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Re: Afghanistan - Shahab3 - 28.08.2012

Die Kultur- und bildungsfeindliche Wahabi-Doktrin passt absolut nicht zum ehem. Volk der Ghaznawiden. Insofern wundert mich nicht, dass die Schließung von Schulen (und vermutlich noch einiges mehr wie Musik, Bücher, ..) gerade dort zum Aufstand führte. Mich wundert eher, dass dieser Widerstand militärisch in Teilen erfolgreich ist.


Re: Afghanistan - Erich - 28.08.2012

Schneemann schrieb:Erich schrieb:
Zitat:Was Freiheit oder sexuelle Ausschweifung ist, was Anstand und Moral oder steinzeitlich ist, das wird halt bei unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich beurteilt. Und es ist anmaßend, die eigenen Wertevorstellungen als allein richtig hinzustellen.
Hast du einen globalen Dachschaden? Confusedhock:

Aber ich kenne jemanden, der im Relativieren genauso prächtig ist wie du...
Zitat:Todd Akin

"Vergewaltigung macht selten schwanger"

...
Aber im Geiste redet ihr den gleichen, unverantwortlichen und verklausulierend verkorkst-verdrehten Mist!

Schneemann.
manchmal tickst Du nicht richtig. Ich hab noch erlebt, dass eine Großtante von mir (im Kloster) über Bikini-Mädchen am Strand gewettert hat ("die Säu") und heute sind FKK Nutzer im englischen Garten mitten in München nichts, wo sich jemand auch nur umdreht.
Und ich hab in Tunesien am Strand einerseits die älteren Frauen in der Vollverhüllung (mit Schleier) genauso gesehen wie die Monokini Mädels, die am Hotelstrand mit dem Freund "hüstel" knutschend übereinander "hüstel" gelegen sind.
Wer verdrängen will, dass es innerhalb einer Gesellschaft und erst recht zwischen unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen unterschiedliche Moralvorstellungen gibt, der ist mehr als blind.

Und ich möchte Dir noch ein aktuelles Beispiel für die unterschiedlichen Moralvorstellungen innerhalb der Gesellschaft liefern:
derzeit gibt es eine sehr intensive Diskussion in Deutschland "pro oder gegen Beschneidung". Im Endeffekt steht das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Grundgesetz), das auch für Kinder gilt, gegen die Religionsfreiheit.
Wie soll sich Deutschland in dieser Frage positionieren - zumal es (z.B. in Somalia) ja auch die Beschneidung von Mädchen gibt, die dort ebenfalls religiös begründet wird.
Wo darf / soll / kann man ehrlich eine Grenze ziehen?
Und das ist keine spezifisch deutsche Diskussion, die Diskussion über die Beschneidung ist z.B. auch schon in Skandinavien (z.B. Schweden) geführt wurde.
Ich möchte hier keine Bewertung oder Stellungnahme oder Diskussion über die Beschneidung eröffnen. Ich möchte nur deutlich machen, dass es aus unterschiedlichen Ausgangsbasen völlig unterschiedliche Sichtweisen über die unterschiedlichsten Dinge gibt und geben darf, ja sogar geben muss.
Und was innerhalb einer (der) europäischen Gesellschaft vorhanden ist, das muss zwischen einander fremden Kulturen erst recht und noch in viel größerem Ausmaß vorhanden sein.

Diesen Hinweis auf unterschiedliche moralische und kulturelle Vorstellungen und Werte als "globalen Dachschaden" und als "unverantwortlichen und verklausulierend verkorkst-verdrehten Mist" zu bezeichnen, zeugt von vielem, von Engstirnigkeit, Borniertheit, Überheblichkeit - aber nicht von der Verständnis und Toleranz, die auch für Diskussioen in einer freiheitlich demokratische Gesellschaft unabdingbar wären.


Re: Afghanistan - hunter1 - 29.08.2012

Das kann ich so nicht stehenlassen:
Erich schrieb:Was Freiheit oder sexuelle Ausschweifung ist, was Anstand und Moral oder steinzeitlich ist, das wird halt bei unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich beurteilt. Und es ist anmaßend, die eigenen Wertevorstellungen als allein richtig hinzustellen.
Und genau das gilt auch für die Taliban! Wenn also innerhalb ihrer eigenen Reihen jemand anders sein möchte, dann haben die das genauso zu respektieren, anstatt wild drauflos zu massakrieren.
Und manchmal gibt es halt schon kultuelle Eigenschaften, die man lieber ganz schnell abschaffen sollte. Vieles, was die Taliban so machen oder gemacht haben, gehört dazu. Insbesondere die Eigenschaft, Andersdenkende direkt mit Strafen gegen Leib und Leben abzuurteilen. Das hat in einer Zeit, wo etliche Staaten schon begriffen haben, dass es rechtsstaatlich auch ohne solche Strafen geht, einfach nichts mehr verloren, Schutz der Kultur hin oder her.

Ambassador schrieb:Unter den Taliban kehrte Ruhe und Ordnung und ein einigermassen geregeltes Leben ein. Der Drogenanbau ging in dieser Zeit zurück(ja, tatsächlich).
Das nicht alle Gewinner waren - zumal vor allem Frauen bzw. Mädchen, ist bedauerlich.
Ja, was für ne tolle Bilanz. 50 Prozent der afghanischen Bevölkerung gehören demnach also nicht zu den Gewinnern. Dazu noch alle, welche mit der Taliban-Ideologie sonst noch so ihre Probleme haben.

