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Russland vs. Ukraine - Druckversion

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RE: Russland vs. Ukraine - Schneemann - 08.02.2023

Ich bin mir nun auch nicht ganz sicher, ob ich es richtig verstanden habe, indessen jedoch ist es natürlich eine dezidierte Gratwanderung, die Reisner hier vollzieht; wenn ich richtig liege, so spielt er hier ein wenig und wohlwissend mit den Säulen des Selbstverständnisses. Es ist quasi ein indirektes, vordergründiges und doppeldeutiges Vertreten eines stillschweigend innerhalb des Militärs und auch in Teilen der Wiener Politik sich ausbreitenden und verfestigenden Gedankenbildes, wonach die Neutralität des Kalten Krieges heute nicht mehr zeitgemäß wäre.

Ich kann es nun leider nicht mehr genau sagen, welche Ausgabe das war, aber ich entsinne mich, dass ich vor rund zwei Jahren mal einen Artikel über das österreichische Bundesheer im "Clausewitz"-Magazin gelesen hatte. In diesem wurde klar gesagt, dass es im österreichischen Militär die Ansicht gibt, dass die Neutralität des Kalten Krieges heutzutage überholt sei und zumindest hinterfragt werden müsste und dass eine NATO-Mitgliedschaft Vorzüge hätte (in der Schweiz gibt es ja ähnliche Strömungen). Ob das allerdings Reisners Intention ebenso ist, kann ich nicht sicher beantworten.

Schneemann


RE: Russland vs. Ukraine - lime - 08.02.2023

Hat sich denn hieran was geändert? Österreich scheint sich auch nicht mit Waffenlieferungen auf welche Art auch immer involvieren zu wollen.

https://www.euractiv.de/section/europa-kompakt/news/oesterreich-und-ungarn-liefern-weiter-keine-waffen-in-die-ukraine/

Eine relative Mehrheit der Österreicher ist laut Umfragen nicht nur gegen eigene Waffenlieferungen sondern auch gegen die Waffenlieferungen des Westens.

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1308114/umfrage/bewertung-der-waffenlieferungen-des-westens-an-die-ukraine-in-oesterreich/

Die Neutralität scheint also noch ziemlich fest verwurzelt zu sein.


RE: Russland vs. Ukraine - Pogu - 08.02.2023

Das ist tatsächlich die Diskrepanz:

(08.02.2023, 09:41)Schneemann schrieb: Es ist quasi ein indirektes, vordergründiges und doppeldeutiges Vertreten eines stillschweigend innerhalb des Militärs und auch in Teilen der Wiener Politik sich ausbreitenden und verfestigenden Gedankenbildes, wonach die Neutralität des Kalten Krieges heute nicht mehr zeitgemäß wäre.

(08.02.2023, 10:05)lime schrieb: Eine relative Mehrheit der Österreicher ist laut Umfragen nicht nur gegen eigene Waffenlieferungen sondern auch gegen die Waffenlieferungen des Westens.

.......

Die Neutralität scheint also noch ziemlich fest verwurzelt zu sein.



RE: Russland vs. Ukraine - Schneemann - 08.02.2023

Zitat:Eine relative Mehrheit der Österreicher ist laut Umfragen nicht nur gegen eigene Waffenlieferungen sondern auch gegen die Waffenlieferungen des Westens.
Das ist natürlich auch so ein Thema, nun mal nicht spezifisch auf Österreich bezogen, sondern allgemein zu verstehen und auch auf Deutschland durchaus anzuwenden: Ich stelle fest, dass die Panzerlieferungen die Gemüter umtreiben - dass die (geplanten) Panzerlieferungen nur einen Bruchteil der Kosten der bisher gelieferten Rüstungsgüter ausmachen würden, scheint dabei keine Rolle zu spielen; ja es ist fast so, als wenn mit dem Begriff "Panzer" die Inkarnation der vier apokalyptischen Reiter die Bildfläche betreten würden.

