Nationbuilding und die Alternativen
#4
Broensen:

Zitat:"Traditionell" ist wahrscheinlich auch der falsche Begriff. Es geht mir nicht darum, bereits überholte Systeme zu erhalten, sondern lediglich die von den betroffenen Gesellschaften selbst gewählten zu erhalten, statt unsere Strukturen zu übertragen. Das kann durchaus auch die Akzeptanz islamistischer Herrschaften beinhalten, aber auch die von Dorf, Sippe, Clan und Stamm als kleineste Verwaltungseinheiten anstelle von Bezirken und Regionen.

Einer der im Westen so gut wie unbekannten Gründe warum die Taliban immer mehr Zuspruch von der Bevölkerung erhalten haben ist, dass sich die Taliban explizit als eine Alternative zu den Dörfern, Sippen, Clans und Stämmen etablieren konnten. Die Taliban sind eine Modernisierung der afghanischen Gesellschaft und richten sich erstaunlich weitgehend gerade eben gegen die traditionellen Machtstrukturen dort. Während man vorher den Dorfältesten, Clanführern, Stammesführern regelrecht ausgeliefert war und wenn man arm war und/oder nicht zur Führungselite gehörte keine Rechte und keine Chance hatte, haben die Taliban es geschafft unabhängig von diesen bisherigen Machtstrukturen auch einfachen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Dabei ist vor allem die Justiz der Taliban beachtenswert. Sie ist natürlich auch teilweise korrupt, teilweise inkompetent, aber dies eben sehr viel weniger als die von uns dort etablierte und die Taliban konnten und können eben Recht schaffen außerhalb der bisherigen traditionellen Machtstrukturen während die von uns dort geschaffene Justiz gerade eben in diesen traditionellen Machtstrukturen verfangen blieb und niemals sich von diesen befreien konnte.

Dorf, Sippe, Clan und Stamm sind daher genau genommen eben nicht die sinnvollen Verwaltungseinheiten, und die Gesellschaft in diesen Ländern will gerade eben diese traditionellen Strukturen überwinden und abwerfen. Und wendet sich gerade deshalb den Islamisten dort zu, weil diese die einzige echte Alternative dazu darstellen.

Zitat:MMn kann Nationbuilding gar nicht funktionieren. Man kann Menschen durch militärische Gewalt in ein staatliches System stecken und dieses aufrecht erhalten. Dadurch entsteht aber keine Nation.

Wir müssten vielleicht erstmal über den Begriff an sich sprechen und was dieser bedeuten soll. In vielen Gesellschaften weltweit haben wir vormoderne Systeme welche ohnehin keinen Nationalgedanken an sich haben. Es gibt dort gar keine Nation und kann diese auch gar nicht geben weil die Menschen dort gar nicht die Idee der Nation an sich sozialkulturell aufnehmen können.

Was verstehst du also unter Nation Building? Die Errichtung eines Nationalstaates nach europäischem Vorbild? Eine funktionierende Gesellschaft (gleich wie diese dann aufgebaut ist)? Eine Entwicklung von Gesellschaften in unsere Richtung, also in Richtung unserer Sozialkultur? Frieden und Stabilität unabhängig von allen bisher gennannten Möglichkeiten?

Zitat:Deshalb sind meine Ausführungen auch gerade eben nicht so zu verstehen, dass der Westen Staaten und Systeme schaffen soll, sondern sich im Gegenteil komplett aus diesen zurückziehen muss inkl. Revidierung der von außen geschaffenen Staatsapparate und Grenzen, insbesondere der kolonialen. So etwas wie nationale Einigungen können nur von innen heraus entstehen.

Das kann ich rein persönlich durchaus so teilen, setzt aber voraus, dass man das sich daraus zwingend ergebende Blutvergießen hinnimmt und sich gegen die Folgen des daraus entstehenden allgemeinen Massenmordens einfach gleichgültig abschottet. Was beides möglich ist. Das führt zudem in vielen vormodernen Gesellschaften zum Ende von Staaten an sich und zu bloßen geographischen Gebieten ohne jede staatliche Struktur. In einer globalisierten Welt ist das für uns von Nachteil wenn wir nicht in der Lage sind uns die Folgen dieser Strukturlosigkeit mit Gewalt vom Leibe zu halten. Wozu wir in unserer aktuellen Verfasstheit wohl nicht in der Lage sind.

Deshalb betone ich ja hin und wieder beispielsweise, dass wir trotz meiner grundsätzlich eher zu Isolationismus neigenden Grundhaltung Nordafrika unter Kontrolle kriegen müssen, insbesondere die Sahel-Zone.

Zitat:der praktikabelste Weg scheint für mich ein solches föderales Gebilde zu sein, dass einen möglichst großen Kulturraum umfasst, zahlreiche Herrschaften in sich vereint und nach außen hin vertritt. Nach allem, was der Westen in diesen Gebieten schon veranstaltet hat, sollte die Etablierung eines solchen Rates auch noch zu schaffen sein.

Meiner Einschätzung nach ist das eben unmöglich, weil die Beteiligten vor Ort kein solches Föderales Gebilde wollen, und zwar ausdrücklich nicht. Das ihr Wunsch nach einem eigenen Imperium real nicht funktionieren kann spielt dafür keine Rolle. Ein solcher "Rat" kann daher nicht etabliert werden, mit keinem Mittel der Welt, da alle die daran teilnehmen müssten völlig konträr zu dieser Idee stehen und etwas völlig anderes wollen.

