Deutsche Kolonien
#46
@Helios
Zitat:Mir ist schleierhaft wie du zu dieser Beurteilung kommst, wo du doch die wesentlichen Faktoren, die allesamt eindeutig für einen Völkermord sprechen, selbst nennst? Die Intention von Berlin ändert weder etwas an der Dimension noch an der Bewertung.
Sehe ich ein wenig anders. Die Intention einer Regierung eines Landes ist meines Empfindens nach enorm gewichtig, ob ein Ereignis als Völkermord definiert werden kann (und muss) oder nicht. Ansonsten haben wir schlicht das Problem, dass die Grenzen derart verschwimmen, dass Abgrenzungen - in beiderlei Hinsicht (d. h. ob also ein Vorgang als solcher zu definieren ist oder eben nicht) - quasi nicht mehr möglich sind und damit eine gewisse Willkür um sich greift.

Ich bestreite die Taten in Deutsch-Südwest nicht, und ja, man kann sie auch als Genozid werten. Wenn sich die Bundesregierung dazu entschließt, diesen Schritt in Rahmen einer Aussöhnung mit der ehem. Kolonie zu gehen, dann soll es so sein und man soll es auch als Versuch ansehen, das Unrecht, das der Kolonialismus über andere Länder und Menschen gebracht hatte, als solches anzuerkennen bzw. dem Verdrängen entgegen zu wirken.

Psychologisch und moralisch gibt es hier sicher keinen Vorwurf oder einen Hebel, wo man Kritik ansetzen könnte. Politisch-rechtlich ist der Vorgang allerdings dennoch schwierig. Das Deutsche Reich an sich kann verantwortlich gemacht werden, da es sich seinerzeit entschlossen hatte, eine Kolonialmacht zu werden (auch wenn Bismarck nicht sonderlich begeistert war ob der "Platz an der Sonne"-Denke), damit trägt es quasi auch Verantwortung, was in seinen Kolonien geschieht, ob man nun einen Völkermord direkt "angewiesen" hat oder eben nicht.

Nur stellt sich dann die Frage, da ich faktisch jede Kolonialmacht für irgendetwas verantwortlich machen kann, was in einer Kolonie geschah, wo ich die Grenze zur Definition ziehe zwischen einem Genozid und "nur" einer Gräueltat. Wenn in Belgisch-Kongo im Rahmen einer äußerst grausamen Kolonialpolitik (Kautschuk-Gewinnung) über zehn, zwölf Jahre hinweg sich die Bevölkerung um mehrere Millionen reduziert (!), Schätzungen über Opfer schwanken irgendwo zwischen zwei und acht Millionen, was ist das dann? Ich könnte nun mit der Hungersnot in Bengalen 1942/43, dem Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika (der vermutl., infolge einer gezielt verursachten Hungersnot, bis zu 300.000 Opfer forderte, also ca. die 4-fache Anzahl der Opfer der Vorgänge in Deutsch-Südwestafrika; hier wird aber kein Genozid anerkannt), der französischen Kolonisierung Nordafrikas ab 1830 (vermutl. 500.000 bis 1 Mio. Opfer, was ca. 30% der Bevölkerung entsprach), dem Moro-Aufstand auf den Philippinen 1899-1902, wo US-Marines äußerst ruppig vorgingen (Dörferzerstörungen, Massenerschießungen, Misshandlungen), was ca. (offiziell) 200.000 Tote bedingte, weitermachen. (Und in diesen Fällen haben Regierungen teils offen die "harte Linie" nachweislich propagiert - im Gegensatz zu Namibia.) Man sieht also, dass das Drama Deutsch-Südwestafrika ein recht überschaubares ist. Und ich stelle dann ferner fest, ich finde kein Ende und weiß schlicht nicht mehr, wo der Genozid anfängt und wo nicht. Wo ziehe ich die Grenze? Ich kann es nicht sagen, gebe ich offen zu...

Des weiteren, und dies finde ich genauso irritierend, wird der Begriff "Völkermord" teils sehr inflationär genutzt. Ein Bsp. ist die Debatte um das Luf-Schiff, jenes Auslegerbootes, das Deutsche aus ihrer Kolonie Deutsch-Neuguinea nach Berlin verbracht hatten. Im SPIEGEL wurde dieses Thema vor einigen Wochen angesprochen und darauf hingewiesen, dass das Boot ja unrechtmäßig in deutschen Besitz gelangt sei (welche Kolonialmacht hat sich Dinge schon rechtmäßig angeeignet?). Das ist das eine - und hinsichtlich des Diebstahls von Kulturgütern sind wir uns sicher einig, dass man sie zurückzugeben hat -, das andere ist, dass im Magazin behauptet wurde, dass die Deutschen 1882 auf Luf (eine Insel, auf der man sich gerade mal umdrehen kann, im nördlichen Bismarck-Archipel) "ja ihren ersten Völkermord begangen hätten". Hintergrund: Es gab nach der Ermordung einiger Europäer dort eine Strafaktion zweier deutscher Kriegsschiffe. Aber: Man weiß nicht, wie viele Einwohner es auf der ca. 7 km² großen Insel überhaupt gab (Schätzungen schwanken zw. 200 und 500), weiß nicht, wie viele Personen von den deutschen Seesoldaten getötet wurden und kann nur sagen, dass es 20 Jahre später noch ca. 60 Einwohner gab. Sollte man da die Bezeichnung "Völkermord" nutzen? Das finde ich sehr gewagt und schlicht nicht angemessen. Aber vermutlich entspricht dies leider dem verklärenden Zeitgeist, genauso wie Denkmäler von ehem. Eroberern, Seefahrern oder Konquistadoren umgeworfen werden...

Schneemann.
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Deutsche Kolonien - von Erich - 14.08.2004, 17:37
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