Das ist auch in Diskussionen und in den (a)sozialen Medien durchaus ein recht weit verbreitetes Phänomen - Beiträge oder Aussagen wie "Wer Frieden will, liefert keine Panzer!" erfreuen sich durchaus einer gewissen Sympathie. Wenn man dann entgegnet (wie ich es prompt tat), dass "wer Frieden wolle, auch nicht seinen Nachbarn überfallen sollte", dann erntete dies von den so arg Friedensbewegten eher ungläubige und irritierte Blicke - wie wenn es keinen Angriffskrieg geben würde. Ja, in einigen Fällen kamen sogar Vorwürfe der Kriegstreiberei mir gegenüber auf. Ich habe mich dann aus den Diskussionen zurückgezogen, da ich mir nicht ganz sicher war, wie diese Reaktionen zustande kommen. Ist es nur die Angst vor dem Eskalieren des Krieges? Oder politisches Kalkül? Oder Unwissenheit? Oder gezielte Manipulation der Hintergründe? In gewisser Weise bereiteten mir diese Reaktionen dann größere Sorgen als die Eskalation dieses leidigen Krieges...

Schneemann


RE: Russland vs. Ukraine - GermanMilitaryPower - 08.02.2023

Schneemann, das liegt daran, dass Panzer in den Händen von guten Besatzungen für viel Leid und Tod verantwortlich sind. Kein anderes erdgebundenes Waffensystem strahlt eine derartige Dominanz und Zerstörungspotential aus.

Die Ukraine kann und wird diesen Krieg nicht gewinnen. Und jede Waffenlieferung des Westens ohne gleichzeitig geführte diplomatische Gespräche verlängert das Leid unter allen beteiligten Staaten.

Mit diplomatischen Bemühungen wäre dieser Konflikt bereits im vergangenen Jahr beendet worden oder zumindest hätten wir einen Waffenstillstand.

Die Leute entfernen sich endlich zunehmend von der vierten Gewalt, dieser kriegsgeilen Presse. Das Schicksal der Ukraine ist eine Katastrophe und beruht leider auch auf grotesken Fehlentscheidungen der ukrainischen Führung. Am Ende sind die Leidtragenden wieder einmal die Zivilbevölkerung und die eingezogenen Soldaten.


RE: Russland vs. Ukraine - Delta - 08.02.2023

(08.02.2023, 13:05)GermanMilitaryPower schrieb: [...]
Mit diplomatischen Bemühungen wäre dieser Konflikt bereits im vergangenen Jahr beendet worden oder zumindest hätten wir einen Waffenstillstand. [...]

Vollkommen richtig. Nur war Russland leider nicht bereit den berechtigten Forderungen* der UKR zu folgen.


* Abzug aller Truppen aus dem Staatsgebiet der Ukraine wie im Budapester Memorandum (durch Russland) festgelegt wurde und Reparationszahlungen für alle durch Russland getätigten Schäden seit 2014


RE: Russland vs. Ukraine - Ottone - 08.02.2023

(08.02.2023, 09:29)Pogu schrieb: Dieser Nachsatz (Das ist die Lösung, die wir sehen.), mit diesen beiden Begriffen (Wir, Lösung), ist für uns verdächtig, dubios und insgesamt nicht geheuer.
Danke, so ist es jetzt klar. Wobei dieser Argwohn unscharf ist und auf "der Krieg soll bitte aufhören" hindeutet. Man könnte auch sagen das es nicht weit genug gedacht ist.


RE: Russland vs. Ukraine - speciman - 08.02.2023

(08.02.2023, 13:05)GermanMilitaryPower schrieb: Schneemann, das liegt daran, dass Panzer in den Händen von guten Besatzungen für viel Leid und Tod verantwortlich sind. Kein anderes erdgebundenes Waffensystem strahlt eine derartige Dominanz und Zerstörungspotential aus.

Die Ukraine kann und wird diesen Krieg nicht gewinnen. Und jede Waffenlieferung des Westens ohne gleichzeitig geführte diplomatische Gespräche verlängert das Leid unter allen beteiligten Staaten.