Zitat:Ziel ist es, die Staaten Iran, Afghanistan und Pakistan dazu zu bringen, anstelle ihrer bestehenden Grenzen eine gemeinsame Islamische Föderation Indo-Iranischer Völker einzugehen. Freiwillig werden sie das nicht tun. Eine westliche Machtausübung innerhalb dieses Gebietes ist im erforderlichen Umfang unmöglich. Was aber (rein theoretisch) möglich wäre, ist die weitestgehende Abriegelung dieses Gebietes von außen. Die Russen und Inder sperren im Norden und Osten während der Westen eine Abriegelung in Irak, Kurdistan und Aserbaidschan vornimmt(, was rein praktisch allerdings den Einmarsch in den Iran erfordert). Diplomatischer Kontakt und Außenhandel werden nur noch über eine neue international anerkannte Gesamtvertretung der Region zugelassen. Zeitgleich gezielte militärische und geheimdienstlichen Einflussnahme im Inneren zur Destabilisierung der bestehenden Zentralstaaten. Mit dem erklärten Ziel, diese von innen heraus zu zerstören und durch kleinere Herrschaften zu ersetzen, unabhängig davon, wie diese sich dann zusammensetzen und woraus sie ihre Legitimierung ziehen. Wichtig ist, dass jede für sich nicht zu groß und mächtig wird, so dass sie auf Kooperation untereinander angewiesen sind und so die Basis für die von mir erwogenen Föderation entsteht.

Da du ja selbst einräumst dass dies aufgrund gewisser Umstände (Atomwaffen, andere Großmächte spielen nicht mit, im Gemetzel untereinander setzt sich ein Imperium durch etc) nicht wirklich möglich ist, möchte ich dich dennoch in Bezug auf deine Theorie als Denkansatz fragen, ob der Tot von Millionen und Abermillionen Zivilisten der sich aus einer solchen Strategie ergeben würde ernsthaft von dir so mitgetragen wird, nur damit aus all der Zerstörung heraus dann etwas erwächst was genau so dysfunktional wäre wie das was ist? Wir verursachen also mal im zweistelligen Millionen Bereich Tote Zivilisten für was? Damit wir ebenso instabile und dysfunktionale Strukturen haben die keineswegs stabil sind?

Zitat:Was ich aus dieser Theorie allerdings ableite ist die Annahme, dass es zu einem dauerhaft tragfähigen Regierungskonstrukt in dieser Großregion nur kommen kann, wenn dort die großen Staatstrukturen fallen.

Der Iran ist ein dauerhaft tragfähiges Regierungskonstrukt. Pakistan ist aktuell (noch) ein dauerhaft tragfähiges Regierungskonstrukt. Die ganze Region vollständig in die Luft zu blasen nur damit diese Feinde des Westens so nicht mehr sind und dort gefälligere Strukturen entstehen ist gelinde gesagt abstrus. Es wäre sinnvoller den Iran nicht mehr fortwährend ständig fertig zu machen und ansonsten sich darauf zu konzentrieren dass Pakistan nicht zerfällt. Nation Building sollte man daher auch als präventiven Ansatz verstehen und nicht erst dann betreiben wenn ein Staat scheitert. Zu verhindern das Pakistan abgleitet muss jetzt nach dem Umsturz in Afghanistan oberste Priorität haben.

Nation Building sollte nicht bedeuten Strukturen zu zerschlagen, zu zerstören damit dann aus dem Chaos sich von selbst etwas neues formt, sondern es sollte primär auf Stabilisierung hin ausgerichtet sein. Wenn alles kaputt ist, dann ist das natürlich wesentlich schwieriger. National Building als Präventive Maßnahme zum Erhalt von Strukturen (so schlecht diese auch sein mögen) macht daher oft mehr Sinn.

Nehmen wir mal den sogenannten Arabischen Frühling und was uns dieser gebracht hat. Wie hat man ihn in der Westpresse und Politik bejubelt, sogar Kriege geführt damit der Arabische Frühling sich ausbreitet und was hat es erzeugt?! Keineswegs entstand aus dem Chaos auch nur irgend etwas sinnvolles. So wäre es auch hier im Indo-Iranischen Raum.

Der Iran (als Entinität) ist des endlosen Dauerkampfes gegen uns schlicht und einfach müde, er würde mit uns problemlos koexistieren wenn wir ihn nur lassen würden. Pakistan ist eigentlich der Schwerpunkt, hier müsste man mit allen Mitteln einsetzen und Nation Building betreiben, dahingehend dass Pakistan nicht zu einem Failed State wird, den diese Gefahr besteht jetzt zunehmend. Ein Failed State mit Atombomben und Interkontinentalraketen ist inakzeptabel.

Beschließend sollten wir vielleicht mal über erfolgreiche Beispiele von Nation Building sprechen, weil aus diesen eher hervor geht was dafür notwendig ist/wäre.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
RE: Nationbuilding und die Alternativen - von Quintus Fabius - 09.09.2021, 13:14

Gehe zu: