Saudi Arabien
#21
von <!-- m --><a class="postlink" href="http://www.welt.de/data/2004/09/15/332486.html">http://www.welt.de/data/2004/09/15/332486.html</a><!-- m -->
Zitat:"Saudi-Arabien hat nur zwei Optionen: Wandel oder Tod"
Religiöse Extremisten terrorisieren das Königreich am Golf - Riads einzige Chance ist nicht Gegengewalt, sondern Reform


Riad - "Erheb Dich, wirf den Schlaf ab. Der Islam ist zurück. Wir marschieren für Gott. Rufen zum Dschihad." Saudische Extremisten werben im Internet - mit Gesang, Koranrezitation, mit Ton- und Bildaufnahmen von ihren jüngsten Terroranschlägen. Beinahe 90 Zivilisten sind in den vergangenen eineinhalb Jahren in Saudi-Arabien Opfer von Terroristen geworden. "Im Namen Gottes" glauben diese religiös verblendeten Extremisten zu handeln, wenn sie wie in der ostsaudischen Ölstadt Al Chobar an Pfingsten 22 Menschen abschlachten, darunter 19 Ausländer.

Die saudische Führung hat mittlerweile begriffen, welch enorme Bedrohung von den religiös verbrämten Fanatikern auch für die eigene Herrschaft ausgeht. Doch bei der Ursachenforschung konzentrieren sich die Mächtigen in Riad nicht auf offensichtliche Versäumnisse im Innern, sondern sie suchen die Schuldigen außerhalb des eigenen Machtbereichs.
15 der 19 Attentäter vom 11. September 2001 waren saudischer Herkunft. Das offizielle Riad hat fast ein Jahr gebraucht, um das einzugestehen. Und nun morden Terroristen im eigenen Reich.

"Es gibt kein Land, das mehr im Kampf gegen Terrorismus tut als Saudi Arabien", beschwört Außenminister Prinz Saud Al Faisal. Doch unter den rund 70 000 westlichen Ausländern im Königreich mehren sich trotz der offiziellen Sicherheitsgarantien die Zweifel, ob ihr Leben in dem ölreichen Wüstenstaat noch sicher ist. Viele denken ans Weggehen, viele haben es bereits getan. Und genau das ist eines der Ziele der Terroristen: Die westlichen Experten besetzen wichtige Positionen in der saudischen Ölindustrie. Gehen sie, könnten wirtschaftliche Probleme folgen, die das Königshaus gegenüber der eigenen Bevölkerung nachhaltig in die Bredouille bringen würden. Denn in Saudi-Arabien, dem Land mit den größten bekannten Ölreserven weltweit und der größten Erdölförderung, hängt der Himmel schon lange nicht mehr voller Geigen. Das Land hat ein stetig wachsendes Arbeitslosenproblem. "Die Armut in Saudi-Arabien wächst, Unzufriedenheit macht sich breit", meint der Liberale Turki Al Hamad.

Vor 20 Jahren, unterstreicht Hamad, habe das Pro-Kopf-Einkommen eines Saudis rund 28 000 Dollar betragen, jetzt sei es auf knapp 8000 gefallen. Schuld daran ist vor allem das überdurchschnittlich hohe Bevölkerungswachstum. Seit 1950 hat sich die Einwohnerzahl Saudi Arabiens von rund 3,5 Millionen Menschen auf gut 23 Millionen vermehrt.

"Alles stagniert", sagt Hamad, "dieses Land wird durch überalterte Institutionen geführt, die vor 30 oder 40 Jahren gut gewesen sein mögen, aber den heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht werden."