Mit diplomatischen Bemühungen wäre dieser Konflikt bereits im vergangenen Jahr beendet worden oder zumindest hätten wir einen Waffenstillstand.

Die Leute entfernen sich endlich zunehmend von der vierten Gewalt, dieser kriegsgeilen Presse. Das Schicksal der Ukraine ist eine Katastrophe und beruht leider auch auf grotesken Fehlentscheidungen der ukrainischen Führung. Am Ende sind die Leidtragenden wieder einmal die Zivilbevölkerung und die eingezogenen Soldaten.

Ich wäre mit solchen absoluten Aussagen immer vorsichtig. Warum sollte die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen können? Gerade durch entschiedene Unterstützung der Ukraine wird dieser Sieg erst möglich. Diplomatische Gespräche sind wichtig, allerdings darf der Aggressor dabei nicht belohnt werden. Im Falle Russlands können zB die Höhe späterer Reparationszahlungen an die Ukraine Gegenstand von Verhandlungen sein.

Ich wage folgende Prognose über den weiteren Kriegsverlauf:
- Ukraine wird im Frühsommer eine Offensive von Saporischschja aus Richtung Melitopol starten, um das russische Besatzungsgebiet in zwei Teile zu zerschneiden.
- Dadurch wird die Krim schwerlich zu versorgen sein, die Kerch Brücke wird durch weitreichende Raketenartillerie bedroht, die Bahnverbindung über das Festland zur Krim ist dann ebenfalls dicht
- eine Versorgung über See wird sehr schwierig werden für Russland
- nach Befreiung der Krim wird man sich um die übrigen Gebiete im Osten kümmern


RE: Russland vs. Ukraine - Schneemann - 08.02.2023

@GMP
Zitat:Schneemann, das liegt daran, dass Panzer in den Händen von guten Besatzungen für viel Leid und Tod verantwortlich sind. Kein anderes erdgebundenes Waffensystem strahlt eine derartige Dominanz und Zerstörungspotential aus.
Das ist ja das, was mich so irritiert, was aber m. M. n. auch nicht ganz stimmt. Ein Kampfpanzer kann zwar erhebliche Schäden verursachen, Häuser beschießen oder Vorgärten und Autos plattwalzen, aber genau genommen kann ein System MARS II noch viel größere Schäden und höhere Opferzahlen verursachen mit einer einzigen Salve als ein Kampfpanzer mit seinem 120-mm-Glattrohrgeschütz. Aber bei der Lieferung von Werfern und Panzerhaubitzen sowie 10.000nden Richtminen, 35.000 Granaten 155 mm usw. gab es diese Regungen, Ängste, Bedenken, teils auch Pöbeleien etc. im Netz so nicht. Meine Vermutung ist schlicht, dass sich die wenigsten überhaupt darüber bewusst sind (was aber nicht wirklich neu wäre, da sich die wenigsten in ihrer freien Zeit mit militärischen Dingen beschäftigen), welche Feuerkraft bereits deutscherseits geliefert wurde - und dass sie sich aber eben nun am Begriff des "Panzers" erschrecken, abarbeiten und/oder hier eine enorme Eskalation darin sehen. Aber das ist es eben nicht...
Zitat:Mit diplomatischen Bemühungen wäre dieser Konflikt bereits im vergangenen Jahr beendet worden oder zumindest hätten wir einen Waffenstillstand.
Dein Wort in Gottes Ohr, aber ich schätze, dass das ein Wunschdenken ist. Von der Krim rede ich mal noch gar nicht. Man kann den Ukrainern nur schwer zumuten, den jetzigen Status Quo hinzunehmen (d. h. die vier annektierten Gebiete im Osten faktisch aufzugeben), das würde Selenskyj zumindest politisch auch nicht überleben. Und Putin könnte sich, wenn er diese vier Gebiete wieder räumen würde, gleich im Klo aufhängen. Und zudem haben wir keinerlei Sicherheit, dass, wenn man sich jetzt einen Waffenstillstand herbeizaubert, nicht beide Seiten diesen zum Aufrüsten und für eine weitere Runde nutzen. Den jetzigen Krieg einzufrieren und einen Waffenstillstand durchzudrücken, wie der alte Kissinger es ja jüngst vorschlug (Link: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kissinger-davos-ukraine-russland-krieg-1.5734136), würde keinen Frieden bringen. Oder um Marschall Fochs Aussage von 1919 zum Versailler Vertrag (Es ist ein Waffenstillstand auf 20 Jahre) mal leicht verändert zu bemühen: Das wäre kein Frieden, es wäre ein Waffenstillstand für vielleicht zwei Jahre (und dann könnte es um so blutrünstiger werden).

