14.11.2004, 16:20
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Zitat:28.10.2004Tut mir leid, dass es so viel ist - artikel geht noch weiter (5 Seiten).
Unser Mann in Moskau
von Alexander Rahr
Mit Argwohn blickt der Westen nach Russland. Präsident Putin missachte die Demokratie, steuere sein Land Richtung Diktatur. Doch der Pragmatiker im Kreml hält die einstige Großmacht auf Westkurs – und ist ein strategisch wichtiger Partner.
Im Westen herrschen zwei völlig unterschiedliche Wahrnehmungsmuster gegenüber dem heutigen Russland vor. Die Wirtschaftswelt lobt die Modernisierung der russischen Wirtschaft, die Öffnung des lukrativen Marktes für westliche Investitionen, die Wiederherstellung der staatlichen Ordnung und die Aufstellung einheitlicher Spielregeln. Doch aus Sicht vieler westlicher Intellektueller hat Russland den Weg der Demokratie endgültig verlassen: Putin, so ihr Vorwurf, habe alle Machtorgane gleichgeschaltet, das freie Unternehmertum, die freie Presse abgeschafft.
Letztere Kritiker verkennen zumindest die Kompliziertheit des russischen Transformationsprozesses – es wird noch Jahrzehnte dauern, bis Russland das westeuropäische Modell annimmt. Doch der westliche Blick auf Russland ist heute geprägt von besserwisserischer Arroganz, Ignoranz im Umgang mit Fakten und hämischer Schadenfreude über den stolpernden Erzrivalen aus dem Kalten Krieg. Dies wurde besonders nach dem Geiseldrama von Beslan sichtbar, war aber schon während des Untergangs des Atom-U-Bootes „Kursk“ sowie dem Geiseldrama im Moskauer Nord-Ost-Theater zu spüren.
Diejenigen, die Boris Jelzins Regierungszeit als demokratisch bezeichnen, sollten lieber einen nüchternen Blick in die neunziger Jahre werfen. Damals schlitterte Russland von einer Wirtschaftskrise in die nächste, überlebte nur Dank westlicher humanitärer Hilfe und Auslandskrediten, war von Machtkämpfen paralysiert; die reichhaltigen Bodenschätze des Landes wurden von einer kleinen Gruppe regierungsnaher „Oligarchen“ ausgeplündert. Die Wahl, vor der Russland Anfang des 21. Jahrhunderts stand, war nicht Demokratie oder Diktatur, sondern Kriminalisierung und Staatszerfall oder Wiederherstellung der staatlichen Ordnung. Putin stellte die Weichen für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum in Russland, das heute nur von China übertroffen wird. Er baute die Machtvertikale wieder auf, schuf einen einheitlichen Rechtsraum, entfernte die Oligarchen von der Macht, verabschiedete im Jahre 2001 die liberalsten Wirtschaftsreformen der russischen Geschichte, integrierte das Riesenreich in die globale Weltwirtschaft und internationale Staatengemeinschaft (Festigung der Rolle in der G 8, bevorstehende Beitritte zur WTO und Kyo-to-Protokoll) und erreichte innerhalb der Elite und Gesellschaft seines Landes einen zuvor nie da gewesenen Konsens. Über 80 Prozent aller Russen vertrauen heute seiner Politik.
Putins Versuche, in regelmäßigen Gesprächen mit ausländischen Besuchern aller Couleur für Vertrauen zu werben, waren nicht sonderlich erfolgreich. Im Gegenteil – der Großteil des Westens verdächtigt den ehemaligen Geheimdienstoffizier, die alte Sowjetordnung wieder herstellen zu wollen und westliche Politiker an der Nase herumzuführen. Russlands Eliten vermuten hinter der Kritik weit mehr. Der Westen, so der Kremlchef, will kein neues starkes Russland auf der Weltbühne tolerieren – deshalb rede er die russische Modernisierung kaputt, unterstütze durch die Sympathien mit den tschetschenischen Terroristen indirekt Angriffe auf das russische Territorium im Nordkaukasus, behindere die russisch-ukrainische Wirtschaftsintegration und verfolge eine heuchlerische Politik der doppelten Standards gegenüber Russland.