Institutionelle Stagnation gepaart mit strukturellen Problemen der saudischen Wirtschaft führen zu mehr und mehr Unzufriedenheit in der Bevölkerung: Im Februar verfassten etwa 800 Intellektuelle und Liberale eine Petition an das Herrscherhaus, in der sie Reformen und den Übergang von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie fordern. Tagelang geschah nichts, dann handelten die Königlichen: Gut ein Dutzend der Wortführer wurde festgenommen und wanderte hinter Gitter. Die meisten kamen schon bald frei. Sie distanzierten sich von ihren Forderungen und gelobten, künftig zu schweigen. Drei sitzen noch im Gefängnis. Ihnen droht ein Prozess wegen Störung der öffentlichen Ordnung.
Jahrhunderte lang ist Saudi-Arabien - das Stammland des Islams - auf Grund seiner geografischen Lage weitgehend isoliert gewesen. In der heutigen Zeit mit Internet, Mobiltelefon und Satellitenfernsehen geht das nicht mehr. Saudi-Arabiens gewaltige Ölvorkommen - etwa ein Viertel der bekannten Reserven lagern dort - sind ein unverzichtbarer Teil der Welt. Die von Osama Bin Laden geistig inspirierten Terroristen wollen das Rad in dieser ohnehin erzkonservativen Gesellschaft noch weiter zurückdrehen. Ihnen schwebt ein System nach dem Vorbild der von der Macht entfernten Taliban in Afghanistan vor.

Sie nutzen die neuen Massenmedien und die technischen Möglichkeiten, aber gleichzeitig lehnen sie die damit verbundenen gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne entschieden ab. Zudem wissen sie: Wenn sie Saudi-Arabien kontrollieren, können sie den Westen - und hier vor allem das energiehungrige Amerika - gewaltig unter Druck setzen.

Die militanten Extremisten mögen derzeit noch eine verschwindende Minderheit in Saudi-Arabien sein, meint der emeritierte Sozialwissenschaftler Hamad, aber das geistige Klima in dem wahhabitischen Königreich mache deren Zunahme eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich. Das Wertesystem der saudischen Gesellschaft, basierend auf dem vor mehr als 100 Jahren geschlossenen Bündnis zwischen dem Stamm der Al Sauds und den religiös-reaktionären wahhabitischen Geistlichen, ebnet den Weg in die Radikalität.

Der Kampf gegen Terroristen und Extremisten, betonen Liberale und Reformer, dürfe daher nicht auf Polizeiaktionen beschränkt bleiben. Werte wie Toleranz müssten in der saudischen Gesellschaft verbreitet werden, der vorurteilsfreie Umgang mit anderen Menschen, mit Angehörigen anderer Religionen, mit so genannten "Ungläubigen", müsse gelehrt werden. "Es gibt Werte", sagt Al Hamad, "die müssen in die Köpfe junger Menschen eingepflanzt werden. Wenn wir fortfahren, unseren Kindern Hass und Intoleranz beizubringen, dann wachsen sie heran und mit ihnen ein geistiges Umfeld für Terrorismus."

Laut einer zwischen August und November vergangenen Jahres unter 15 000 Saudis durchgeführten repräsentativen Umfrage lehnt eine breite Mehrheit in Saudi-Arabien zwar Terrorismus ab. Aber knapp die Hälfte der Befragten hat Sympathie für den Terrorchef Bin Laden bekundet.

Das Königreich Saudi-Arabien steuert laut Al Hamad auf einen Punkt zu, an dem es nur noch zwei Möglichkeiten haben wird: "Wandel oder Tod". Wenn das Land sich nicht durch ernsthafte Reformen ändere, drohe langfristig der Untergang.

Reformer wie Turki Al Hamad wollen das geistige Umfeld in Saudi-Arabien verändern, und dazu wollen sie auch bei der Formung und Erziehung junger Menschen beginnen. Konkret heißt das, die Lehrpläne an Schulen und Universitäten müssen geändert, die Lehrinhalte müssen viel stärker auf die Bedürfnisse der modernen Welt ausgerichtet werden.
"Reform ist ein Muss für alles", betont Al Hamad mit allem Nachdruck. "Du kannst nicht dein ganzes Leben ein Kind bleiben. Länder, Staaten, politische Systeme sind auch so. Auch wenn du ein System hast, das gut ist, muss es reformiert werden, damit es überleben kann."
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