Schneemann


RE: Russland vs. Ukraine - Nightwatch - 08.02.2023

Ihr denkt wieder zu überkomplex. Ein Hauptkampfpanzer ist schlicht das Bild, dass die gemeine, desinteressiete Öffentlichkeit mit echtem Krieg assoziiert. Was eine Panzerhaubitze oder ein Flugabwehrkanonenpanzer ist weiß doch kein Mensch. Und nicht mal die letzte IBUK.


RE: Russland vs. Ukraine - GermanMilitaryPower - 08.02.2023

Delta, speciman, ihr habt beide Recht. Objektiv und subjektiv, quasi nach gesundem Menschenverstand. Aber dadurch dass die einstige Weltmacht Russland involviert ist, gibt es hier keine saubere und faire Lösung.

(08.02.2023, 16:37)speciman schrieb: Diplomatische Gespräche sind wichtig, allerdings darf der Aggressor dabei nicht belohnt werden.

Es wird keinen anderen Weg geben als den Aggressor Russland zu belohnen, um diesen Konflikt zu beenden. Genau das ist das Dilemma und die Tatsache, dass dies nicht akzeptiert werden kann, zumeist politisch, sorgt für noch mehr Tod und Zerstörung.

Schneemann, super Antwort. Hier kann ich mich vollends anschließen. Meine Aussagen hinsichtlich diplomatischer Lösungen basieren auf einer offensichtlichen „Niederlage“ der Ukraine. Dieser Konflikt kann nicht mehr pausiert oder beendet werden, ohne dass die russische Seite die Überhand behält. Russland wird alles was es hat, über Jahre, in diesen Konflikt werfen, dabei auf beiden Seiten Menschen und Material verheizen und einen totalen Abnutzungskrieg praktizieren.

Ich wage zu behaupten, dass dieser Konflikt das Potential dazu hat, die größte Katastrophe unserer Generation zu werden. Und ich glaube daran, dass Putin diesen Konflikt nie hätte so hochkochen lassen, wenn er gewusst hätte, an welchem Punkt Russland und die Welt heute stehen.

Nightwatch, volle Zustimmung.


RE: Russland vs. Ukraine - Nightwatch - 09.02.2023

Zitat: Dieser Konflikt kann nicht mehr pausiert oder beendet werden, ohne dass die russische Seite die Überhand behält. Russland wird alles was es hat, über Jahre, in diesen Konflikt werfen, dabei auf beiden Seiten Menschen und Material verheizen und einen totalen Abnutzungskrieg praktizieren.
Ich kann mit diesem Denkansatz nicht ganz mitgehen.

Mit einem ‚Totalen Krieg über Jahre‘ würde Russland / das jetzige Regime dort immense Risiken eingehen, die meines Erachtens mindestens die Gefahren einer tatsächlichen, aber propagandistisch zu Hause verkaufbaren Niederlage bei weitem übersteigen.
Was würde Russland in diesem Szenario gewinnen? Eine niedergerungene, völlig zerstörte, weitgehend entvölkerte, effektiv wertlose und letztlich nicht kontrollierbare Ostukraine.
Was hätte Russland verloren? Womöglich deutlich mehr als eine Million Mann, die Kriegsfähigkeit seiner Landstreitkräfte auf effektiv für immer, jede Aussicht auf politisches und wirtschaftliches Rapprochement mit der Westlichen Welt auf viele, viele Jahre hinaus …
Was hätte Russland auf dem Weg dahin riskiert? Einem Regime Change zu Hause, weil das Volk in der xten Mobilisierungswelle vielleicht doch mal die Schnauze voll hat, eine Palastrevolution weil irgendwem sein Boot in Italien wichtiger ist als Putins Traum von Großrussland, ein Militärputsch weil irgendein Oberst die Herren in Kreml für zu inkompetent hält, ein militärischer Kollaps weil irgendwann den USA doch noch einfällt das der Zirkus mit der Lieferung von 1.000 Abrams vorbei wäre, ein Kriegseintritt der Nato aufgrund welcher Umstände auch immer…

Ich sehe nicht wie man bei einer rationalen Betrachtung darauf kommt, dass man es jetzt das Sinnvolle wäre einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zu führen und nur um unter allen Umständen zu siegen den endgültigen wirtschaftlichen und demographischen Tod der eigenen Nation in Kauf nimmt.

Gut, man kann immer meinen, dass Putin halt persönlich am Ende der Fahnenstange steht, nichts mehr zu verlieren hat und all in bis zum Ende gehen wird. Nur: Auch und gerade aus der Denkrichtung eines älteren Herren, der gerne als Reinkarnation Peters des Großen in die Geschichte eingehen möchte, sind russische Fahnen am Dnepr keine gute Idee, wenn der Preis dafür der effektive Untergang Russlands ist. Man müsste schon völlig in russischer Blut und Boden Romantik abgesoffen sein um nicht zu bemerken, dass die Rechnung insgesamt sehr negativ für Russland aussehen würde.
Und bei aller Verachtung gegenüber Putin – ich sehe das bei ihm nach wie vor nicht. Ja, er dürfte ein ganzes Stück weit seiner eigenen Propaganda anheimgefallen sein, hat sich unzweifelhaft fürchterlich verkalkuliert und ist bereit den Russen und seinem angeblichen Brudervolk enorme Härten aufzuerlegen – aber beim ‚wir müssen Siegen auch wenn wir dabei untergehen‘ sehe ich ihn nicht. Das könnte er dann auch gleich abkürzen und Atomwaffen einsetzen.

Vielmehr würde ich meinen, dass Putin schlicht den Ansatz verfolgt den er letztlich schon vor Kriegsbeginn hatte: Der Westen wird irgendwann schon nachgeben, im Zweifelsfall halten wir länger durch als die schwachen, zerstrittenen Natoländer. Er hat jetzt halt mit der Mobilisierung (und dem versuchten und gescheiterten Energiekrieg gegen Europa btw) den Einsatz in der Hoffnung erhöht, dass uns die Opfer zu groß werden und die Lust ausgeht. Das ist eine Kalkulation die stimmen kann oder nicht, es ist aber kein Opfern der eigenen Nation als Preis des Sieges.

Die Frage dabei ist nun halt wie weit er diese Kalkulation treiben kann. Die Mobilisierung ging einmal gut. Liesen sich weitere Wellen genauso einfach verkaufen? In einem Szenario indem die erste Mobilisierungswelle vielleicht in einem sehr unrühmlichen Opfergang im Donbass verreckt ist? Wenn sich gleichzeitig die wirtschaftlichen Realitäten des Krieges mehr und mehr auf das russische Volk durchschlagen und das Wehrmaterial jenseits des T-64 doch irgendwann zur Neige geht?
Ich weigere mich an diesem Punkt Russland im Jahr 2023 mit der stalinistischen Sowjetunion 1942 gleichsetzen zu wollen. Ja die russische Propaganda mag diese Parallelen bemühen wollen und sie mag beim einfachen Volk auch verfangen. Aber Putin ist nicht Stalin und Russland wird auch weiter bestehen, wenn es die Ukraine nicht niederringt.

