Gescheiterte Staaten
#2
Für mich ist ein gescheiterter Staat einer, dessen staatliche Ordnung in allen Landesteilen total zusammengebrochen ist. Es braucht recht viel, bis das geschieht. Die legitime Führung eines Staates muss dazu erst ihr Gewaltmonopol verlieren, bzw. sämtliche Mittel, um dieses auszuüben. Das kann einerseits sein, indem sich Armee und Polizei auflösen, oder wenn diese völlig unzureichend sind, um geltendes staatliches Recht (notfalls) mit Gewalt durchzusetzen. Das trifft auf wenige Staaten total, auf andere teilweise zu. Als total gescheiterten Staat kann man Somalia bezeichnen, sowie Afghanistan zu Beginn der 1990er-Jahre, als die Taliban noch nicht auf dem Vormarsch waren. Teilweise trifft der Zustand auf Papua-Neuguinea zu, dessen Zentralgewalt viel zu schwach ist, um die unzähligen tribalen Konflikte und Kleinkriege im Hochland zu unterbinden.
Bei Pakistan und Nigeria hingegen wäre ich vorsichtig. Beides sind ethnisch und religiös stark fragmentierte Staaten, die deswegen interne bewaffnete Konflikte erleiden müssen. Aber in beiden Staaten gibt es eine starke Zentralgewalt, sprich eine Regierung mit funktionierender Armee und Polizei, die staatliches Recht durchsetzen. Die aufständischen Islamisten in Nigeria wurden quasi aufgerieben, die Taliban in Pakistan geraten auch immer mehr unter Druck durch das pakistanische Militär. Bei diesen beiden Beispielen kann man meiner Meinung nach nicht von gescheiterten Staaten sprechen.
Bei Haiti kenne ich mich leider nicht aus, um meinen Senf dazuzugeben.

Zum Thema generell: Es ist sicher so, dass gescheiterte Staaten für die internationale Gemeinschaft ein Sicherheitsrisiko darstellen; überall dort, wo Anarchie herrscht, siedeln sich (nach unseren Masstäben) zwielichtige Gestalten an, weil sie dort ungestört schalten und walten können. Andererseits ist es auch so, dass die Menschen in diesen Gebieten in jedem Fall wieder zu einer Ordnung zurückkehren. Ein längerfristiges Überleben ist gar nicht möglich ohne ein gewisses Mass an Ordnung. Sowohl in Somalia, als auch in Afghanistan gab es nach einer Zeit der Anarchie jeweils eine Gruppe, die versuchte, das Land wieder zu einigen/ordnen. In Somalia sind das die Scharia-Milizen, in Afghanistan die Taliban (bis zu deren Vertreibung 2001). Ich halte zwar überhaupt nichts von dieser Art Ordnung (Steinzeit-Islam), aber es sind eben zwei anschauliche Beispiele, dass das Chaos eines gescheiterten Staates sich in der Regel von selbst wieder beruhigt.
Ein bisschen anders sieht es in Gesellschaften aus, die das Konzept "Nationalstaat" gar nie kennengelernt haben. Die unzähligen Stammesgesellschaften in Papua-Neuguinea sind ein Beispiel dafür. Der Staat hört dort an den eigenen Dorfgrenzen auf, die Bewohner des nächsten Dorfes können Feinde oder Alliierte sein, in wechselnden Beziehungen. Der eigentliche Staat, Papua-Neuguinea, existiert gar nicht, weil er von den Einheimischen gar nicht wahrgenommen wird. PNG enthält quasi einen Mikrokosmos von unzähligen Kleinstaaten, über die es keine Kontrolle hat. Und all diese Kleinstaaten haben gar kein Interesse, sich zu einer Einheit zusammenzuschliessen. Im konkreten Fall gibt es auch keine Gruppe, die militärisch so stark ist, dass sie den Rest einfach unterwerfen könnte (wie das z.B. die Taliban geschafft haben).
PNG ist insofern interessant, als dass man es vielleicht als kleines Abbild der UNO sehen könnte: die UNO versucht auch, mit mässigem Erfolg, ihre Interessen in der Staatengemeinschaft durchzusetzen. Man könnte also provokativ fragen: ist die UNO ein gescheiterter Staat?
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