Ambassador schrieb:Europäische bzw. westliche Staaten durften ähnliche Entwicklungen vollziehen, ohne das sich eine grössere Macht einmischte. Ich denke da an Feudale Systeme, unter denen Menschen verhungerten oder auch den 30jährigen Krieg, der ja mit Religion auch etwas zu tun hat, da die Katholische Kirche damals letzlich die Dummheit der einfachen Leute ausnutzten für Ablasshandel und man sich für jeden Mord mit Geld einen Freibrief besorgen konnte, wenn man an entsprechender Stelle beichtete.

Damals gab es auch sehr viele Opfer, die man auch nicht fragte und für die kein demokratischer Staat bereit stand, der den Zeigefinger erhob.
Bisschen problematisch an diesem Vergleich ist, dass sich diese Ereignisse abspielten, bevor in Europa die Menschenrechte deklariert wurden. Und bevor es demokratische Staaten überhaupt gab. Das kann man aber nicht auf die Situation im heutigen Afghanistan übertragen, weil...

Ambassador schrieb:Vielleicht ist es gerade der Fehler des Westens, sich in derartige Dinge fremder Kulturen einzumischen. So können Menschen nicht lernen, was gut oder böse, richtig oder falsch ist, da ihnen der vergleich fehlt. Es sind ja auch einfache Menschen, die ihre Informationen oft nur durch erleben oder hörensagen erfahren. Vielleicht noch aus dem Fernsehen, wo oft nur ein Sender gesehen wird, der das sendet, was man selbst hören will.
...warum soll man in Afghanistan das Rad nochmals erfinden? Punkto Selbstbestimmung der Bürger ist die westliche Demokratie bislang das beste politische System, welches momentan für Staaten angewandt wird. Nicht das optimalste, aber das bestmögliche. Wieso soll man Afghanistan "in Ruhe lassen", damit es erst in 500 Jahren selbst soweit ist (wenn überhaupt)? Man kann den Afghanen durchaus zeigen, welche politischen Systeme neben ihrem eigenen auch noch so auf der Welt vorhanden sind. Aufzwingen kann man ihnen das nicht auf Biegen und Brechen. Aber man sollte sie dazu zwingen, dass sie wenigstens diejenigen ihrer eigenen Bürger in Ruhe lassen, die eben nicht bei der Taliban-/Paschtunen-/afghanisch-konservativen Ideologie mitmachen wollen. Und welche, mit politischen Mitteln, für eine Veränderung der afghanischen Gesellschaft arbeiten wollen.


Re: Afghanistan - Ambassador - 29.08.2012

Es gibt in Südostasien/Papua einige Steinzeitlich lebende Stämme, in die sich von aussen niemand einmischt/einmischen darf.
Wenn man denen ihre Kultur und eigene Entwicklungsmöglichkeit nimmt, nur weil wir das Rad schon erfunden haben und wissen, was gut ist, würde wohl jeder dagegen sein und ich denke, Hunter auch.

Man kann nicht überall etwas überstülpen, nur weil wir meinen, das es besser ist. Wir demokratischen westlichen Staaten sind immerhin auch für unseren modernen Lebensstil verantwortlich, der nun auch zb. von China etc. übernommen wird - mit all den folgen für die Umwelt, was vielleicht zum Untergang der gesamten Menschheit führen wird. Was da wohl besser ist, wird man sich dann nicht mehr fragen können.


Re: Afghanistan - Erich - 29.08.2012

hunter1 schrieb:Das kann ich so nicht stehenlassen:
Erich schrieb:Was Freiheit oder sexuelle Ausschweifung ist, was Anstand und Moral oder steinzeitlich ist, das wird halt bei unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich beurteilt. Und es ist anmaßend, die eigenen Wertevorstellungen als allein richtig hinzustellen.
Und genau das gilt auch für die Taliban! Wenn also innerhalb ihrer eigenen Reihen jemand anders sein möchte, dann haben die das genauso zu respektieren, anstatt wild drauflos zu massakrieren.
Und manchmal gibt es halt schon kultuelle Eigenschaften, die man lieber ganz schnell abschaffen sollte. Vieles, was die Taliban so machen oder gemacht haben, gehört dazu. Insbesondere die Eigenschaft, Andersdenkende direkt mit Strafen gegen Leib und Leben abzuurteilen. Das hat in einer Zeit, wo etliche Staaten schon begriffen haben, dass es rechtsstaatlich auch ohne solche Strafen geht, einfach nichts mehr verloren, Schutz der Kultur hin oder her.....
Das ist unsere (auch meine) westliche Sicht der Dinge . Und das (seit 1949 im Grundgesetz festgeschriebene) Recht auf "Leben und körperliche Unversehrtheit" entstammt einer über Jahrhunderte andauernden Entwicklung in unserer Gesellschaft, die in weiten Teilen Afghanistans (noch?) nicht angekommen ist - und warum verlangst Du von der traditionellen Stammesgesellschaft in Afghanistan, dass die Menschen dort eine Entwicklung, die bei uns Jahrhunderte gedauert hat, innerhalb weniger Jahren so nachvollziehen, dass unsere Wertemaßstäbe dann auch in der afghanischen Gesellschaft verwurzelt sind?

Art. 1 ff des Grundgesetzes gelten in Afghanistan nun mal nicht. Es liegt mir fern, Exzesse (aus unserer Sicht) zu rechtfertigen - aber es ist wichtig, die Ursachen zu erklären.

Afghanistan hat eine andere Wertehierarchie. Im "Paschtunwali", dem Ehren- und Stammeskodex der Paschtunen, ist die Ehre (Nang) wichtiger als das individuelle Recht auf Leben. Diese Wertehierarchie findet man doch auch in anderen traditionellen Gesellschaften ("Ehrenmorde"), von erst kurz "abgeschafften" Verhaltensweisen entlegener Völker auf Papua Neuguinea, Borneo oder im Urwald Südafrikas (die Ambassador angesprochen hat) gar nicht zu reden (Kopfjäger).

Das darf (und aus unserer Sicht muss) man bedauern, aber es ist nun mal so. Und wenn wir über (aus unserer Sicht) Exzesse in Afghanistan debatieren, dann müssen wir als Grundlage für die Diskussion einfach zur Kenntnis nehmen, dass es in der afghanischen Gesellschaft andere tradierte Wertemaßstäbe gibt. Unsere Vorstellungen sind vielen Afghanen genauso fremd wie die dortigen Vorstellungen uns fremd sind.

Daraus resultieren für uns völlig unverständliche Verhaltensweisen, wie etwa der Schutz, den die Paschtunen ihrem Gast bin-Laden gewähren mussten (Melmastia), um nicht "ehrlos" zu werden.


Re: Afghanistan - Shahab3 - 29.08.2012

Zitat:Daraus resultieren für uns völlig unverständliche Verhaltensweisen, wie etwa der Schutz, den die Paschtunen ihrem Gast bin-Laden gewähren mussten (Melmastia), um nicht "ehrlos" zu werden.

Die Taliban-Regierung in Afghanistan hat mit Bin-Laden kooperiert, weil hinter ihm ein sehr mächtiges und ideologisch verbündetes Netzwerk stand. Das Bin-Laden Netzwerk hatte viel Geld und wichtige Kontakte zum Ausland, bis hin zu Geheimdiensten, Politikern, Polizei und Militärs. Die Taliban dachten da also sicherlich weniger an Ehre, wie schlicht und ergreifend pragmatisch. Aus ihrer Sicht sprach mehr für ihn, wie gegen ihn. Dass sich die Taliban für die globalen Ambitionen Bin-Ladens ansonsten nicht im Geringsten interessierten glaube ich Ihnen aufs Wort. Das sind geographische Dimensionen, in denen die sie nicht denken. Das dürfte den meisten schlicht als phantastische Spinnerei erscheinen. Dass sie jederzeit bereit gewesen wären, Bin-Laden gegen interessante Goodies auszuhändigen, haben sie selbst gesagt und das glaube ich Ihnen auch. Z.B. für internationale Anerkennung als legitime Regierung Afghanistans hätten sie nicht eine Sekunde gezögert ihm den Kopf abzuschneiden und jubelnd durch Kabul zu tragen. Den Aspekt der Ehre sehe ich in dem Fall als sehr hintergründig an, vorrangig war das alles ein rein pragmatisches Kalkül. Verzockt haben sich am Ende alle Beteiligten.


Re: Afghanistan - hunter1 - 30.08.2012

Ambassador schrieb:Es gibt in Südostasien/Papua einige Steinzeitlich lebende Stämme, in die sich von aussen niemand einmischt/einmischen darf.
Wenn man denen ihre Kultur und eigene Entwicklungsmöglichkeit nimmt, nur weil wir das Rad schon erfunden haben und wissen, was gut ist, würde wohl jeder dagegen sein und ich denke, Hunter auch.
Solche indigenen Völker gibts auch im Amazonasgebiet, wo z.B. die brasilianische Regierung den Kontakt von Aussenstehenden zu diesen Völkern verbietet, um sie zu schützen. Die Frage ist: ist das richtig oder falsch?
Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Ethnologie ist es, dass Kultur und Gesellschaft keine statischen Gebilde sind, sondern sich dauernd verändern, sei es durch innere Umwälzungen oder durch äussere Einflüsse. Wenn man eine Kultur betrachtet, erhält man immer nur eine Momentaufnahme, von der man weder auf die vergangene noch auf die zukünftige Zusammensetzung dieser Kultur schliessen darf. Übertragen auf die Situation in Afghanistan bedeutet dies, dass sich früher oder später auch die Ideologie der Taliban bzw. die kulturelle Identität Paschtunen ändern wird, auch wenn etliche der Befürworter dieser Denkweisen dagegen arbeiten werden, da sie diese Denkweisen für das einzig Richtige halten und gefälligst jeder Mensch auf Erden sich dem anschliessen muss. Man könnte nun also, wie Du im Grunde genommen vorschlägst, einfach warten, bis sich die Paschtunen bzw. Taliban selbst soweit verändert haben, dass sie auf unserem Menschenrechtsniveau angekommen sind. Das würden wir vermutlich nicht mehr erleben. Wir nehmen dadurch aber unglaublich viel menschliches Leid in Kauf, das nicht nötig wäre. Ist das wirklich eine bessere Lösung? Ist das überhaupt akzeptabel?
Ich habe bei dieser Diskussion je länger das Gefühl, dass ich aus Sicht der Opfer schreibe, Du und Erich aus Sicht der Täter. Ich finde, man sollte mal die Opfer befragen, was sie von einem kulturellen Wandel hielten: die Frauen, die Mädchen, die Konvertiten, die unverheirateten Liebespaare, etc.

Ambassador schrieb:Man kann nicht überall etwas überstülpen, nur weil wir meinen, das es besser ist.

