frontnahe Entwicklungen legte und bereits die Terminologie von "Offensiver und Defensiver Ausrichtung" mit Blick auf die Luftstreitkräfte der Sowjetunion Anfang der 1940er Jahre unpräzise und missweisend ist.
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#27
(02.03.2023, 07:59)Schneemann schrieb: @Rudi
Abgesehen davon, dass es i. d. T. keine Quelle gibt, wäre ein solcher Befehl nicht zwingend ein Beleg für eine Angriffsabsicht. Man muss bedenken, dass es in totalitären Staaten gerne auch gesehen wird, wenn man etwas herbeizaubert, was irgendwie nach einem gewissen Aktionismus aussieht (angesichts der Lage der Roten Armee im Sommer 1941 könnte man in diesem Befehl statt "Durchführung von Angriffsoperationen" auch "Durchführung der ersten Marsmission" schreiben - realistischer wird der geforderte Umstand dadurch allerdings nicht). Heißt: Völlig egal, auf wen dieser Befehl nun möglicherweise zurückgeht, gilt es festzuhalten, dass die Rote Armee 1941 in keinster Weise angriffsbereit war. Ich hatte es auf der vorangegangenen Seite geschrieben: Anfang Juni 1941 meldeten sich rund zwei Dutzend Divisionskommandeure bei Schukow und sagten faktisch, dass ihre Divisionen nicht einsatzbereit seien - von Angriffsbereitschaft ganz zu schweigen.

Wieso haben sie denn gemeldet, daß ihre Divisionen nicht angriffsbereit sind ? Das ist doch eine Reaktion auf den Befehl, die Angriffsbereitschaft herzustellen.

(02.03.2023, 07:59)Schneemann schrieb: Um das zu erläutern: In dem "Entwurf der Felddienstordnung 1939" (ich habe mir diese aktuell nochmals herangezogen) der sowjetischen Streitkräfte wird die These aufgestellt, dass ein Krieg im Regelfall sehr überraschend beginnen würde, sehr wahrscheinlich ohne eine Kriegserklärung (da lagen die Planer in Bezug auf "Barbarossa" durchaus richtig). Da man insofern den genauen Angriffszeitpunkt nicht sicher vorhersagen könnte, aber von einem Überfall ausging, ging man in der Annahme, dass man die Angriffsabsichten frühzeitig erkennen und durch einen eigenen Gegenschlag negieren müsste. Hierzu war es aber notwendig, entsprechend Truppen bereit zu halten und notfalls in die Bereitstellungsräume des Gegners vorzudringen.

Das ist aber ein präventiver Angriff. Wenn ich vor einem Angriff des Gegners angreife, weil ich selbst von einem Angriff ausgehe, bspw. entsprechende Vorbereitungen aufkläre und in die Bereitstellungsräume vordringe, habe ich angegriffen. Und genau das sagt die Präventivkriegsthese, Stalin wollte selbst präventiv angreifen, zumal die Situation mit Angriff der Wehrmacht Englands günstig war.

Abgesehen davon war die Rote Armee 1941 nicht so kampfunfähig und unerfahren, wie Du sie darstellt. So hat sie alleine in den Jahren davor gegen Finnland, Polen, die baltischen Staaten, Japan und Bessarabien Krieg geführt. Es gab 1941 kaum eine Armee mir soviel Kriegserklärung wie die Rote Armee. Und das war alles nach den großen Säuberungen. Und die Aufrüstung nach 1939 war immens. Schlechte Führung und Ausbildung stimmen natürlich, aber das ist ein Merkmal russ. Armeen zu allen Zeiten und ist kein Beweis fehlender Offensivabsichten.

Davon abgesehen, bewegen wir uns eh nur im Bereich der Indizien. Ein Beweis kann nicht geführt werden, da die Geschichte bereits vor dem 1.Juli einen anderen Weg eingeschlagen hat.

