Türkei
@Schneemann

Zitat:Relativ viel. Genau genommen ist die Türkei gesellschaftlich aber durchaus stark gespalten, einerseits zwischen Modernismus und Kemalismus bzw. Anlehnung an den Westen und andererseits eben traditionalistischen, bodenständig-islamischen Bevölkerungselementen.

Erdogan hat diese Kräfte durchaus geschickt für sich genutzt und seine Macht so beständig ausgebaut, wobei er genau genommen einen fragilen Spagat versucht - einmal Übernahme des nationalistisch-kemalistischen Gedankens vom türkischen Nationalstaat, auf der anderen Seite aber eine Rückbesinnung auf die osmanische Größe und die islamische Tradition. Die letztgenannten beiden Punkte waren etwas, was der Agnostiker Atatürk immer beiseite schieben wollte, da er das muslimisch geprägte Vielvölkerreich der Osmanen als gescheitert ansah und auf dessen Trümmern in den 1920ern einen neuen, westlich-modernen und ethnisch geeinten türkischen Nationalstaat errichten wollte. (Das war auch zwingend nötig, denn nach dem Ersten Weltkrieg war nicht mehr viel übrig und das verarmte und ausgeblutete Land sah sich Bedrohungen von allen Seiten ausgesetzt, nicht zuletzt auch durch die Griechen, die in Westanatolien eingefallen waren.)


Erdogan ist Derjenige der er immer war, er ist heute genau so religiös wie er es früher war. Das schreibe ich ganz nüchtern betrachtet. Mit der AKP ist er nur einen neuen pragmatischen Weg gegangen und hat hat das bürgerlich konservative Lager mit ins Boot geholt, hier hat er lediglich mit der Tradition der "Milli Görüs" gebrochen. In den mehr als 20 Jahren an der Regierung hat die AKP lediglich der Religion mehr Freiraum im öffentlichen bzw. gesellschaftlichen Leben gegeben. Auf dem Weg zu einem religiösen Staat sehe ich die Türkei noch lange nicht. Aufgrund der gesellschaftlichen Realitäten bzw. der starken Verankerung des Laiezismus in teilen der Gesellschaft, lässt sich ein religiös geprägter Staat auf absehbarer Zeit nicht realisieren.


Die Türkei die nicht als Teil des Westens gesehen wird und der eine vollwertige Mitgliedschaft innerhalb der EU verwehrt bleibt, muss selbst an strategischer Tiefe gewinnen. Zum Gewinnen dieser strategischen Tiefe muss man geschichtliche und kulturelle Karten ausspielen !
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@Skywalker
Zitat:Erdogan ist Derjenige der er immer war, er ist heute genau so religiös wie er es früher war. Das schreibe ich ganz nüchtern betrachtet. Mit der AKP ist er nur einen neuen pragmatischen Weg gegangen und hat hat das bürgerlich konservative Lager mit ins Boot geholt, hier hat er lediglich mit der Tradition der "Milli Görüs" gebrochen.
Das denke ich auch. Ich habe ein wenig in meinen "Archiven" gesucht und dabei auch alte GEO-Broschüren aus den 1990ern mir angeschaut, auch zum Thema Islam, Türkei und Erdogan. Er hat damals Kommentare von sich gegeben, als er noch Bürgermeister von Istanbul war, die teils extrem intolerant klangen (wobei ich denke, dass die deutschen Magazine manches gar nicht übernommen haben). Danach wurde er gemäßigter, wobei ich vermute, dass er aus Vorsicht taktiert und sich zurückhaltender geäußert hat.

Einerseits hat er genau mitbekommen, wie 1997 die kemalistisch-säkulare Militärführung im Nationalen Sicherheitsrat dem damaligen Ministerpräsident Erbakan von der Refah klare Vorgaben machte, es nicht zu übertreiben. Andererseits war er sich der Macht des Militärs bewusst und hat sich auch (so schrieb es seinerzeit GEO) an Ministerpräsident Adnan Menderes erinnert, der nach dem Putsch von 1960 hingerichtet wurde. Beide Umstände sollen Erdogan dazu bewogen haben, sich temporär diplomatischer zu verhalten. Zumindest so lange, bis er seine Macht entsprechend konsolidiert hatte, um auch dem laizistischen Militär die Stirn zu bieten. Im Laufe der 2000er hat man ihn in Europa dann als Modernisierer wahrgenommen, aber dies war er wohl nur bedingt und dies war auch eher nur dem innenpolitischen Druck/Risiko geschuldet.

In den 2010ern, als er entsprechend stärker wurde, wurde auch seine Ausdrucksweise wieder deutlich aggressiver und erinnerte an frühere Jahre. Insofern gebe ich dir durchaus recht, dass er vermutlich seine ureigenen Überzeugungen nie abgelegt hatte.

Schneemann
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(Gestern, 21:17)Schneemann schrieb: @Skywalker
Das denke ich auch. Ich habe ein wenig in meinen "Archiven" gesucht und dabei auch alte GEO-Broschüren aus den 1990ern mir angeschaut, auch zum Thema Islam, Türkei und Erdogan. Er hat damals Kommentare von sich gegeben, als er noch Bürgermeister von Istanbul war, die teils extrem intolerant klangen (wobei ich denke, dass die deutschen Magazine manches gar nicht übernommen haben). Danach wurde er gemäßigter, wobei ich vermute, dass er aus Vorsicht taktiert und sich zurückhaltender geäußert hat.