Es ist absolut normal, dass Völker versuchen, anderen ihre Wertevorstellungen überzustülpen. Jeder Glaubenskonflikt funktioniert genau so und hat immer so funktioniert. Unzählige Völker wurden von anderen assimiliert und das nicht nur von Europa aus. Das ist aber gar nicht, was ich für die Afghanen (bzw. andere Kulturen) will. Ich will, dass sich die afghanische Kultur mit unseren Wertvorstellungen vermengt. Dass den Afghanen gezeigt wird, wie unsere Kultur funktioniert und was sie zu bieten hat. Überstülpen dürfen sie sich davon dann selber, was sie wollen. Das Wichtigste daran ist dann, dass diejenigen, die sich für unsere kulturellen Eigenschaften interessieren und diese übernehmen, geschützt werden vor denen, die ihnen dafür den Kopf abschneiden wollen.

Ambassador schrieb:Wir demokratischen westlichen Staaten sind immerhin auch für unseren modernen Lebensstil verantwortlich, der nun auch zb. von China etc. übernommen wird - mit all den folgen für die Umwelt, was vielleicht zum Untergang der gesamten Menschheit führen wird. Was da wohl besser ist, wird man sich dann nicht mehr fragen können.
Wir zwingen aber den Konsum niemandem auf. Viel mehr sind die anderen empfänglich für Ressourcenverschwendung. Das ist nur menschlich. Jeder will im Schlaraffenland leben. Wir sind erst für diesen Lebensstil verantwortlich, wenn wir Raubbau an den Ressourcen betreiben (was wir auch tun). Mit Menschenrechten hat das aber nur am Rand zu tun.

Erich schrieb:Das ist unsere (auch meine) westliche Sicht der Dinge . Und das (seit 1949 im Grundgesetz festgeschriebene) Recht auf "Leben und körperliche Unversehrtheit" entstammt einer über Jahrhunderte andauernden Entwicklung in unserer Gesellschaft, die in weiten Teilen Afghanistans (noch?) nicht angekommen ist - und warum verlangst Du von der traditionellen Stammesgesellschaft in Afghanistan, dass die Menschen dort eine Entwicklung, die bei uns Jahrhunderte gedauert hat, innerhalb weniger Jahren so nachvollziehen, dass unsere Wertemaßstäbe dann auch in der afghanischen Gesellschaft verwurzelt sind?
Weil Idee und Rezept schon vorhanden sind. Weil die Afghanen die Möglichkeit haben, jetzt von dieser Idee zu profitieren, nicht erst nach ein paar Jahrhunderten der Entwicklung. Kulturelle Eigenschaften entstehen aufgrund von Rahmenbedingungen, die darum herum herrschen: Ressourcenlage, Sicherheitslage, Kulturkontakt. All diese Dinge haben sich in Afghanistan verändert, bzw. es besteht in naher Zukunft das Potential dazu. Am massivsten hat sich der Kulturkontakt geändert, da die westliche Kultur auf Besuch kam. Die Sicherheitslage ändert sich, wenn der afghanische Nationalstaat sein Gewaltmonopol wahrnimmt und auch ausüben kann. Am bescheidensten dürfte sich bisher die Ressourcenlage geändert haben, was sich aber beschleunigen könnte, wenn ein stabiler afghanischer Nationalstaat entseht. Sollten die beiden letzten Veränderungen tatsächlich stattfinden, wird das paschtunische Gesetz obsolet, der Kulturkontakt liefert den Input, was sich moralisch ändern könnte (und meiner Meinung nach sollte).


Re: Afghanistan - Ambassador - 30.08.2012

Ich bin nicht gegen die Opfer. Ich finde es auch schlimm und Erich schrieb das ja von sich auch. Meine Sicht dazu ist jedoch, das man es langfristig nur dann hinbekommt, wenn es von der Bevölkerung mitgetragen und auch verstanden wird und das ist in Afghanistan noch nicht der Fall und ja - ich würde tatsächlich warten, bis auch die Taliban etc. in meinetwegen 200 Jahren begriffen haben, das es besser ist, wenn man es anders macht.
Ich schreibe nun zu dem Thema nichts weiter, da es ohnehin schon ein paar Beiträge lang eher in die Kategorie Spekulation bzw. Diskussion gehört und durchaus eine Interessante Diskussion ist.


Re: Afghanistan - Exirt - 30.08.2012

Hunter deine Position erinnert mich an das damalige koloniale Motto "The White Man`s Burden".
Was hat den Westen bisher in seine Kriege getrieben wenn nicht die Gier nach mehr, und die absoulute Intoleranz gegen alles was sich seinem Machwillen nicht unterwirft?
Wenn die Menschenrechte doch so wichtig sind, wieso unterstützt man dann überall auf der Welt Diktatoren? Wieso tötet man Millionen Menschen aufgrund von Lügen? Es ist eine Farce wenn man sich hier über einige getötete aufregt die-falls die Geschichte überhaupt stimmt- im einklang mit dem Rechtssystem der Taliban verurteilt worden sind, gleichzeitig aber Hochzeitsgesellschaften und Trauerfeiern mit ungleich mehr Gästen aus der Luft per Drohne und nur wegen einem wagen Verdacht plättet.
Dieser Krieg ist völlig entmenschlicht worden, und wenn das auf die kommende Zukunft hinweist und auf eine weite Verbreitung dieser Technik dann bedeutet das aus meiner Sicht nichts gutes.


