Werter Nightwatch:
Zitat:Meine einfache Schlussfolgerung daraus: Würden man in solchen und ähnlichen Lagen mit stärkeren mechanisierten Verbänden nachsetzen wäre es schnell höchst brenzlig für die Ukrainer. Man würde Hals über Kopf viele Kilometer zurückweichen müssen und die Russen würden für einen Bruchteil an Zeit und Materialeinsatz ........ den Ukrainern im Verhältnis deutlich höhere Verluste zufügen können.
Ich stimme dir diesbezüglich ausdrücklich zu, und würde man dies mit der zuletzt genannten Zielsetzung forcieren, so würde das schnell für die Ukraine kritisch werden.
Warum aber wollen beide Seiten nicht, wie du es formulierst ?! Das ist so ein Thema, dass sich ja durch etliche Kriege zieht, in der gesamten Kriegsgeschichte. Das ist genau das, was ich mit dem Widersprüchen zwischen Politik - politisch-strategischer Ebene - und militärisch strategischer Ebene meine.
Es geschieht regelmäßig im Krieg, dass auf der strategischen Ebene eindeutig falsche militärische Handlungen vorgenommen werden, oder eigentlich selbsterklärende sinnvolle Handlungen nicht vorgenommen werden, und dies sogar teilweise wider besseres Wissen.
Zitat:In der rein militärischen Logik hast du Recht und ich stimme da durchaus zu. Das ist aber halt nur ein Teil der Wahrheit wenn man parallel darüber verhandelt, welche Gebiete die Ukraine zusätzlich wird abgeben müssen. Einigt man sich am Ende im wesentlichen auf den Frontverlauf (was angesichts der Lage für die Ukrainer noch positiv wäre), werden Quadratmeter plötzlich sehr relevant. Für beide Seiten du sei es auch nur als Ausgangspunkt für die nächste Runde.
Die Quadratur des Kreises ist es hier deshalb immer, die rein militärische Logik und die politischen Umstände in Übereinklang zu bringen, darin besteht das Problem. Deshalb werden fähige Offiziere abgelöst (so geschehen beispielsweise mit dem Stabschef von Azov) und unfähige Offiziere befördert, rein von der politisch-strategischen Ebene aus. Ich hatte hier explizit Beispiele dafür von militaryland vernetzt.
Natürlich gibt es echte oder vermeintliche politische Notwendigkeiten, ganz viel aber in der rein politischen Ebene beeinträchtigt die militärisch-strategische Ebene negativ, und genau deshalb unterscheide ich derart scharf zwischen diesen beiden.
Nur mal ein praktisches Beispiel: die aktuelle ukrainische Regierung hat lange primär, überproportional und forciert in Gebieten rekrutiert, auch zwangsrekrutiert, in welchen man bei den Wahlen schlecht abgeschnitten hat, während man Gebiete in denen man politische Hochburgen hatte kaum oder zumindest sehr viel weniger und nicht mit so viel Zwang rekrutiert hat. Das sind so Handlungen, die besonders gut illustrieren, wie negativ sich die Politik auf die militärischen Notwendigkeiten auswirken kann.
Die hier von uns beiden ja schon öfter thematisierte Aufsplitterung der Kräfte bei der ukrainischen Offensive wäre ein weiteres gutes Beispiel und auch deine Ausführung jetzt hier, dass es um einen etwaigen Grenzverlauf und abzugebende Gebiete geht, ist ebenfalls ein solcher Aspekt, welcher die Kriegsführung behindert.
Das gemahnt schon oft an die sehr starren Haltebefehle im 2WK an der Ostfront welche krampfhaft das Donezbecken halten sollten. Eine Überbetonung der kriegswirtschaftlichen Aspekte führte hier zu drastischen strategischen Fehlern, weil man schon für ein danach plante. Und dann traf man daraus folgend auch noch allerlei schlechte Kompromisslösungen, aber immer mit der Idee, das Donezbecken doch irgendwie zu halten und vertat damit wesentliche Chancen. Das danach könnte aber nicht allein durch die Frage bestimmt werden, wer gerade welchen Quadratmeter hält, weshalb ich diese Frage eben für überbewertet halte und damit für ein wesentliches militärisches Problem:
Zudem wie ich schon vorher und jetzt auch lime skizziert hat, die Ukrainer haben ein Moralproblem das sich direkt aus der militärischen Perspektivlosigkeit speißt. 69% der Ukrainer sind mittlerweile für Verhandlungen und Kriegsende laut ner CNN Umfrage. Das kommt auch daher weil niemand eine Perspektive auf dem Schlachtfeld aufzeigen kann, von Erfolgen ganz zu schweigen.