Einerseits hat er genau mitbekommen, wie 1997 die kemalistisch-säkulare Militärführung im Nationalen Sicherheitsrat dem damaligen Ministerpräsident Erbakan von der Refah klare Vorgaben machte, es nicht zu übertreiben. Andererseits war er sich der Macht des Militärs bewusst und hat sich auch (so schrieb es seinerzeit GEO) an Ministerpräsident Adnan Menderes erinnert, der nach dem Putsch von 1960 hingerichtet wurde. Beide Umstände sollen Erdogan dazu bewogen haben, sich temporär diplomatischer zu verhalten. Zumindest so lange, bis er seine Macht entsprechend konsolidiert hatte, um auch dem laizistischen Militär die Stirn zu bieten. Im Laufe der 2000er hat man ihn in Europa dann als Modernisierer wahrgenommen, aber dies war er wohl nur bedingt und dies war auch eher nur dem innenpolitischen Druck/Risiko geschuldet.

In den 2010ern, als er entsprechend stärker wurde, wurde auch seine Ausdrucksweise wieder deutlich aggressiver und erinnerte an frühere Jahre. Insofern gebe ich dir durchaus recht, dass er vermutlich seine ureigenen Überzeugungen nie abgelegt hatte.

Schneemann

Die Rolle die das Militär einst in der Politik gespielt hat, ist weitestgehend zurückgedrängt worden. Doch wenn es wirklich mal hart auf hart kommt, lässt es sich nicht ausschließen das Teile des Militär oder des Offizierskorps ein Putschversuch unternehmen könnten. Nicht nur das Militär wirkt als Faktor auf ihn ein, auch gesellschaftliche Realitäten und auch die Abhängigkeit vom Außenhandel mit der EU sind mit Sicherheit auch Fakten die ihn in der religiösen Agenda ausbremsen.

Erdogan ist der EU in vielen Forderungen entgegen gekommen, im Hinblick auf den sog. "Kurdenkonflikt", Zypern mit dem Anan Plan, mit der Beschneidung der politischen Kompetenzen des Militärs etc. Er hat bis zum Jahr 2013 die Vorgaben des IWF 1 zu 1 umgesetzt, jedoch eine neue Bindung an den IEF abgelehnt. Kurz darauf gab es die Gezi Proteste. Daraufhin haben ihn auch die westlichen Politiker und Medien fallen gelassen und die Gezi Proteste kamen auch auf.

Alles nur Zufall ? Confused
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Das generelle Problem der EU mit der Türkei und ihrem Beitritt ist ein kaum zu lösender. Sobald sie versucht radikale Tendenzen zu unterdrücken, wird sie als autoritär und brutal und Menschenrechte verletzend dargestellt werden, sobald sie das nicht tut als antieuropäische Tendenzen nicht bekämpfend dargestellt werden. Solange Brüssel nicht erkennt, dass Anatolien nicht wie Stockholm regiert werden kann und Serbien nicht wie Belgien, mag sich das ändern, ich bezweifle aber das dieses unter Von der Leyen passiert.
Was so schade ist. Wir brauchen die Türkei.
Wenn wir nicht endlich anfangen ihr das klar zu machen, macht sie ihr eigenes Ding, was sie inzwischen durchaus kann. Ich bezweifle einfach das in Brüssel gesehen wird, das dieses eigene Ding, zwar nicht unserer ethischen Sichtweise entsprechen mag, der rationalen allerdings auch unserer Interessen zuträglich seien mag, wenn wir uns dort so gut verstehen, das wir sie dabei unterstützen wie wir können. Vielleicht bin ich da wieder zu autistisch, rational unterwegs, aber dieser Weg wird irgendwie nie gesehen. Statt dessen lassen wir dort Putin und Trump das Feld übernehmen.
Wieso?
Andere vielleicht weniger in Geschichte bewanderte sehen in der Türkei vielleicht immer noch das zweite Welt Land das Gastarbeiter schickt.
Ich sehe eine ehemalige Grossmacht in der Liga der im Gegensatz dazu komplett abgehalfterten westlichen Staaten wie Spanien oder Italien, oder sogar (sorry die sind einfach pleite und nahezu unregierbar) Frankreich oder auch England.( auf die das selbe zutrifft wie auf Frankreich, außer der unregierbarkeit).
NIEMAND außerhalb Europas, im kompletten Rest der Welt,war jemals europäische Kolonie, außer Russland, Japan und der Türkei.
Das sollte in manchem vielleicht ersteinmal tief sacken geistig, bevor er über die Türkei als zweites Welt Land denkt.
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@Falli75

Danke dir für diesen Beitrag.

Leider wird die Türkei aus europäischer Warte (und auch aus deutscher) immer noch als Bösewicht angesehen, obgleich Mustafa Kemal genau diese Vorurteile überwinden wollte und zu überwinden suchte.

Nun einmal diesbezüglich eine eher schwierige Frage, und hierbei schreibe ich auch als Moderator mit einer durchaus provokanten Intention: Selbst die Landung der Türken 1974 auf Zypern war völkerrechtlich einwandfrei. (Anm.: Das ist meine Meinung.)

Mal gespannt, wer den Fehdehandschuh aufnimmt. Fairerweise vorab von mir gesagt: die Kritik wird beide Seiten im Regelfall treffen. Wink

Schneemann
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