Re: Afghanistan - Erich - 30.08.2012

Die Diskussion hat einen Punkt erreicht, bei dem wohl keine neuen Argumente mehr ausgetauscht werden. Ich möchte meinerseits daher mit einem Zitat von Hamed Abdel-Samad ("Der Untergang der islamischen Welt", S. 165) abschließen:
Zitat: ... die Hüter dieses Systems sind die besten Freunde des Westens. Gegen Bin Laden kämpfen Truppen westlicher Staaten in Afghanistan, aber mit den Herrschern am Golf machen dieselben westlichen Staaten Geschäfte. Man hofiert sich und lässt sich von ihnen beschenken. Ein typisches Geschenk des saudischen Königs an westlicher Politiker ist ironischerweise ein Schwert. Sogar Papst Benedikt XVI. überreichte der König ein Schwert. Man erlaubt den Saudis sogar, Akademien in Europa und Amerika aufzubauen, die diese Schwertideologie verbreiten. Was tut der Westen nicht alles, um an billiges Öl zu kommen und seine Waffen zu verkaufen. Viele Menschen im Westen können bis heute nicht begreifen, dass Gewaltsysteme nicht im luftleeren Raum entstehen. Man begreift nicht, dass die Art und Weise, wie die Menschen im Westen leben, automatisch die Diktaturen weltweit stützt. ...
und genau das ist auch meine Vorstellung: nichts wirkt nachhaltiger als die Überzeugung - und nichts überzeugt so sehr wie das gute Vorbild. Wenn unser Wertesystem überzeugen soll, dann müssen wir es vorbildlich vorleben und zur Implantation und Nachahmung anregen.
Überzeugung kann aber nicht durch "Anordnung" oder "Durchsetzung mit Gewalt" erzielt werden. Was ich wünsche, ist ein mühseeliger Prozess - der dafür aber dauerhaft und langfristig nachwirken wird.

Und damit ich mich nicht doch noch zur weiteren Diskussion hinreissen lasse, gibts erst mal eine Woche "Internet-Pause".


Re: Afghanistan - hunter1 - 31.08.2012

Ich fang mal damit an:
Ambassador schrieb:Ich schreibe nun zu dem Thema nichts weiter, da es ohnehin schon ein paar Beiträge lang eher in die Kategorie Spekulation bzw. Diskussion gehört und durchaus eine Interessante Diskussion ist.
Schade, wenn jetzt nichts mehr dazu geschrieben wird. Und natürlich wird spekuliert, wir versuchen doch, unsere Vorstellungen für die (zukünftige) Organisation Afghanistans darzulegen. Aber es ist eben nicht nur Spekulation, sondern auch gegenseitige Überzeugungsarbeit.

Ambassador schrieb:Meine Sicht dazu ist jedoch, das man es langfristig nur dann hinbekommt, wenn es von der Bevölkerung mitgetragen und auch verstanden wird und das ist in Afghanistan noch nicht der Fall und ja - ich würde tatsächlich warten, bis auch die Taliban etc. in meinetwegen 200 Jahren begriffen haben, das es besser ist, wenn man es anders macht.
Beim ersten Punkt stimme ich zu. Wenn die Bevölkerung partout nicht will, dann sollen sie halt mit der vorhandenen und durch die Taliban noch radikalisierten Lokalideologie weiterleben. Ich bin aber davon überzeugt, dass, wenn man mal alle Betroffenen befragen würde (insbesondere die Frauen) und ihnen darstellen würde, wie man sich sonst noch so organisieren könnte, die Taliban-Ideologie abgelegt würde. Das funktioniert aber nur in einem Klima der Sicherheit. Wo die Leute nicht aus Angst um Leib und Leben in einer Debatte darüber entscheiden können, was sie individuell für sich wollen.
Den zweiten Punkt kann ich, wie auch schon gesagt, nicht unterstützen. Das käme einer Kapitulation vor einem System gleich, das ganz und gar unmenschlich ist. Unmenschlich deswegen, weil eine Weiterentwicklung fast verunmöglicht wird: nicht der Mensch steht im Zentrum, als ständiger Kritiker und Veränderer des Systems, sondern das System selbst. Die Folge ist unglaubliches Leid, obwohl synchron auf der Welt schon gesellschaftliche Lösungen angeboten werden, welche dieses verhindern würden.

Exirt schrieb:Hunter deine Position erinnert mich an das damalige koloniale Motto "The White Man`s Burden".
"White Man's Burden" musste ich erst mal googlen...so wie ich es verstanden habe, gehts darum, dass man "primitive" Völker bzw. Andersdenkende zu ihrem eigenen Glück zwingen muss, indem man ihnen die eigenen Wertvorstellungen aufdrückt, stimmts? Nun, wenn Du mir diese Position unterstellst, liegst Du teils richtig, teils falsch. Richtig ist, ich halte das europäische Auslegung der Menschenrechte für die beste, die wir momentan auf der Welt haben. Selbst die Europäer können die eigenen Menschenrechte nicht zu 100 Prozent umsetzen, aber sie erreichen dabei ein Level, wovon man in anderen Weltregionen nur träumen kann. Selbstverständlich bin ich also dafür, dass jeder Mensch auf der Welt sich selber entscheiden darf, ob er oder sie das auch so haben will. Und dass diese Entscheidung von den Mitmenschen akzeptiert wird. Falsch ist, dass man Menschen um jeden Preis dazu zwingt und ihnen jede Möglichkeit nimmt, sich selbst zu definieren. Ich merke schon, Du gehst davon aus, dass dies genau meine Haltung gegenüber den Afghanen ist: dass ich sie zu "ihrem Glück" zwingen will, koste es, was es wolle. Das ist aber nicht meine Haltung. Mir geht es darum, dass man ihnen unsere Sichtweise anbietet und dass sie sich dann - jeder für sich - dafür oder dagegen entscheiden. Und daher ist es meine Pflicht, jeden, der sich dafür entscheidet, in Schutz zu nehmen.
Was Du übrigens nicht ausser Acht lassen darfst: "The White Man's Burden" funktioniert in jede Richtung. Mal bezogen auf die Kultur der Paschtunen (das von Erich angesprochene Pashtunwali), können wir auch davon profitieren, z.B. vom Konzept der Gastfreundschaft. Andere Konzepte, wie z.B. Rache oder Ahndung und Defintion von Ehrverletzung werden in unserem System dafür definitiv besser gelöst und sollten (nur in einem nationalstaatlich funktionierenden Afghanistan) von den Paschtunen geändert werden.