Ich habe das Thema ja erneut aufgegriffen als Widerspruch zu Deiner Behauptung, die Präventivkriegsthese wurde bereits in den 80igern widerlegt und seitdem auch nicht mehr diskutiert. Das sehe ich eben anders und die zeitweise Öffnung der russ. Archive unter Jelzin hat eben vieles unbekanntes hervorgebracht.
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#28
Zitat:Wieso haben sie denn gemeldet, daß ihre Divisionen nicht angriffsbereit sind ? Das ist doch eine Reaktion auf den Befehl, die Angriffsbereitschaft herzustellen.
Nein, sie meldeten nicht, dass sie nicht angriffsbereit wären. Sie meldeten, dass sie nicht einsatzbereit seien und die Reservisten, die sie einzugliedern hätten, nicht eingliedern könnten.
Zitat:Das ist aber ein präventiver Angriff. Wenn ich vor einem Angriff des Gegners angreife, weil ich selbst von einem Angriff ausgehe, bspw. entsprechende Vorbereitungen aufkläre und in die Bereitstellungsräume vordringe, habe ich angegriffen. Und genau das sagt die Präventivkriegsthese [...]
Nein, die Präventivkriegsthese setzt voraus, dass ich zuerst angreife, um einem Angriff zuvor zu kommen. In der russischen Doktrin sollte der Gegenangriff erst auf den gegnerischen Angriff erfolgen, also ein Angriff als defensives Manöver ausgeführt werden.
Zitat:Abgesehen davon war die Rote Armee 1941 nicht so kampfunfähig und unerfahren, wie Du sie darstellt. So hat sie alleine in den Jahren davor gegen Finnland, Polen, die baltischen Staaten, Japan und Bessarabien Krieg geführt.
Doch, sie war unerfahren. Finnland war ein einziges Fiasko, Bessarabien und das Baltikum waren Spaziergänge ohne Gegenwehr und die Polen waren eh schon erledigt, als die Rote Armee kam. Lediglich gegen Japan konnte man einen Erfolg am Khalkhin Gol erringen, aber mit massiver Übermacht und unter horrenden Verlusten (zumindest verstehe ich das so, wenn ich 380 Panzer und Panzerwagen verliere und der Gegner nur ca. 40).
Zitat:Es gab 1941 kaum eine Armee mir soviel Kriegserklärung wie die Rote Armee.
Das ist falsch.
Zitat:Schlechte Führung und Ausbildung stimmen natürlich, aber das ist ein Merkmal russ. Armeen zu allen Zeiten und ist kein Beweis fehlender Offensivabsichten. [...] Davon abgesehen, bewegen wir uns eh nur im Bereich der Indizien.
Natürlich sind es (auch) Indizien, aber nicht nur, es gibt auch klare Hinweise und Dokumente und Gesprächsinhalte, die klar aufzeigen, dass die Sowjets keinesfalls 1941 kriegsbereit waren, zumindest nicht gegen Hitlerdeutschland.
Zitat:Ich habe das Thema ja erneut aufgegriffen als Widerspruch zu Deiner Behauptung, die Präventivkriegsthese wurde bereits in den 80igern widerlegt und seitdem auch nicht mehr diskutiert.
Um es hart zu sagen: In der seriösen Geschichtswissenschaft ist die These widerlegt und wird tatsächlich nicht mehr thematisiert. Alles andere ist Pseudowissenschaft und ein Herumdoktern an einem Gesamtgebilde, und dies fast immer mit dem Ziel, eigenes, oftmals revisionistisches Wunschdenken anhand irgendwo herausragender Strohhalme beweisbar zu machen.

Schneemann
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#29
Vor allen Dingen setzt ein Präventivkrieg voraus, dass man diesen auch als solches benennt und führt.
Im Falle des Überfalls auf die Sowjetunion war dies nicht der Fall, der Angriff erfolgte deutscherseits aus ureigenen Motiven und in deutscher Wahrnehmung keinesfalls um einem Angriffsbereiten Gegner *im letzten Moment* *geradenoch rechtzeitig* zuvorzukommen.
Selbst wenn sich in der historischen Rückschau heruasgestellt hätte, dass es parallel zum tatsächlichen deutschen Angriff auch konkrete und unmittelbare sowjetische Angriffsabsichten gegeben hat, rechtfertigt dies keinen einen Vernichtungskrieg im Sinne der nationalsozialistischen Idee.

Und um die Frage zu beantworten @Rudi, ich habe Schwippers Buch nicht gelesen, ich habe mir vor Jahren ein, zwei seiner Vorträge dazu angehört. Etwa den hier:
https://www.youtube.com/watch?v=6zaR-kHsFAY

Überzeugt hat mich das in der Gesamtbetrachtung nicht, zumindest nicht für 1941. Das Stalin seinerseits Angriffsabsichten hegte, in einem ihm günstigen Moment auch gegen Deutschland losgeschlagen hätte und es entsprechende militärische Planspiele gegeben haben muss lassen nicht den Schluss zu, dass ein derartiger Angriff auch nur mittelbar bevorstand, als Hitler sich zum Angriff auf die Sowjetunion entschlossen und seinerseits den Aufmarsch befohlen hatte.
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#30
Das kann man nur betonen: der Angriff Deutschlands erfolgte damals völlig unabhängig von irgendwelchen sowjetischen Plänen bzw. Absichten.

Schwipper untersucht primär die sowjetische Seite, die Deutsche Seite des ganzen lässt er wohlweislich außer Acht. Denn dann würde schnell offenkundig werden, dass die deutschen Planungen bezüglich der Sowjetunion in keinster Weise ein Präventivangriff waren und nie diese Intention hatten.

Die Kausalkette geht daher mehrheitlich in die Richtung: Die Sowjets bereiteten den Angriff vor, deshalb war der deutsche Angriff ein Präventivangriff.

Aber:

Selbst wenn man mal rein theoretisch annehmen würde, die Sowjets hätten einen zeitnahen Angriff vorgehabt, so ist die einfache und schlichte Wahrheit, dass alle deutschen Planungen völlig unabhängig davon geführt wurden, und der deutsche Angriff eine komplett andere und eigene Zielsetzung hatte. Es ging den Deutschen eben nicht darum, einem Angriff zuvor zu kommen, völlig egal ob ein solcher geplant war oder nicht.

Und deshalb war der deutsche Angriff völlig unabhängig von der Frage der sowjetischen Planungen kein Präventivangriff.
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