05.10.2024, 04:39
(04.10.2024, 17:50)Hinnerk2005 schrieb: Das ist die interessanteste Argumentation, die ich je in meinem ganzen Leben gelesen habe. Ich staune.Lese ich da eine Spur Sarkasmus?

Ganz so unerhört oder naiv, wie Du anzudeuten scheinst, ist der Gedanke nicht. Die britische Gesellschaft zeigte während des Zweiten Weltkriegs ähnliche Impulse. Man versuchte, gegen die Diktatur und die Verbrechen Nazideutschlands eine demokratische-moralische Wagenburg zu bilden – sowohl um Selbstvergewisserung zu betreiben ("why we fight"), als auch um die wenigen Demokratien der damaligen Zeit auf die eigene Seite zu ziehen, v.a. die USA. Das blieb auch nicht ohne Folgen.
In Deutschland hält man ja wegen Bomber-Harris und der relativen Strenge bei den Entnazifizierungsverfahren in der britischen Besatzungszone die Amerikaner für das freundliche Gesicht der Westalliierten, aber wie man bei Uta Gerhardt ('Soziologie der Stunde Null') nachlesen kann, führten die Briten von allen Kriegsparteien den "saubersten" Krieg, und es kam in der britischen Besatzungszone zu den wenigsten Übergriffen auf deutsche Zivilisten.
An der Heimatfront äußerte sich der Anspruch, moralischer zu sein, z.B. in einem Protest der anglikanischen und katholischen Kirche gegen den (damals freilich legalen) Bombenkrieg gegen deutsche Städte. Keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, dass die Bischöfe im (damals noch mächtigen) Oberhaus saßen.
(04.10.2024, 17:08)Quintus Fabius schrieb: Aber die Ukrainer wollen halt keine Russen sein, und so ergibt sich das anscheinend wirklich aus der rigiden Abstoßung von allem was ukrainischer Sicht Russisch-Sein ausmacht. Ein Volk in seiner Ethnogenese und seinem Versuch einer Selbstdefinition auf diese Weise zu sehen, ist wirklich hochinteressant.Stimmt. Ich würde übrigens vermuten, dass die russische Propaganda hier überhaupt erst als Stichwortgeberin bzw. Geburtshelferin fungiert hat. Wenn etwa Patriarch Kyrill behauptet, die Ukrainer würden den Teufel anbeten und die Herzen ihrer gefallenen Feinde verspeisen, bleibt das natürlich nicht ohne Wirkung. Die Wirkung kann man in den Social Media-Beiträgen aus der Schlammzone sehen: Spott, Unglauben, Abgrenzung. Auf symbolischer Ebene sehr verständlich, Du kannst keinen einfacheren psychologischen Sieg über Deinen Gegner erringen, als ihm nicht den Gefallen zu tun, seinen Lügen über Dich zur Wahrheit zu verhelfen. Ein Serotonin-Boost zum Nulltarif.
Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Ukrainer nicht viele Pfunde haben, mit denen sie wuchern könnten. Die Russen haben von allem mehr als die Ukrainer, mehr Land, mehr Menschen, mehr Geld, mehr Macht, mehr alles. Die heutige Ukraine hat aber jetzt etwas, was Putins Russland nicht hat, und was Russland insgesamt seit den Tagen Peters des Großen meist vergeblich gesucht hat: den Respekt der Staaten, die nach den arrogant-paternalistischen Standards des zweiten Jahrtausends als zivilisatorische Crème de la Crème gelten.
Das schrieb ja schon Solschenizyn: Die russische Geschichte ist auch eine der verschmähten Liebe zu Europa. Russland hat einen Provinzkomplex, es leidet darunter, an der Peripherie Europas zu liegen und von Kulturnationen wie Frankreich immer als zweitklassig angesehen worden zu sein. Kein Land hat krampfhafter versucht, europäischer als Europa selbst zu sein; der selige Solschenizyn ging so weit, den Bogen zu schlagen von den radikalen Reformen Peters (kompletter Umbau des Staates, Einführung der französischen Sprache und Sitten) bis hin zu den heutigen Oligarchen, die in allen Dingen den britischen Hochadel kopieren würden.
Dass der ukrainische Staat das Verhalten seiner Soldaten durchaus aktiv in eine positive Richtung zu lenken versucht, kann man, denke ich, an ihrem Umgang mit russischen Kriegsgefangenen ablesen. Da folgt man klar der Prämisse von Hanns Scharff ("kill them with kindness") und versucht, das größtmögliche Gegenteil der russischen Propaganda zu sein, damit sich Russen möglichst ohne Widerstand ergeben, in der Gefangenschaft möglichst viel preisgeben, und nach der Heimkehr möglichst viel Gutes über die Ukraine zu erzählen haben.
Ich müsste hier schon einige Erfahrungsberichte mit GUR-Befragern verlinkt haben, das findet in teils absurd freundschaftlicher Atmosphäre statt; da wird Wodka gebechert, die Gefangenen dürfen ihre Familien anrufen, und in den Gefangenenlagern kriegen sie gut zu essen und können Mortal Kombat zocken.
Das wirksamste Mittel gegen in Kriegsverbrechen mündende Tendenzen dürfte aber der Aspekt des Volkskrieges sein. Abermals – man kann natürlich erwidern, dass prinzipiell jeder Mensch dazu in der Lage ist, andere zu zu töten; aber die höchste Neigung zur Delinquenz findet man statistisch gesehen nun mal bei jungen Männern um die zwanzig; und umso homogener eine Männergruppe ist, umso größer ist ihr Aggressionspotential (wer das für Humbug hält, einfach mal eine Abschlussklasse und einen Trupp gleichaltriger Fußball-Ultras vergleichen …)
Die heutige ukrainische Armee ist sozial wesentlich heterogener als die russische. Es gibt auch mehr Ältere und mehr Frauen. Die Ukrainer haben bis zum Sommer ja überhaupt nur die vor 1999 Geborenen eingezogen, und in der Territorialverteidigung liegt der Altersdurchschnitt sogar bei über vierzig Jahren. Ein gesetzter Familienvater aus Kiew mit drei Kindern, der in den Krieg ziehen muss, ist natürlich mental anders drauf als ein 19-jähriger Baschkire, der sich aus dem Knast heraus für die "SMO" verpflichtet.
Da hätte der höhere Altersdurchschnitt der ukrainischen Armee wenigstens mal sein Gutes.