Exirt schrieb:Was hat den Westen bisher in seine Kriege getrieben wenn nicht die Gier nach mehr, und die absoulute Intoleranz gegen alles was sich seinem Machwillen nicht unterwirft?
"Der Westen"...auch wenn ich aus diesem kulturellen Kontext stamme, entspricht meine Position eigentlich eher derjenigen der UNO. "Der Westen" müsste zudem erst mal klar definiert werden.
In Deiner Frage könntest du "den Westen" übrigens bequem durch "die Muslime, die Mongolen, die Ägypter, Alexander den Grossen, die Kommunisten, die imperialen Japaner, die Perser, die Römer, etc...., DIE MENSCHEN" ersetzen.
Bezogen auf Aghanistan ist Deine Frage sowieso ziemlicher Murks, da hier tatsächlich mal nicht die Gier nach mehr im Vordergrund stand, sondern in erster Linie Rache und Strafe. Klar fährt die Gier nach mehr jedesmal mit (man wird seinen Einfluss in Afghanistan ausdehnen wollen), aber das war hier zu Beginn der ISAF-Operation wirklich nachrangig. Für den Irak-Krieg triffts hingegen sehr genau zu.

Exirt schrieb:Wenn die Menschenrechte doch so wichtig sind, wieso unterstützt man dann überall auf der Welt Diktatoren? Wieso tötet man Millionen Menschen aufgrund von Lügen?
Das ist nicht meine Position. Wie gesagt, ich vertrete nicht den Westen, so wie Du ihn siehst. Ich vertrete eher die Ideale der UNO, wie sie zu Beginn der UNO mal formuliert wurden. Es ist mir schon klar, dass diese Ideale niemals global verwirklicht werden. Aber ich kann dafür leben und danach streben. Und daher ist es eben legitim, wenn ich die Taliban verurteile und sie wegwünsche, solange sie Andersdenkende abschlachten. Ich verurteile ja auch G.W. Bush für seinen Einmarsch in den Irak, Saddam Hussein für sein Verhalten im Irak, usw.

Zitat:Es ist eine Farce wenn man sich hier über einige getötete aufregt die-falls die Geschichte überhaupt stimmt- im einklang mit dem Rechtssystem der Taliban verurteilt worden sind, gleichzeitig aber Hochzeitsgesellschaften und Trauerfeiern mit ungleich mehr Gästen aus der Luft per Drohne und nur wegen einem wagen Verdacht plättet.
Jetzt fängst Du an, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Wenn die NATO eine Hochzeitsgesellschaft oder Zivilisten plättet, ist das ein Verbrechen. Die NATO weiss das, die Medien wissens, die NATO-Staaten und deren Bevölkerung wissens und jeder verurteilt es. Auch wenn sich die NATO in so einem Fall herauszureden versucht, werden doch Reparationszahlungen geleistet, es gibt Entschuldigungen, die Schuldigen werden evtl. zur Verantwortung gezogen. Wenn hingegen die Taliban oder irgendwelche Dschihadisten Zivilisten enthaupten, halten sie diese Aktion für legitim. Die gehen sich hinterher nicht bei den Angehörigen entschuldigen oder leisten Schadenersatz. Weil sie ja das Gefühl haben, im Recht gehandelt zu haben. Wenn Du diesen Unterschied nicht siehst, kann ich Dir auch nicht weiterhelfen.
Und was die pöhsen Drohnen angeht...die Taliban haben schon lange vor der NATO Drohnen eingesetzt: jeder Selbstmordattentäter ist eine Drohne. Denk mal drüber nach.
Klar könnte man den Krieg auch anders führen. Mehr Soldaten auf dem Boden, anstatt in einem Drohnenkontrollzentrum in Nevada. Mehr Kontrolle über die Handlungen der einzelnen Soldaten. Aber auf jeden Fall steht bei den ROE der NATO nirgends, dass man pro Krieg soundsoviele Zivilisten töten muss, sondern eben das Gegenteil (möglichst keine zivilen Verluste). Bei den Taliban geht man hingegen so vor, dass man Zivilisten drakonisch bestraft, wenn sie nicht spuren.

Erich schrieb:und genau das ist auch meine Vorstellung: nichts wirkt nachhaltiger als die Überzeugung - und nichts überzeugt so sehr wie das gute Vorbild. Wenn unser Wertesystem überzeugen soll, dann müssen wir es vorbildlich vorleben und zur Implantation und Nachahmung anregen.
Überzeugung kann aber nicht durch "Anordnung" oder "Durchsetzung mit Gewalt" erzielt werden. Was ich wünsche, ist ein mühseeliger Prozess - der dafür aber dauerhaft und langfristig nachwirken wird.
Das mit dem guten Vorbild unterschreibe ich sofort. Individuell kann man das auch recht gut vorleben, auf staatlicher Ebene wirds da tatsächlich sehr doppelmoralisch, was ich auch verurteile, sowie mir wünsche, dass es besser wird. Und was den mühseligen Prozess angeht, gibts da zwei Varianten. Erstens kann man einfach nur "gut zureden" oder gar nichts tun, dann ist der Prozess nicht nur mühselig, sondern dauert tatsächlich Jahrhunderte und ist evtl. erfolglos. Oder man greift ein, wobei es wieder verschiedene Grade des Zwangs gibt. Einen Nationalstaat mit Gewaltmonopol halte ich dabei für die bestmögliche Variante des Zwangs. Sofern dieser Nationalstaat nach unseren Prinzipien der Demokratie aufgebaut ist.