Erfolge auf dem Schlachtfeld sind nämlich nicht nur in Quadratmetern herstellbar, sondern beispielsweise auch darin, dass man die Wehrkraft des Feindes tatsächlich vernichtet. Die Quadratmeter ergeben sich dann daraus im weiteren ganz von selbst.
Hätte man den Russen viel größere Verluste bei viel geringeren eigenen Verlusten zugefügt - was möglich gewesen wäre - dann wäre nämlich hier und jetzt die von dir genannte Perspektivlosigkeit eben nicht so gegeben.
Man hat also hier und jetzt eine militärische Perspektivlosigkeit, obwohl man krampfhaft jeden Quadratmeter hält, aber ich sehe es so, dass man sie gerade eben deshalb hat, weil man zu lange krampfhaft jeden Quadratmeter gehalten hat. Wir hatten das schon mal ausführlich damals bei der Frage ob man Bakhmut halten sollte oder nicht.
Die Ukrainer hätten eine Perspektive, wenn die Wehrkraft der Russen stattdessen sehr weitgehend vernichtet worden wäre, bzw. sehr viel weitgehender als dies jetzt schon geschehen ist. Denn dann hätte man indirekt daraus folgend auch eine Perspektive bezüglich der zukünftigen (vorübergehenden) Grenzziehung.
Zudem ist diese vorübergehende (!) Grenzziehung entlang der Front ohnehin irrelevant, weil bei einem "Friedensschluss" jetzt ein Folgekrieg unvermeidbar ist. Also wäre es wesentlicher die Wehrkraft des Feindes weitergehender zu zerstören als dies jetzt der Fall ist, als vorübergehend (!) ein paar Quadratmeter mehr zu haben.
Zitat:Ansonsten, was höherstufige Operationsführung angeht sehen wir doch immer wieder, dass das eine Kunst ist die man nur sehr bedingt lernen kann. Regelmäßig funktionieren Autodidakten in diesen Positionen während studierte Topkräfte regelmäßig versagen.
Meine Rede seit jeher.
Zitat:Die Ukrainer führen seit 10 Jahren Krieg. Da soll sich bis heute niemand mit Talent herauskristallisiert haben den man in den letzten Jahren zu einem halbjährigen Intensivkurs an westliche Militärakademien hätte schicken können? Das ist doch zu billig. Wenn man wollen würde wäre es ohne jeden Zweifel möglich Stäbe aufzubauen, die zum führen mehrerer Brigaden und sonstiger Truppenteile befähigt sind.
Dem stimme ich zu, aber es ist in der Ukraine in weiten Teilen politisch nicht gewollt. Sieh dir beispielsweise die Personalie des Stabschefs von Azov an, der gegangen wurde, weil er sich fortwährend kritisch über Selensky und die oberste militärische Führung äußerte.
Das Problem mit Talenten ist, dass sie auch hochkommen müssen dürfen, wenn dies aber von oben her systematisch behindert wird, dann wird das schwierig. Dazu kommen noch die horrenden Verluste auf beiden Seiten gerade bei den Offizieren, welche die Ukrainer hart getroffen haben, während die Russen so oder so bereits von ihrer ganzen Konzeption her darauf hin spezialisiert sind, mit möglichst geringer Qualität zu kämpfen.
Zitat:Heißt es in verfahrenen Situationen immer gerne bis einer kommt und es anders macht.
Ich sehe in der Ukraine nichts, dass den jetzigen beidseitigen Zermürbungskrampf zwangsweise bedingen würde.
Meiner rein persönlichen Meinung nach ist die Situation inzwischen so verfahren, alles so weit degeneriert und verhakt, dass es sehr schwierig wäre, es anders zu machen. Ich würde dir zustimmen, wenn wir über die Lage vor zwei Jahren reden würden, oder auch noch letztes Jahr, und die Ukraine anders verfahren hätte (beispielsweise auf die Offensiven verzichtet hätte), aber der aktuelle Zustand ist katastrophal.
Es gibt im Krieg einfach Kipppunkte, an denen dann selbst das größte militärische Genie nichts mehr weiter ausrichten kann, als den Gesamtzustand irgendwie zu verwalten. Ab solchen Kipppunkten ist es kaum noch möglich, die Lage herum zu reißen und meiner Ansicht nach hat die Ukraine einen solchen Kipppunkt dieses Jahr erreicht.
Wie schon geschrieben: von außen sieht alles ganz klar, eindeutig und einfach aus. Im Krieg selbst aber sind die einfachsten Dinge unvorstellbar schwer.