Militärische Lehren aus dem Ukraine-Krieg
@Quintus

Zu dem Text von Bohdan Krotewytsch:

Er spricht viele entscheidende Punkte an, insbesondere zum Mindset der (v.a. politischen) Führungsebene, in einer Hinsicht wage ich ihm aber tatsächlich teilweise zu widersprechen.

Von einem guten Freund, der in Hammelburg lehrt und durch die EUMAM UA mit den Ukrainern in Kontakt steht, habe ich erfahren, wie sehr beide Seiten aneinander vorbeireden. Viel Kritik gab es zum Beispiel 2023 an den westlichen Ausbildungsinhalten für ukrainische Rekruten, diese seien praxisfern—weil die Ukrainer einfach nur ein paar Kerninhalte (z.B. den Grabenkampf) in Fabelzeit ausgebildet haben wollten, und ihnen alles andere egal war. Den deutschen Ausbildern war das undenkbar.

Aus Sicht der militärischen Lage war die ukrainische Prioritätensetzung verständlich, aber es ist nicht gesagt, dass dieser Ansatz richtig war. Beispiel: Gerade bei den Kräften der Territorialverteidigung ist es etwa offenbar immer noch Glücksache, wer welche Fertigkeiten mitbringt, und wenn derjenige gefallen ist, der ein Starlink aufbauen oder eine PALR bedienen kann, hat die Gruppe Pech gehabt. In westlichen Armeen versucht man das halt zu vermeiden.

Die Ukrainer werfen ihren westlichen Gesprächspartnern Blauäugigkeit oder gar Arroganz vor, und das mag in vielen Fällen auch stimmen—aber ganz gewiss nicht in allen.

Gerne wird in westlichen Medien z.B. Robert "Magyar" Browdi zitiert, dass NATO-Armeen zu einem modernen Krieg untauglich wären. Und obwohl dieses Urteil in der Sache durchaus stimmen kann, verstehe mich nicht falsch, muss ich mich doch wundern und fragen: Woher will er das mit Sicherheit wissen?

Browdi war vor dem Krieg Geschäftsmann, dann trat er als einfacher Schütze der Territorialverteidigung bei, war rasch desillusioniert, erinnerte sich an seinen Zivilberuf und fing an, Drohnen für die Truppe zu organisieren. Durch seine Beliebtheit und sein Organisationstalent stieg er bald zum Anführer seines eigenen Freiwilligenverbandes auf und hat seinem Heimatland seitdem große Dienste geleistet. Dennoch: Was weiß er davon, wie die NATO Krieg führen würde bzw. könnte? Könnte er auch nur ein Gefecht auf Verbandsebene dirigieren?

Das ist etwas, was auch in dem Text von Michael Kofman anklingt, und meiner Meinung nach viele der ukrainischen Probleme erklärt. Die große Stärke der Ukrainer—unkonventionelle Denkansätze, Improvisation, Psychologie—kann auch zur Schwäche werden, wenn sie zu viel dem Zufall überlässt.

Beispielsweise sind viele ukrainische Verbandsführer geradezu durch Akklamation befördert worden. Ein unbeliebter Bataillonskommandeur ABC fällt oder wird abberufen; die Truppe macht unmissverständlich klar, dass der höchst beliebte, bewunderte und tapfere Zugführer XYZ den Job kriegen sollte—also wird er befördert. Aber auch der fähigste Zugführer kann nicht automatisch ohne Ausbildung ein Bataillon führen.

Die ukrainische Armee funktioniert nicht wie ihre westlichen Pendants. Persönliche Bekanntschaften wiegen weit mehr als Hierarchien und entscheiden bspw. darüber, wer gefährliche Aufträge bekommt oder als erstes versorgt wird. Verhaltensweisen werden toleriert, die auf menschlicher Ebene verständlich, militärisch aber gefährlich sind; z.B. kommt es häufig vor, dass Soldaten einfach beschließen, sich einer anderen Einheit anzuschließen.

Es gibt kaum Vereinheitlichung. Die Kampfkraft ukrainischer Verbände hängt extrem davon ab, was die Führung kann, was sie aus eigenem Antrieb ausbildet, und wie viel man an Spenden eingesammelt hat. Das führt dazu, dass ein kohärentes Vorgehen kaum noch möglich ist, weil auf dem Papier gleichartige Verbände völlig unterschiedlich ausgerüstet und ausgebildet sind. Außerdem werden Verbände wie das Asow-Korps als Feuerwehr missbraucht und deswegen stark abgenutzt.

Wir können also viel von den Ukrainern lernen—aber längst nicht alles. Insgesamt scheint mir die Herausforderung darin zu bestehen, sich der Schlüssellochperspektive, die den Beteiligten auferlegt ist, bewusst zu werden, und das Kriegsgeschehen ganzheitlich zu analysieren. Diese Phase ist in der Bundeswehr endlich angelaufen, die Schulen des Heeres treffen sich regelmäßig mit den Ukrainern und untereinander, um die Ausbildungsinhalte anzupassen.

Die theoretische Grundlage ist immerhin bereits gelegt. Ab nächstem Jahr sollen alle Rekruten an Drohnen ausgebildet werden. Soweit ich weiß, wird Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres eine Neuordnung aller Kampf- und Kampfunterstützungsverbände bekanntgegeben werden: Die Brigadeartilleriebataillone erhalten eine zusätzliche Kampfdrohnenbatterie, die Loitering Munitions und Aufklärungsmittel zur Zielzuweisung vereinen (Wirkung im Nahbereich). Alle Infanteriebataillone und wahrscheinlich auch die Aufklärungsbataillone erhalten einen Kampfdrohnenzug (Wirkung im Nächstbereich).

Derzeit läuft die Erprobung mehrerer Loitering Munitions und verschiedener Kleindrohnen, und es wird sogar darüber nachgedacht (das wurde neulich schon mal als Gerücht von einer indignierten Presse verwurstet), mehrere oder alle der erprobten Systeme einzuführen, damit man sich mit unterschiedlichen Drohnen konfrontieren und auch mehr über die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung von Drohnen an sich lernen kann.

Es tut sich also schon etwas. Nur nicht schnell genug. Teils wegen des Vorschriftendschungels, teils, weil die Tatsache, dass nun mehr Geld zum Üben da ist, zu der absurden Situation geführt hat, dass die Wartezeiten für TrpÜbPl nicht kürzer, sondern länger geworden sind (Überbelegung).

Das ist übrigens der Punkt, der mir am meisten zu denken gibt. Ich gehe mittlerweile davon aus, dass wir uns nicht darauf vorbereiten sollten, in einem künftigen Krieg sofort mit Bestnote zu bestehen, sondern darauf, uns möglichst schnell an neue Herausforderungen anzupassen. Und diese Fähigkeit sehe ich einfach in Deutschland nicht. Das ist nicht mal ein Problem der Bundeswehr, sondern ein Problem des ganzen Staates.

Ich frage mich sogar, ob Deutschland diese Fähigkeit je besessen hat.
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