Erich schrieb:Und damit ich mich nicht doch noch zur weiteren Diskussion hinreissen lasse, gibts erst mal eine Woche "Internet-Pause".
Schöne Ferien wünsch ich! Big Grin


Re: Afghanistan - Shahab3 - 31.08.2012

Zitat:Beim ersten Punkt stimme ich zu. Wenn die Bevölkerung partout nicht will, dann sollen sie halt mit der vorhandenen und durch die Taliban noch radikalisierten Lokalideologie weiterleben. Ich bin aber davon überzeugt, dass, wenn man mal alle Betroffenen befragen würde (insbesondere die Frauen) und ihnen darstellen würde, wie man sich sonst noch so organisieren könnte, die Taliban-Ideologie abgelegt würde. Das funktioniert aber nur in einem Klima der Sicherheit. Wo die Leute nicht aus Angst um Leib und Leben in einer Debatte darüber entscheiden können, was sie individuell für sich wollen.

Wieso besteht bei Dir überhaupt das Interesse daran, den Taliban ("insbesondere den Frauen") darstellen zu wollen, wie man sich "sonst noch so organisieren könnte"? Die Taliban sollen leben wie es ihnen gefällt, solange es ihnen selbst intern gefällt. Der eigentlich Punkt ist doch vielmehr der, dass die Talibs dabei selbst nicht anderen ihre radikale Ideologie aufzwängen dürfen. Damit meine ich NICHT "insbesondere die Frauen", sondern sehr konkret einfach andere Kulturkreise. Sie sollen andere Kulturkreise nicht mit Gewalt ihre fremden Regeln aufzwängen. Die Talibs sind selbst vor allem Kulturkrieger, die sich wie eine Krankheit durch stark begünstigende Umstände im Körper Afghanistan ausgebreitet haben. Ganz sicher will die Mehrheit der Afghanen so nicht leben, weil die Mehrheit der Afghanen keine Talibregeln braucht und möchte. Die Taliban"kultur" ist inhärent gewalttätig.


Re: Afghanistan - hunter1 - 02.09.2012

Das Aufzwängen fängt doch schon in der eigenen Kultur an. Die paschtunischen Gebiete sind sozusagen das Kernland für die Taliban-Ideologie. Ohne diesen Nährboden wären die Taliban auch nur eine Horde von Barbaren aus einem fremden Land, die über Afghanistan hergefallen sind und selbst die Paschtunen würden sich gegen sie wenden. Taliban-Ideologie und paschtunische Kultur sind somit fast deckungsgleich. Wenn ich von den afghanischen Frauen spreche, meine ich also vor allem die aus dem Paschtunengebiet (in welchem der Vorfall, der diese Diskussion ausgelöst hat, ja auch stattfand). Dass es allen Frauen dort "intern gefällt", wie sie unter den Taliban behandelt werden, bezweifle ich. Es gibt sicher solche, die das so wollen. Aber das dürfte eine Minderheit sein.
Dass sich die Taliban-Gesetze aus ihrer Herrschaftszeit in den 90ern wieder auf andere Kulturkreise ausbreiten (z.B. die Hazara), wäre sowieso eine Katastrophe.


Re: Afghanistan - Shahab3 - 02.09.2012

@hunter1
Was Frauen, Kindern, Alten und Schwachen dort gefällt und nicht gefällt, können und müssen die unter sich ausmachen. Generell gilt, dass Bildung und wirtschaftlicher Aufschwung, die Bedeutung traditioneller Werte reduziert. Vorträge über eine heilere Welt von irgendwelchen Schöngeistern aus der Schweiz oder Deutschland hat dagegen sicherlich wenig positive Ausstrahlungskraft auf den Afghanen an sich. Den Paschtunen ihre seit vielen Jahrhunderten tief verwurzelten ethischen und moralischen Vorstellungen "umzuerziehen" (in erster Linie regeln diese das harte Über-/Leben dort), überfordert sicherlich jeden Europäer schon von Denkweise und Weltbild. Das ist der Punkt, wo es dort auch mit der berühmten Gastfreundschaft nicht mehr weit bestellt sein dürfte.

Ein weiterer Denkfehler ist, die Paschtunen mit den Taliban gleich zu setzten. Die Talibanbewegung ist aber doch recht jung, stammt aus dem pakistanisch-indischen Raum (Deoband-Schule). Die Paschtunen sind schon eine ganze Weile länger dort und ihre durchaus stark konservativen und auch islamisch geprägten Traditionen haben sie schon wesentlich länger, bevor sie von den religiösen Eiferern -den Deobandis/Taliban Schülern- in den 80ern und 90ern aus Richtung Pakistan ideologisch und militärisch überrollt wurden. Der Nährboden scheint auf dem Gebiet der Paschtunen recht fruchtbar für die Taliban gewesen zu sein, aber es ist genau genommen ideologisch/kulturell fremder Boden. Das macht sich in den gezeigten Meldungen über Widerstand gegen Schul-, Musik- und Literaturverbote bemerkbar.