Putin persönlich mag das aus höchst eigennützigen Interessen anders sehen, es gibt hinter ihm genügend Akteure die Mindestens für ihre Kinder eine andere Zukunft wollen. Insofern, solange Putin innerhalb seiner Machtzirkel die Kalkulation, dass der Westen irgendwann einknicken wird, solange man den Einsatz nur erhöht als rational verkaufen kann funktioniert das Spiel. Wenn aber der Punkt gekommen ist, an dem der Einsatz nur unter Inkaufnahme höchster Risiken für das Regime und das persönliche Überleben erhöht werden und nicht ersichtlich ist, dass sich auf dem Schlachtfeld dadurch irgendetwas groß ändern wird, wird es sehr interessant und kann dann mal sehr schnell und überraschend in eine ganz andere Richtung gehen.

Übersetzt in ein praktisches Szenario – Russland Frühjahrsoffensive verbraucht sich nach Bakhmut vor Slowjansk und Kramatorsk, die Ukraine hält am Oskil und weicht vor Zaporizhzhia nur unter gewaltigen russischen Verlusten zurück. Im Sommer dann eine ukrainische Gegenoffensive und die AFU stehen im Spätherbst zwischen Melitopol und Mariupol am Asowschen Meer. Die Kertschbrücke fällt, die russischen Mobilisierten sind verbraucht, die russischen Verluste überschreiten die halbe Millionen Marke, die russische Wirtschaft besteht nur noch aus Propaganda und Kriegsproduktion, die strategischen Reserven an Verbrauchsgütern und Kriegsmaterial werden knapper, die nächsten Mobilisierungswellen treffen das eigentliche Russland zwischen St. Petersburg und Moskau… das soll dann munter so weitergehen in 2024, 25, 26 ? Hundertausende Tote im Kampf um ukrainische Städte und Dörfer die selbst in Russland niemand kennt, auf Jahre hinaus ohne Sinn und Zweck, um diesen Siegens willen? Das bleibt für mich illusorisch. Putin ist mit seinem Mobilisierungsmove schon sehr weit gegangen. Jetzt werden wir sehen ob er damit einen Stich macht. Tut er es nicht wird er den Einsatz nich einfach so nochmal verdoppeln können, sondern er wird neue Antworten liefern müssen.

Wie diese aussehen werden wird sich zeigen. Persönlich halte ich es für recht wahrscheinlich, dass nach der Kulimnation der russische Offensive (sofern die sich materialisiert und nicht in den ersten 10km grandios untergeht, was möglich aber nicht unbedingt wahrscheinlich ist) und vor Beginn einer ukrainischen Gegenoffensive ein (erstes) Verhandlungsangebot von Russland auf dem Tisch gelegt wird. Wie das genau aussehen könnte ist eine sekundäre Frage, annehmen werden es die Ukrainer zunächst eh nicht, aber es wird dafür sorgen, dass nach einer ukrainischen Offensive gegen Ende des Jahres westlicherseits gewaltig Druck aufgebaut werden wird zumindest wieder mit den Russen zu reden. Nach dem Motto - ihr habt doch jetzt eh mal ziemlich schön gesiegt (steht am Asowschen Meer), ewig soll es ja nicht weitgerhen und die Russen wollen ja verhandeln, also einigt euch bitte. Worauf dann - einfach status quo ante bellum ist immer ein heißer Tipp.
Muss alles nicht so kommen, halte ich aber für wahrscheinlicher als einen jahrelangen aktiven Krieg.


RE: Russland vs. Ukraine - Quintus Fabius - 09.02.2023

Auch meiner Ansicht nach ist das wahrscheinlichste Ergebnis, dass es noch einen größeren gegenseitigen Schlagabtausch geben wird im Versuch den aktuellen Stellungskrieg zu überwinden, und dem folgend der Konflikt einfriert, in einem dauerhaften Waffenstillstand ohne Lösung des Konfliktes selbst mit einer Beibehaltung der Frontlinie als neuer Grenze (wie in Korea). Im günstigsten Fall würden Verhandlungen zu einem tatsächlichen Friedenssschluss führen, aber da Russland seinem Narrativ nach ja gar keinen Krieg führt, kann es auch offiziell keinen Frieden schließen.

