Raketen nach hinten abfeuern
#6
Die Videos zeigen auch nur jene grundsätzlichen Fähigkeiten, die bekannt sind und auch von mir nicht in Frage gestellt werden. Natürlich besitzt etwa die AIM-9X eine 360 Grad Fähigkeit (mit dem richtigen System zur Zielaufschaltung), und natürlich wurde diese Fähigkeit auch bereits in Live-Tests bestätigt. Allerdings dienen diese Tests nur zwei wesentlichen Punkten. Zum einen die grundsätzliche Fähigkeit innerhalb vorgegebener Parameter zu demonstrieren (während der Evaluierungsphasen), zum anderen den Piloten eine Übungsmöglichkeit an der scharfen Waffe zu ermöglichen (während der Einsatzphase). Weder die QF-4 noch die kommende QF-16 ist allerdings in der Lage, eine realistische Simulation eines gegnerischen Flugzeugs der neuesten Generation vollumfänglich abzuliefern. Das wissen auch die Streitkräfte, weshalb typische Trainingsmission mit Demowaffen gegen eigene und befreundete Nationen noch immer einen sehr hohen Stellenwert besitzen (und ein Blick auf die veröffentlichten Ergebnisse lohnt sich).
Mein Argument ist aber, dass in jeglicher Präsentation natürlich stets der Idealfall abgebildet und als Normalfall dargestellt wird. Die Realität sieht aber anders aus. Selbst in den zuvor erwähnten Testsituationen gegen die eigenen Drohnen erreichte die AIM-9X ursprünglich nur eine Trefferquote von 58% (AIM 9X Annual Report 2013), die bei der Block II durch Überarbeitungen auf 78% gesteigert wurde (AIM 9X Annual Report 2014). Selbst gegen Testziele versagte also jede vierte Rakete. Hinzu kommt, dass die Fehleranfälligkeit im normalen Betrieb noch immer doppelt so hoch ausfällt wie vorgegeben und deutlich höher als bei der letzten Sidewinder-Generation (mit 289 Stunden zwischen kritischen Fehlern, AR2013). Realistische Schätzungen, die ich direkt von den Piloten bekommen habe, gehen von einer Quote von 25 bis 33% bei gleichwertigen Gegnern aus. Entscheidend dabei noch immer: die Position der Maschinen zu einander.

Das bringt mich zum zweiten erwähnten Punkt. Natürlich erscheint eine kleine und leichte Rakete deutlich manövrierfähiger als ein großes und schweres Flugzeug. Physikalisch kommt es allerdings nur darauf an, wie viel Kraft man letztlich aufbringen kann relativ zur Masse. Und da sind die derzeitigen bemannten Systeme vor allem durch den Piloten eingeschränkt. Ich sehe keinen Grund, der gegen deutlich höhere Beschleunigungsraten von unbemannten (und gerade im Kurzstreckenbereich so auch kleineren und leichteren Maschinen) spricht. Ob die das Niveau einer Kurzstrecken-Luft-Luft-Rakete erreichen, sei dahingestellt (eher unwahrscheinlich, aber auch nicht notwendig).
Die eigentliche Krux an der Physik ist jene, dass auch eine kleine und leichte Rakete relativ zu ihrer Größe viel Energie aufbringen muss, um die Richtung komplett zu ändern. Entscheidend ist dabei in einem gleichwertigen Luftkampf nicht der tatsächliche Aufwand, sondern der Unterschied beim Aufwand zwischen einer über die Schulter abgefeuerten Rakete und einer solchen, die hinter der Maschine abgefeuert wurde (denn das wird üblicherweise die Kampfsituation sein). Würde man von 100% Treffergenauigkeiten ausgehen, hätte immer der Pilot hinter der feindlichen Maschine gewonnen. Mit nach hinten feuernden Raketen sähe es dabei allerdings auch nicht groß anders aus. Geht man nun aber von nicht gleichwertigen Gefechten aus, dann könnte sich das Bild durchaus ändern. Unter der Voraussetzung, dass der Kampf nicht auf Distanz geführt werden kann (warum auch immer, Gründe gibt es genug), zählt die Manövrierfähigkeit bis hinunter zum Kurvenkampf deutlich mehr.

Zusammen genommen erklärt dies, warum die oberste Luftkampftaktik heute der Kampf auf größeren Distanzen ist. Aus dem Grund sind Stealth-Techniken relevant, aus dem Grund wird im ECM-Bereich viel Aufwand betrieben, aus dem Grund werden passivere Sensoren zur Zeit sehr massiv weiterentwickelt, und genau das ist der Vorteil von Maschinen der neusten Generation gegenüber älteren Generationen. Und letztlich ist auch das der Grund, warum man Raketen nicht nach hinten abfeuert, denn die minimalen Vorteile bei heutigen Kurvenkämpfen stehen gegen deutliche Nachteile zur heutigen Luftkampftaktik.

PS: AIM-9X nur als Beispiel, bei den anderen ist es auch nicht besser.
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