---------------

Zitat:Sun Sep 2, 2012 4:6PM GMT
Iran-Afghanistan Joint Economic Commission to meet in Kabul
...
“Trade between Iran and Afghanistan has grown in the past decade, mainly due to closer ties between the two countries.”
...
Iran's aid to Afghanistan was provided in the form of infrastructure projects including the construction of 300 kilometers of roads, 207 kilometers of railways, supplying water and electricity and building clinics for special medical purposes, Salehi said.

“Iran has invested more than USD 500 million in building roads, railroads, schools and hospitals in Afghanistan. We are hosting more than 3 million Afghan refugees in our country. More than 300,000 Afghan students attend our schools and over 8,000 students attend our universities,” the Iranian minister had earlier said.
...
<!-- m --><a class="postlink" href="http://presstv.com/detail/2012/09/02/259499/iranoafghan-council-to-meet-in-kabul/">http://presstv.com/detail/2012/09/02/25 ... -in-kabul/</a><!-- m -->


Re: Afghanistan - hunter1 - 04.09.2012

Zitat:Was Frauen, Kindern, Alten und Schwachen dort gefällt und nicht gefällt, können und müssen die unter sich ausmachen.
Du gehst fälschlicherweise davon aus, dass die das einfach können. Das ist aber nicht der Fall. "Selber unter sich ausmachen" funktioniert nur zufriedenstellend für alle, wenn eine Debatte mit Beteiligung aller stattfindet, wobei jeder seine Argumente vortragen kann, ohne eine Strafe fürchten zu müssen. Klar haben wir diesen Zustand bei uns selber auch nicht (gewisse Dinge öffentlich auszusprechen, steht hier unter Strafe), aber eine Gesellschaftsform, wie sie im paschtunischen Afghanistan mit Taliban-Einfluss vorzufinden ist, ist von diesem Zustand noch unendlich viel weiter entfernt. Die Konsequenz ist, dass das "unter sich ausmachen" allein von den Mächtigen bestimmt wird. Und das schliesst den weiblichen Teil der Bevölkerung zu einem grossen Teil schon mal aus. Also nein, es ist eben keine Option, dass "die das unter sich ausmachen", bevor nicht ein Umfeld besteht, in dem das auch einigermassen gerecht möglich ist. Und dieses Umfeld wäre der funktionierende afghanische Nationalstaat. Wobei sich dieser an einer westlichen Demokratie orientieren sollte.

Zitat:Generell gilt, dass Bildung und wirtschaftlicher Aufschwung, die Bedeutung traditioneller Werte reduziert.
Gerade mit der Bildung hatte das Taliban-Regime ja einen ganz tollen Umgang...jedenfalls besteht jetzt die Chance, Bildung und wirtschaftlichen Aufschwung in Afghanistan voranzutreiben. Dazu gehört aber, dass die Taliban verschwinden. Und dass ein funktionierender Staat aufgebaut wird.

Zitat:Vorträge über eine heilere Welt von irgendwelchen Schöngeistern aus der Schweiz oder Deutschland hat dagegen sicherlich wenig positive Ausstrahlungskraft auf den Afghanen an sich.

Ansprechsperson ist ja nicht nur der Afghane, sondern auch die Afghanin. Bei der kommts schon positiv an. Dass "der Afghane" vorerst keine Freude daran hat, ist klar; wer gibt schon freiwillig Macht ab?

Zitat:Den Paschtunen ihre seit vielen Jahrhunderten tief verwurzelten ethischen und moralischen Vorstellungen "umzuerziehen" (in erster Linie regeln diese das harte Über-/Leben dort), überfordert sicherlich jeden Europäer schon von Denkweise und Weltbild.
In einem staatlich funktionierenden Afghanistan werden, wie ich weiter oben schon schrieb, paschtunische Überlebensregeln obsolet, da dem Staat die Aufgabe zufällt, das Überleben der Bürger zu erleichtern (nicht, es zu garantieren). Und glaub mir, der Europäer ist mit diesem Weltbild nicht überfordert, da er sich ja nicht erst seit fünf Minuten mit dem Thema beschäftigt.

Zitat:Ein weiterer Denkfehler ist, die Paschtunen mit den Taliban gleich zu setzten. Die Talibanbewegung ist aber doch recht jung, stammt aus dem pakistanisch-indischen Raum (Deoband-Schule). Die Paschtunen sind schon eine ganze Weile länger dort und ihre durchaus stark konservativen und auch islamisch geprägten Traditionen haben sie schon wesentlich länger, bevor sie von den religiösen Eiferern -den Deobandis/Taliban Schülern- in den 80ern und 90ern aus Richtung Pakistan ideologisch und militärisch überrollt wurden. Der Nährboden scheint auf dem Gebiet der Paschtunen recht fruchtbar für die Taliban gewesen zu sein, aber es ist genau genommen ideologisch/kulturell fremder Boden. Das macht sich in den gezeigten Meldungen über Widerstand gegen Schul-, Musik- und Literaturverbote bemerkbar.
Ohne die Unterstützung der Paschtunen hätten die Taliban nie den Erfolg in Afghanistan und Pakistan, den sie hatten und immer noch haben. Sprich, es gibt eine hohe Kompatibilität zwischen Taliban-Ideologie und paschtunischer Gesellschaftsform. Das ist natürlich genau genommen keine Gleichsetzung, läuft de facto aber darauf hinaus. Dass es auch bei den Paschtunen Widerstand gegen die Taliban-Ideologie gegeben hat, davon gehe ich sowieso aus. Genützt hats in der Zeit der Taliban-Herrschaft offenbar nichts, also würde ich diesen Widerstand nicht hochspielen.