Zwei Fragestellungen verbleiben:

1. Was wenn die zu erwartende russische Offensive deutlich erfolgreicher ausfällt als angenommen ? Aus welchen Gründen auch immer, rein theoretisch möglich wäre es. Hier wird immer üblicherweise erklärt, dies sei ja gar nicht möglich, die Russen werden scheitern. Was wenn nicht ?

2. Wie verhindert man dem Friedenssschluss folgend einen Folgekrieg in ein paar Jahren ? Hier wird üblicherweise erklärt, man müsse die Ukraine nach einem Friedensschluss einfach so mit konventionellen Waffen vollmüllen, dass Russland davon abgeschreckt wird. Ich bezweifle sehr, dass das so funktionieren wird, ja sogar dass das so überhaupt stattfinden wird.


RE: Russland vs. Ukraine - lime - 09.02.2023

(09.02.2023, 10:31)Nightwatch schrieb: Ich kann mit diesem Denkansatz nicht ganz mitgehen.

Mit einem ‚Totalen Krieg über Jahre‘ würde Russland / das jetzige Regime dort immense Risiken eingehen, die meines Erachtens mindestens die Gefahren einer tatsächlichen, aber propagandistisch zu Hause verkaufbaren Niederlage bei weitem übersteigen.
Was würde Russland in diesem Szenario gewinnen? Eine niedergerungene, völlig zerstörte, weitgehend entvölkerte, effektiv wertlose und letztlich nicht kontrollierbare Ostukraine.
Was hätte Russland verloren? Womöglich deutlich mehr als eine Million Mann, die Kriegsfähigkeit seiner Landstreitkräfte auf effektiv für immer, jede Aussicht auf politisches und wirtschaftliches Rapprochement mit der Westlichen Welt auf viele, viele Jahre hinaus …

Genau hier täuscht man sich aus westlicher Sicht. Rußland wird sich in Zukunft dem Westen wirtschaftlich gar nicht mehr annähren wollen. In kultureller und gesellschaftspolitischer Hinsicht erst Recht nicht. Gewichtige politische Kräfte in Rußland werden darüber sogar mehr als froh sein und das russische Volk wird sich daran über die Zeit gewöhnen.
Und ob der Krieg die russische Armee dauerhaft schwächt müsste sich erst zeigen. Eine verstärkte Militarisierung könnte auch das Gegenteil bewirken. Auch die langfristige materielle Schwächung ist nicht gesichert, denn die Rüstungskapazitäten würden über die Jahre vermutlich massiv ausgebaut.


RE: Russland vs. Ukraine - Broensen - 09.02.2023

(09.02.2023, 11:15)Quintus Fabius schrieb: ... in einem dauerhaften Waffenstillstand ohne Lösung des Konfliktes selbst mit einer Beibehaltung der Frontlinie als neuer Grenze (wie in Korea)...

1. Was wenn die zu erwartende russische Offensive deutlich erfolgreicher ausfällt als angenommen ?
Dann verläuft die Demarkationslinie weiter nordwestlich. Solange sie aber östlich des Dnjepr liegt, ist das -so zynisch es klingt- nur ein Problem für die die dortige Bevölkerung. Eine Restukraine ohne die Gebiete östlich des Flusses wäre sicher leichter wieder aufzubauen und für einen Folgekonflikt aufzustellen als eine mit der aktuellen Frontlinie. Nur ein erneuter russischer Dnjepr-Übergang würde dahingehend einen eklatanten Unterscheid machen. Alles andere verursacht "nur" mehr Leid.

(09.02.2023, 11:15)lime schrieb: Auch die langfristige materielle Schwächung ist nicht gesichert, denn die Rüstungskapazitäten würden über die Jahre vermutlich massiv ausgebaut.
Kapazitäten ja, aber quantitativ - nicht qualitativ.